»Kennen Sie jemanden, bei dem Sie einige Tage unterkommen können?«, erkundigte sich die Krankenschwester, während sie das Bestätigungsformular für meine Entlassung auf ihrem Tablet ausfüllte. Ihr Stift huschte blitzschnell über das Glas und hinterließ eine krakelige Unterschrift auf dem Dokument. Sie sah auf und schaute mich erwartungsvoll an. »Freunde oder Verwandte?«
Erst erwog ich, zu lügen und zu bejahen, doch wenn jemand meine Lüge enttarnen würde, wäre das Vertrauen, welches das Pflegepersonal in den letzten beiden Tagen hier auf Station zu mir aufgebaut hatte, dahin. Und wer wusste schon, ob mir das nicht irgendwann zum Verhängnis werden sollte? Lieber sagte ich vorerst die Wahrheit. Zum Einen, um den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, ich könnte meine Fantasie noch besitzen; zum Anderen, um im Notfall, wenn ich mich doch einmal zu einer Lüge hinreißen lassen müsste, durch meine vorherige Ehrlichkeit die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass sie mir wirklich glaubten.
»Nein«, sagte ich deshalb widerwillig.
»Gut.« Die Krankenschwester schaltete das Tablet aus und überprüfte flüchtig, ob ihr Dutt noch saß. »Dann werden wir Sie vorerst in einer Sozialwohnung unterbringen, bis wir eine geeignete Schule für Sie gefunden haben, in der Sie Ihren Abschluss machen können.«
Brav nickte ich, obwohl ich wusste, dass es niemals dazu kommen würde.
»Mein Kollege wird sich gleich darum kümmern. Warten Sie hier im Eingangsbereich.« Ohne ein weiteres Wort verschwand sie im Schwesternzimmer.
Mein Blick huschte sofort zu den großen Eingangstüren aus Glas, die nach draußen führten. In die Freiheit, die der einzige Platz war, der groß genug für Träume war. Meine Augen huschten nervös über die unbequem aussehenden Plastikstühle an den Wänden, auf denen eine ältere Patientin Platz genommen hatte. Immer wieder hustete sie geräuschvoll in ein Taschentuch, das sie sich fast die ganze Zeit über an den Mund presste. Zwar schien sie beschäftigt mit ihrer Krankheit, allerdings war mir von einer Krankenschwester, die ein Faible dafür hatte, über andere Patienten zu lästern, zu Ohren gekommen, dass diese Frau andere Patienten gerne in die Schranken wies oder beim Personal verpetzte. Das brauchte ich nun wirklich nicht. Mir würde sich mit Sicherheit noch einmal eine Chance bieten, so hoffte ich.
Seufzend ließ ich mich auf einen Stuhl einige Plätze von der alten Dame entfernt sinken und lehnte den Kopf an die Wand hinter mir. Mein Rucksack stand neben mir auf den Stuhl. Glücklicherweise hatte die Krankenschwester die Motivation verloren, ihn zu durchsuchen, als sie relativ weit oben eine gebrauchte Unterhose entdeckt hatte. Dennoch hatte sie stirnrunzelnd einen Bleistift in Beschlag genommen.
Immer, wenn die Patientin ein krächzendes Husten von sich gab, schrak ich zusammen – so in Gedanken versunken war ich. Jedes Mal bemerkte sie es, jedes Mal sah sie her, jedes Mal runzelte sie gekränkt und wütend die Stirn. Jedes Mal wandte ich genervt den Blick ab.
Es tat so weh. Nicht mein Arm, aus dem ich mir die Kabel gerissen hatte, auch nicht die Wunde in meinem Bauch. Aber der Schmerz in meinem Inneren, in meiner Brust, direkt in meinem Herzen, der mir fast den Atem raubte, brachte mich beinahe um den Verstand.
Irgendwann kam ein Mann mittleren Alters angeschlurft. Er nahm an der Wand gegenüber auf einem der Stühle Platz. Ein dicker, weißer Gips zierte seinen Arm. Als er meinen Blick einfing, lächelte er und rollte über die alte Frau die Augen. Ich erwiderte sein Lächeln halbherzig und nickte verständnisvoll. Doch nach einer Weile nahm auch seine gute Laune sichtlich ab. Bei jedem Husten schnaubte er empört, was die Patientin mit einem extra lauten Röcheln quittierte.
Seufzend warf ich einen Blick auf meine Uhr. Schon über eine viertel Stunde wartete ich hier. Und je länger ich diesem nervtötenden Gehuste und meinen eigenen Gedanken, die unaufhörlich um mich kreisten, ausgesetzt war, desto mehr wurde mir die Stärke meines Schmerzes bewusst. Die Trauer fraß mein Herz beinahe auf; mittlerweile konnte es nur noch aus dunkelroten Fetzten bestehen, die an den Rändern noch dunkler waren, da sie dort von dem pechschwarzen Messer der Trauer und der Verzweiflung durchschnitten worden waren.
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Als die Fantasie Grenzen bekam
Science Fiction2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...