»Was machen Sie da nur, junge Dame?«, tadelte die Krankenschwester mich seufzend, als ich wieder in meinem Krankenbett lag. Ich zitterte am ganzen Leib und die Tränen flossen noch immer ungehemmt über meine Wangen; mittlerweile waren aus den Bächen ganze Flüsse geworden.
Ich ließ ihre Frage unbeantwortet. »Lassen Sie mich zu ihm! Sofort! Ich will ihn sehen!«
Sie runzelte den Stirn. »Ich verstehe nicht ganz. Wer war denn da?«
»Jetzt tun Sie doch nicht so blöd«, zischte ich wütend und wischte mir mit dem Handrücken über die Augen. Es war völlig umsonst. Schon kam die nächste Flut. »Der Junge hinter der Scheibe. Sam.«
»Bei allem Respekt, junge Dame, aber da war niemand«, erklärte die Krankenschwester, während sie mich wieder verkabelte. Ich hasste es, wie sie mit mir sprach. Sie hatte nicht das geringste Bisschen Respekt vor mir, auch wenn sie das nicht zeigen wollte. Doch ich spürte es. Allerdings konnte ich es ihr nicht verübeln. Wer hatte schon Respekt vor einer gebrochenen Sechzehnjährigen, die angeblich drei Jahre ihres Lebens auf der Straße verbracht hatte?
»Natürlich war da jemand! Ich hab ihn doch gesehen!« Meine Wut wurde immer rasender; mittlerweile musste mein Gesicht aussehen wie eine nasse, verschrumpelte Tomate. »Der eine Typ hat ihn weggezogen. Weg von der Scheibe.« Weg von mir. Doch das sprach ich nicht laut aus.
Nun war auch die Gereiztheit der Krankenschwester spürbar. »Zum letzten Mal, da war niemand. Beruhigen Sie sich; sicher waren das nur die Nebenwirkungen ihrer Betäubung.«
Zwischen zwei Schluchzern lachte ich freudlos auf. »Ich weiß, was ich gesehen habe. Und wieso sollte ich Ihnen glauben, hm? Ihnen, der Regierung!«
Mit einem weißen Tuch wischte die Schwester das Blut von meinem linken Arm und meiner Hand – meiner Meinung nach fester, als es eigentlich nötig gewesen wäre. »Wieso der Regierung? Natürlich stehen wir unter ihrem Befehl, allerdings verrichten wir hier unabhängig und selbstständig unsere Arbeit. Was hat der Junge jetzt also mit der Regierung zu tun?«
»Denken Sie eigentlich, ich bin komplett bescheuert?« Fassungslos über so viel Dreistigkeit runzelte ich die Stirn und schüttelte den Kopf. Meine Wut ging in Sarkasmus über. »Hm, keine Ahnung, was Sie mit der Regierung zu tun haben. Sie arbeiten ja nur in ihrer Zentrale.«
Die Krankenschwester lachte ungläubig. »Frau Müller, wir sind ein Krankenhaus. Ein ganz normales Krankenhaus.« Sie entfernte sich von meinem Bett und wandte sich zum Gehen. »Sie sollten sich wirklich etwas ausruhen. Falls sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Ihnen wurde eine Betäubungsspritze in den Bauch gerammt – und das ziemlich tief. Glücklicherweise wurden keine Organe beschädigt, jedoch wird es trotz unserer neu entwickelten Technologien seine Zeit brauchen, bis das Gewebe vollständig geheilt und funktionsfähig ist. Vermeiden Sie es also bitte, zu laufen, außer wenn sie auf die Toilette müssen. Und schlafen Sie ein wenig – wenigstens bis zum Abendessen. Danach werden einige Agenten vorbei kommen, um eine Befragung mit Ihnen durchzuführen.« Damit verließ sie das Zimmer und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Als ich mir über die Bedeutung ihrer Worte bewusst wurde, musste ich einmal schwer schlucken. Eine Befragung mal wieder. Damit hatte ich ja schon Erfahrung. Allerdings war diese nicht das, was man als positiv bezeichnen konnte.
Auf dem Gang hörte ich die Krankenschwester mit jemandem sprechen. Durch die geschlossene Tür verstand ich den genauen Wortlaut nicht, aber einige Satzfetzen drangen an mein Ohr. Sie enthielten unter anderem die Worte »Halluzinationen«, »Nachwirkungen der Betäubung« und »oder möglicherweise Einfluss von Drogen«.
Ich schnaubte.
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Als die Fantasie Grenzen bekam
Science Fiction2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...