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Auf dem gesamten Weg zu Richard löcherte ich Sam mit Fragen, aber auch er wusste nichts Genaues über den Anruf meiner Großmutter. Er war nur zufällig in der Nähe des Büros unterwegs gewesen, als sie angerufen und der Leiter der OMF Sam abgepasst hatte.

Das einzig Gute, das ich dieser Situation abgewinnen konnte, war, dass sich dadurch ein peinliches Gespräch mit Sam vorerst erübrigte.

»Wir warten hier auf dich«, versprach Marilyn und schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln, als wir endlich Richard Büros erreichten. Sie schien meine große Sorge bemerkt zu haben. Obwohl wir uns »erst« drei Jahre kannten, wusste Marilyn nicht selten mehr über mich als ich selbst.

Ich nickte und versuchte mich an einem Lächeln, wobei ich mich jedoch fühlte wie bei früheren Klassenfotos, bei denen ich kein einziges Mal mehr als ein gekünsteltes Heben der Mundwinkel zustande gebracht hatte. Aber in der Schule hatte ich eben auch nie einen Grund zum Lächeln gehabt.

Sophie öffnete mir die Tür und gab mir wortlos zu verstehen, dass ich eintreten konnte. Richards Büro war altmodisch eingerichtet; der gesamte Raum schien dem Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu entspringen. Die meisten Möbel waren aus hellem Holz, so auch der wuchtige Schreibtisch, hinter dem Richard nun mit dem Telefon in der Hand stand. An den Wänden hingen Fototapeten aus längst vergangenen Zeiten und in den Ecken des Zimmers standen einige Zimmerpflanzen und Kakteen.

Als er mich bemerkte, schenkte Richard mir ein aufmunterndes Lächeln und reichte mir das Telefon. Es war schon etwas in die Jahre gekommen, wenngleich es lange nicht an das stattliche Alter des Telefons meiner Großmutter heranreichte. Zwar hatte es einen Bildschirm mit Touchscreen, nicht aber eine durchsichtige Scheibe wie bei den gängigen Modellen der Holo-Phones.

»Hallo?«, meldete ich mich unsicher, obwohl ich wusste, dass Großmutter auf der anderen Seite war.

»Luna, was bin ich froh!«, stieß Großmutter erleichtert aus. »Geht es dir gut?«

Was war das denn für eine Frage? Natürlich ging es mir nicht gut. Ich machte mir schreckliche Sorgen. »Ja, mir geht′s gut«, behauptete ich jedoch. »Aber was ist mit dir?«

Meiner Großmutter entfuhr ein schwerer Seufzer, gefolgt von einem Schniefen. »Ich -« Sie brach ab und nun hörte ich ein heiseres Schluchzen durch das Telefon.

»Hey, was ist denn?«, fragte ich sanft und spürte, wie auch mir Tränen in die Augen stiegen. Das Weinen anderer Menschen steckte mich fast noch mehr an als ein herzhaftes Gähnen. »Großmutter? Ist etwas Schlimmes geschehen?«

Sie fasste sich wieder und fuhr mit brüchiger Stimme fort. »Sie kamen heute Nacht.«

»Sie? Wer sind sie? Wer kam heute Nacht?«, fragte ich alarmiert.

»Die Regierung.« Ihre Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern.

»Was haben sie getan?«, stieß ich atemlos hervor, obgleich es nicht viel Fantasie bedurfte, sich das auszudenken. Doch ich wollte es nicht glauben. Nicht jetzt, wo noch niemand meine Befürchtungen laut ausgesprochen hatte.

»Sie sind gestern gekommen, da sie den Verdacht hatten, dass ich noch meine Fantasie besitze«, brachte meine Großmutter mit zitternder Stimme hervor. Was auch immer sie erlebt hatte, es musste sie so mitgenommen haben, dass sie noch immer unter Schock stand. »Während sie sich das Haus angesehen haben, bin ich geflüchtet, doch sie haben mich eingeholt und mir -« Wieder unterbrach sie sich und wurde erneut von einem Schluchzen geschüttelt.

»Sie haben was?« Meine schlimmsten Alpträume schienen tatsächlich wahr geworden zu sein. »Haben sie - « Ich brachte das Ende des Satzes einfach nicht über die Lippen und so blieben die Worte unausgesprochen zwischen uns stehen.

Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt