Ungeachtet der Ausgangssperre rannte ich den menschenleeren Gang entlang. Meine Wut über Robert, der mir mit großer Sicherheit die Rolle des Verräters angehängt hatte, verlieh mir ungeahnte Kräfte und beinahe schien ich über das helle Holz unter mir zu fliegen. Hinter mir erklangen leichte, aber schnell Schritte, die keinen Zweifel daran ließen, dass Marilyn mir folgte.
»Luna!«, ertönte sogleich ihre Stimme hinter mir. »Bleib stehen! Was ist denn los?«
Ich gab keine Antwort und anstatt stehenzubleiben, beschleunigte ich meine Schritte, wobei ich mich wunderte, dass dies bei dem Tempo, das ich bereits vorgegeben hatte, überhaupt noch möglich war.
Ich musste das alleine mit Robert klären. Marilyn hatte mir bereits geholfen, den richtigen Täter zu enthüllen, ich wollte sie nicht auch noch in diese Sache hineinziehen. Fieberhaft versuchte ich mir einen Plan zurechtzulegen, mit dessen Hilfe ich Robert überführen und stellen konnte. Was ich brauchte, waren handfeste Beweise. Für meine Unschuld, aber vor allem für seine Schuld. Jedoch wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich keine hatte. Ich hatte keine Beweise gegen ihn in der Hand, wenn man mal von Roberts Verhalten mir gegenüber absah und vergaß, dass er zuvor in Richtung meines Zimmers gegangen war – um meine Holo-Watch zu manipulieren, wie ich glaubte. Aber irgendeinen Weg musste es doch geben, ihn zu überführen, oder nicht? Mein Bauchgefühl konnte ich Richard schließlich schlecht als Beweis vorlegen.
Atemlos erreichte ich Roberts Büro. Ich zögerte einen Moment, als ich hinter mir noch immer Marilyns Stimme vernahm. Doch sie schien nicht mehr länger alleine zu sein; eine zweite, männliche Stimme war hinzugekommen, die mich an einen der Wachmänner erinnerte. Jedoch konnte ich nicht so recht zuordnen, um wen es sich dabei handelte.
»Was machst du hier draußen? Hast du nichts von der Ausgangssperre gehört?«
Schon wollte ich auf dem Absatz kehrt machen und weglaufen, solange ich noch konnte, als ich bemerkte, dass nicht ich gemeint war.
»Wie heißt du noch gleich? Marie? Mary?«
»Marilyn«, war die Antwort und ich stieß erleichtert die Luft aus. Die Erleichterung darüber, dass es Marilyn anstelle von mir erwischt hatte, war egoistisch, aber ich wusste, dass Marilyn viel weniger Ärger zu erwarten hatte als ich. Zudem musste ich dieses Vorhaben um jeden Preis durchziehen. Es war die einzige Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen. Dabei verdrängte ich den Gedanken erfolgreich, dass ich noch immer keinen Schimmer hatte, wie die Umsetzung meines Vorhabens konkret aussehen sollte.
»Was machst du hier draußen?«, hörte ich die misstrauische Stimme des Wachmannes. Ich machte mir Sorgen um Marilyn, weshalb ich zögerte, Roberts Büro zu betreten, und mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort wartete.
»Ääääh, ich wollte ... zu ähm ... meinem Freund«, sagte sie schnell. »Wir äh ... ja...«
Ich konnte vor meinem inneren Augen sehen, wie der Wachmann misstrauisch die Augenbrauen hob. »Du weißt schon, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt zum Knutschen ist, oder?«
»Ähm ja, sorry. Ich wollte ihn einfach sehen.« Marilyns Stimme klang kleinlaut, beinahe als sei ihr das Geständnis von eben peinlich und ich war verblüfft von ihrer Schauspielkunst, die sie auf einmal an den Tag legte. Normalerweise machte sie sich nicht viel aus Lügen und war auch nicht gerade gut darin.
»Das tut mir natürlich leid für dich, jedoch gehört es zu meiner Pflicht, dich wieder zurück in dein Zimmer zu bringen.« Ihre Schritte entfernten sich von mir, bis kaum mehr etwas zu hören war.
Gut so. Denn immerhin lief Marilyn so nicht Gefahr, mit all der Scheiße, die ich gerade mit mir herum tragen musste, in Verbindung gebracht zu werden.
»Wer ist denn dein Freund?«, hörte ich den Wachmann noch neugierig fragen.
»Galvin. Galvin ist mein Freund«, antwortete Marilyn wie aus der Pistole geschossen und trotz dem Ernst der Lage konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. In ihrer Stimme schwang Sehnsucht mir; vermutlich wünschte sie sich sehnlichst, ihre Worte würden der Wirklichkeit entsprechen.
Erst als die Schritte und Stimmen gänzlich verklungen waren, wagte ich, die Tür zum Büro zu öffnen. Mein Mut war auf einmal verflogen, mir behagte nicht dabei, mitten in der Nacht in eine fremde Wohnung einzubrechen, in der mit großer Sicherheit ein Verräter hauste, der mir mehr als nur feindlich gesinnt war.
