Am späten Abend fand ich mich vor dem Sitz der Regierung wieder. Das große, altmodische Gebäude wirkte in der modern gehaltenen Innenstadt seltsam fehl am Platz. Was für eine Ironie, dass gerade die Menschen, welche die Fantasie aus der Welt verbannen wollten, in einem altehrwürdigen Gemäuer ihre Zentrale hatten, Die Fassaden trotzten nur so vor Stuck und Statuen. An dem Balkon über dem hell erleuchteten Haupteingang war ein riesiges Leuchtplakat angebracht worden, auf dem das Logo des International Watching Eye angezeigt wurde: Ein Sechseck in der Form eines Auges. In der Mitte der Figur prangte ein Loch, das den Blick auf den in schwarz gehaltenen Hintergrund freigab. Davor stand in großen Lettern »IWE« geschrieben – jeder Buchstabe in einem anderen Blauton.
Niemand war zu dieser Uhrzeit noch auf den Straßen unterwegs; der Beginn der Ausgangssperre war schon vor zwei Stunden gewesen. Ich hatte beschlossen, meinen Einbruch auf die Nacht zu verlegen, da so das Risiko geringer war, entdeckt zu werden. Den Tag hatte ich in einem Park verbracht, in dem viele Obdachlose lebten, um nicht aufzufallen. Ich hatte es mir sogar erlaubt, ein kleines Nickerchen zu machen, um in der Nacht, wenn es wirklich drauf ankam, ausgeschlafen und konzentriert zu sein.
Ich lauerte versteckt hinter einem Auto. Von dort hatte ich einen guten Blick auf die Wachmänner, die vor dem Eingang des IWE patrouillierten. Gerade heute hatten sie die Sicherheitsvorkehrungen zweifelsohne verstärkt. In höchster Alarmbereitschaft warf ich alle paar Sekunden einen Blick über meine Schulter. Als ich mich versichert hatte, dass die Straße tatsächlich wie leergefegt war, öffnete ich meinen Rucksack. Der Tarnanzug lag ganz zuoberst, damit ich nicht lange suchen musste. Ich tastete nach der Hose, in die man zuerst schlüpfen musste, bevor man auch das Oberteil anziehen und den Reißverschluss zwischen den beiden Kleidungsstücken schließen konnte. Als nächstes war die Mütze an der Reihe. Sie musste eher einem Sack ähneln – so genau konnte ich das jedoch nicht sagen, sie war schließlich unsichtbar – und bedeckte meinen gesamten Kopf. Um noch Luft zu bekommen, war die lange Mütze nirgends mit dem Anzug verbunden, sodass der Sauerstoff Mund und Nase noch erreichen konnte. Der Stoff roch nach Kunststoff und irgendetwas chemischem. Ich bezweifelte, dass es gesund war, ihn lange Zeit zu tragen.
Meinen Rucksack versteckte ich unter einem Auto; zu dieser Tageszeit konnte ohnehin niemand mehr das Haus verlassen, geschweige denn einen Wagen benutzen, ohne mindestens ein Dutzend Gesetze zu brechen.
Ich konnte nicht umhin, einen letzten Blick auf Sams Gemälde zu werfen. »Ich komme, Sam«, flüsterte ich in den lauen Wind und schluckte die Traurigkeit hinunter. Ich musste mich voll und ganz auf mein Vorhaben konzentrieren, und obgleich ich Emotionslosigkeit verachtete, konnte ich Gefühle momentan wirklich nicht gebrauchen.
Trotz meiner Tarnung würde es jedoch kein leichtes Unterfangen werden, in das Gebäude zu gelangen. An den Wachmännern vorbei zu spazieren und einfach die große Schwingtür zu öffnen, war definitiv zu auffällig. Also beschloss ich, mir einen Überblick über die Hintereingänge zu verschaffen. Ich erhob mich und begann, auf leisen Sohlen das Gebäude zu umrunden. Glücklicherweise dämpfte der Stoff des Tarnanzugs meine Schritte.
Nach kurzer Zeit gelangte ich an den Liefereingang. Eine breite, schwere Eisentür wurde von den Scheinwerfern an der Fassade angestrahlt. Es war der einzige Ort, der nicht lediglich in einem schummrigen Licht lag. Ich stellte mir vor, wie hier Tag für Tag neue Technologien und Spritzen voller Fantasie in schwarzen, mit Panzerglas ausgestatteten Lastwagen angekarrt wurden.
Es war so still, dass die Luft um mich herum knisterte und es in meinen Ohren rauschte. Nicht einmal die Schritte der Wachmänner drangen mehr zu mir herüber.
Ein wenn auch leises Brummen ließ mich erschrocken zusammenfahren. Auf einmal schien jedes Geräusch eine Bedrohung anzukündigen. Mit laut klopfendem Herzen drehte ich mich um meine eigene Achse, doch in dem dämmerigen Licht, das die gelblich leuchtenden Lampen rund um das Gebäude aussandten, konnte ich keine einzige Bewegung ausmachen. Das Brummen schwoll weiterhin an und schien immer näher zu kommen. Für einen Moment vergaß ich, dass ich unsichtbar war und tauchte im Schatten einer Mülltonne unter. Als ich mir meiner Tarnung wieder bewusst wurde, trat ich dennoch nicht wieder aus meinem Versteck hervor. Trotz meiner Unsichtbarkeit war äußerste Vorsicht geboten. Nur ein einziger Schritt, ein einziges angestrengtes Keuchen konnte mich verraten. Schließlich waren Anzüge wie meiner längst kein Geheimnis mehr in dieser Welt – erst recht nicht vor der Regierung. Sie kannten die Kniffe ihrer Gegner und Einbrecher mit Sicherheit längst gut genug. Dennoch hoffte ich auf ihre Naivität, zu denken, dass noch niemand einen dieser Anzüge besaß, da sie offiziell noch nicht auf dem Markt waren.
DU LIEST GERADE
Als die Fantasie Grenzen bekam
Ciencia Ficción2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...