v i e r z i g

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Ich hörte sie schon von Weitem. Sie kamen von den Schleusen, die sich draußen auf dem Land befanden, und hielten auf die Stadt zu. Auf das Industriegebiet. Auf mich.

In den letzten Tagen hatten sich meine Sinne merklich verbessert. Vermutlich hatten sie sich einfach daran gewöhnt, dass ich praktisch ständig Gefahr ausgesetzt war, und passten sich dem an. Ich war ihnen dankbar, denn andernfalls hätte ich Tim und seine Männer vermutlich erst bemerkt, wenn sie längst an meinem Schlafplatz angekommen und ich ihnen hilflos ausgeliefert gewesen wäre.

Als ich die Augen aufschlug und mich umsah, erkannte ich einige Schemen in der Dämmerung auf meinen Schlafplatz zulaufen. Ihr Grau hob sich kaum von dem des dichten Nebels und des von Wolken verhangenen Himmels ab, der zu dieser Zeit noch trister und farbloser wirkte, als am Tag. Dennoch erkannte ich ihre Umrisse; ihre Bewegungen und die blassen Gesichter verrieten sie. Und ihre Stimmen. Noch bevor ich überhaupt richtig wach gewesen war, hatte ich gewusst, dass Tim dabei war. Ich würde die Stimme überall wiedererkennen.

Ich ließ mir keine Zeit, lange zu überlegen, sondern schnappte mir stattdessen meinen Rucksack, in den ich bereits gestern Nacht sicherheitshalber mein gesamtes Hab und Gut gepackt hatte, um im Notfall schnell flüchten zu können. Wacklig kam ich auf die Beine. Der Schlaf saß mir noch immer in den Gliedern und mein Kreislauf rebellierte, als ich langsam einen Schritt vor den Anderen setzten wollte. Für einen kurzen Moment wurde mir schwarz vor Augen; dann lichtete sich der Schleier jedoch wieder langsam und nur noch vereinzelte Punkte tanzten vor meinem Sichtfeld auf und ab.

Obwohl alles in mir danach schrie, schleunigst die Beine in die Hand zu nehmen, zwang ich mich, einen Augenblick tief durchzuatmen, um meinen Kreislauf nicht zu überfordern. Auch der Hunger meldete sich nun zu Wort und trug nicht gerade zur Besserung meines körperlichen Zustands bei.

Schließlich lief ich los. Jedoch konnte ich es nicht lassen, einen letzten Blick über meine Schulter zu werfen, um die Entfernung zu meinen Feinden abzuschätzen. Ich bereute es zutiefst. Sie waren längst so nah, dass ich einzelne Gesichter ausmachen konnte. Als ich einen Blick auf Tim erhaschte, bestätigte sich mein Verdacht. Er wusste, dass ich hier war – woher auch immer – und war fest entschlossen Rache zu üben und mir meine Fantasie zu stehlen.

Immer schneller wurde ich, obwohl ich wusste, dass ich mir das in meinem Zustand eigentlich nicht erlauben durfte. Doch das Adrenalin, welches durch meine Adern rauschte, bis das Blut in meinen Ohren pochte, verlieh mir ungeahnte Kräfte. Beinahe schien ich über den Asphalt zu fliegen, hin zu den Industriegebäuden, Schornsteinen, Abfallcontainern und Fabrikhallen. Ich musste in die Stadt, wo ich mühelos und unauffällig in den Menschenmassen untertauchen konnte.

Doch nicht nur ich wurde schneller; auch meine Verfolger gewannen an Tempo. Ihre Schritte, die zuvor nur leichtes Trippeln in meinen Ohren gewesen waren, klangen nun wie Kanonenschüsse. Trotzdem wagte ich keinen erneuten Blick hinter mich. Das würde nur meine Panik steigern, die mich schon jetzt regelmäßig ins Stolpern brachte und mich straucheln ließ.

Bald erreichte ich die ersten Fabrikhallen. Es war noch ganzes Stück bis in die Stadt, aber mit etwas Glück konnte ich meine Verfolger vorerst abhängen, indem ich in dem Labyrinth aus Straßen in den engsten Wegen und meist verwinkelten Abzweigungen verschwand.

Dennoch spürte ich, dass meine Verfolger mir dicht auf den Fersen waren. Ich hörte ihre Schritte und Stimmen und erkannte, dass sie nicht mehr länger liefen, sondern inzwischen rannten.

Schritt um Schritt kamen sie immer näher.

Peng. Peng. Peng. Peng.

Peng, peng.

Pengpeng.

Wenn sie mich zuvor tatsächlich noch nicht entdeckt hatten, dann spätestens jetzt. Immer wieder schlug ich Haken und versuchte, so viele Abzweigungen wie möglich zu nehmen, doch die Schritte blieben. Und dann, nach einer Weile fing mein Körper an, sich zu wehren. Es begann mit dem Seitenstechen. Bei jedem Schritt und jedem Atemzug spürte ich das unangenehme Piksen unter meinen Rippen, das mich ungeduldig zum Stehenbleiben drängte. Doch ich konnte nicht. Ich musste weiter. Auch, als sich mein Kreislauf bemerkbar machte, rannte ich ungeachtet der hellen Pünktchen, die vor meinen Augen tanzten, weiter. Auch die Übelkeit nahm ich nur nebenbei wahr. Zu groß waren Angst und Ehrgeiz. Nun pulsierte selbst meine Halsschlagader. Egal. Ich musste weiter.

Als die Fantasie Grenzen bekamWo Geschichten leben. Entdecke jetzt