Als ich über die Türschwelle trat, empfing mich nichts als Dunkelheit. Aus irgendeinem Grund hatte ich damit gerechnet, Robert oder zumindest Sophie hinter einem der Schreibtische vorzufinden, doch vor mir erstreckte sich eine gähnende Leere, wenn man mal von der spärlichen Möblierung absah. Diese konnte ich nur erkennen, da das Licht des Flurs ein Stück in das Büro hineinfiel und die Silhouetten einiger Möbelstücke sichtbar machte.
»An«, flüsterte ich gerade so laut, dass der Lautsprecher an der Decke mich noch hören und somit das Licht entfachen konnte. Erst als ich sah, dass sich tatsächlich keine Menschenseele im Raum befand und ich erleichtert ausatmete, fiel mir auf, dass ich ohne es zu merken die Luft angehalten hatte.
Schnellen Schrittes durchquerte ich das Arbeitszimmer, stets darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen, welche einen der umherstreifenden Wachmänner auf den Plan rufen könnte. Mit zitternden Händen griff ich nach der Klinke zu Roberts und Sophies Wohnung und flüsterte »Aus«, ehe ich den Türgriff herunterdrückte und die elektrische Tür aufschwang. Erleichterung darüber, dass die Tür nicht verschlossen gewesen und mich somit nicht am Eintreten gehindert hatte, überkam mich, doch nur einen Wimpernschlag darauf geriet ich ins Zweifeln.
Es ist zu leicht, flüsterte eine innere Stimme. Es ist viel zu leicht.
Ich schluckte und versuchte, mein Herz zu ignorieren, welches vor Angst und Aufregung wie wild gegen meinen Brustkorb schlug und diesen zu zersprengen drohte. Adrenalin durchflutete meinen Körper und ließ meine Hände zittern. Entschlossen ballte ich diese zu Fäusten, ehe ich über die Türschwelle trat. Die Tür ließ ich bewusst offen stehen. Wer wusste, ob ich nicht schon bald flüchten musste?
So leise wie möglich schlich ich über den Flur, ab und zu schmatzten meine nackten Füße auf dem kühlen Boden und ich bereute es, keine Socken angezogen zu haben. Auf einmal überkam mich der Gedanke, dass ich nicht besonders angsteinflößend aussah – bloße, kalte Füße, eine weiße Leggins und über meinem rosanen Schlafshirt ein weinroter Kapuzenpulli.
Doch ehe ich mir überlegen konnte, ob ich wohl noch einmal zurück gehen sollte, hörte ich eine Stimme im Raum neben mir. Die Tür war nur angelehnt und nun bemerkte ich einen schwachen Lichtstreifen, der aus dem Zimmer auf den Boden fiel.
Erschrocken hielt ich inne und wagte nicht zu atmen. Doch die Person, von der die Stimme kam, schien nicht mit mir zu sprechen. Sie war tief und eindringlich, aber zu leise, um sie zu verstehen. Auf leisen Sohlen schlich ich weiter auf die Tür zu und spähte durch den Türspalt hindurch. Doch außer einem dunklen, gelben Licht konnte ich nichts erkennen – dafür aber deutlich besser hören, was drinnen gesprochen wurde.
»Dann hättest du dich eben besser bemühen müssen!«, hörte ich nun deutlich Tims Stimme heraus. Tim? Was machte er denn hier? Verdammt, wusste er denn nicht, wie gefährlich Robert war?
Dieser antwortete nun ebenso leise. »Ich hab es doch versucht! Und ich bin nicht gescheitert. Beinahe die gesamte OMF hat keinen Zweifel an Lunas Unschuld! Niemand wird auf die Idee kommen, dass sie es nicht war.«
Es brauchte eine Weile, bis das eben gesagte in meinem Kopf ankam und die Worte in mein Bewusstsein sickerten wie klebriges, zerstörerisches, schwarzes Pech. Dann stockte mir der Atem; das Pech hatte meine Lunge, mein Herz, meine Luftröhre verstopft. Tim war derjenige, der mir all das angetan hatte. Mit Roberts Hilfe hatte er die Rolle des Verbrechers geschickt auf mich geschoben und sich einen schönen Tag gemacht, während ich von willkürlichen Anschuldigungen und Lästereien geplagt worden war.
»Unglaublich. Nicht, Luna?«, erklang nun Tims Stimme lauter als zuvor und ich machte erschrocken einen Satz nach hinten, weg von der Tür. »Wenn du schon da bist, magst du dich nicht zu unserer kleinen Runde gesellen? Im Flur ist es recht ungemütlich, findest du nicht?«

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Als die Fantasie Grenzen bekam
Science Fiction2184: Luna lebt in einer Welt, in der es keine Fantasie mehr gibt. Von der Regierung wird sie den Menschen bereits bei ihrer Geburt entzogen. Allein den Umständen ihrer Geburt hat Luna zu verdanken, dass sie eine der Einzigen ist, die ihre Fantasie...