Kapitel 2

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Kaum hatte Naira die Plattform, auf der das Abendessen angerichtet worden war, betreten, als sich alle Blicke auf sie richteten.
Sie trug ein schlichtes, königsblaues Kleid aus Samt, das bis zum Boden fiel, mit subtilen Verzierungen am hohen Ausschnitt und am Saum der Trompetenärmel und silbernen Bändern über den Ellenbogen. Dazu einen Reif aus ineinander verschränkten Silberdrähten.
Das Halbblut lächelte schüchtern und schaute alle Anwesende kurz an.
In den Augen der Zwerge entdeckte es eine Mischung aus Bewunderung und Abneigung.
Gandalf lächelte es freundlich an, genau wie Elrond und alle anderen Elben im Raum.
Nairas Blick blieb an Thorin hängen.
Dieser tat sein Bestes, sich die Verwunderung über ihren Anblick nicht anmerken zu lassen. Er versagte kläglich.
Elrond winkte sie zu sich, Gandalf und Thorin herüber.
Naira setzte sich und Elrond eröffnete das Essen.
"Naira, darf ich dir Thorin Eichenschild vorstellen", sprach Gandalf.
Die Angesprochene lächelte den Zwerg freundlich an.
"Thorin, dies ist Naira", stellte der Zauberer die junge Frau vor.
"Es ist mir eine Ehre Euch zu treffen... Thorin", meinte diese mit einem freundlichen Lächeln.
"Die Ehre ist ganz meinerseits... Naira", antwortete Thorin und küsste ihren Handrücken.
Beide ließen sich nicht anmerken, dass sie einander bereits kannten. Dennoch merkte man, wenn man sie gut genug kannte, dass es sie große Überwindung kostete, keine Gefühle zu zeigen, während sie den Namen des anderen aussprachen.

Von ihren Plätzen aus beobachteten Balin und Dwalin die Interaktion zwischen dem Zwergen und dem Halbblut. Auch sie hatten das Mädchen erkannt, das früher fast das ganze Jahr über im Erebor gelebt hatte. Und sie wussten, wie die Freundschaft zwischen ihnen ausgegangen war...

Naira ließ sich nicht anmerken, dass sie sich in der Gegenwart ihres ehemaligen besten Freundes befand.
Sie war fröhlich wie immer, auch wenn die Fröhlichkeit zumindest zur Hälfte unecht war.
"Seid Ihr nicht ein bisschen klein, um eine Elbenfrau zu sein?", fragte Thorin mit seiner üblichen kalten Maske.
Naira nahm diese Frage, die eigentlich als Beleidigung gedacht gewesen war, gelassen.
"Mein Vater war ein Zwerg aus dem Erebor", erklärte sie. "Er war gut mit Eurem Großvater befreundet. Vielleicht kanntet Ihr ihn. Sein Name war Aurotîm."
Thorin schüttelte den Kopf. Gekannt hatte er Nairas Vater tatsächlich nicht. Doch er ärgerte sich darüber, dass seine Beleidigung ins Leere gelaufen war.
Während Naira nun die anderen Zwerge beobachtete, unterhielten Thorin und Gandalf sich mit Elrond. Für das Halbblut eher uninteressant, bis sich das Gespräch um Schwerter drehte.
"Dies ist Orcrist, der Orkspalter", meinte der Elbenfürst, während er das Schwert, das Thorin getragen hatte, betrachtete. "Eine berühmte Klinge, geschmiedet von den Hochelben des Westens, meiner Sippe."
Mit den Worten "Möge es Euch gute Dienste erweisen" gab er es dem Zwerg zurück.
"Und dies ist Glamdring, der Feindhammer, Schwert des Königs von Gondolin", sagte er über das Schwert, das Gandalf ihm zeigte.
"Diese Schwerter wurden für die Orkkriege im Ersten Zeitalter gefertigt, nicht wahr?", fragte Naira neugierig.
Sie liebte Geschichte und alles, was mit Waffen zu tun hatte. Und Waffen mit Geschichte waren gleich doppelt interessant.
Elrond nickte.
"Scheint, als hättest du dich doch deinen Studien gewidmet. Obwohl ich beizeiten meine Zweifel daran hatte", meinte er ein wenig scherzhaft.
"Studiert habe ich alle Schriften", behauptete Naira frech. "Behalten habe ich jedoch nur den interessanten Teil."
Gandalf versuchte, sein Lachen als Husten zu tarnen und Thorin bemühte sich krampfhaft, seine Belustigung nicht zu zeigen.
Sie hat sich wirklich kein Stück verändert, dachte er. 
Doch dann dachte er an den Tag zurück, an dem Naira ihn verlassen hatte und er korrigierte sich schnell: Ihre Frechheit und ihren Humor hat sie nicht verloren, nur die Treue zu ihren Freunden...
Die Elbenfrau hingegen verschwendete keinen Gedanken an die Vergangenheit, sie grinste weiterhin.
"Wie seid Ihr in ihren Besitz gekommen?", lenkte Elrond das Gespräch wieder auf die Schwerter.
"Wir fanden sie in einem Troll-Hort an der Großen Oststraße kurz bevor wir von Orks angegriffen wurden", antwortete Gandalf.
"Und wir euch den Allerwertesten retten mussten", fügte Naira hinzu bevor sie fragte: "Was habt ihr überhaupt auf der Großen Oststraße gesucht?"
"Entschuldigt mich", meinte Thorin und stand auf.
Elrond und Gandalf schauten Naira auffordernd an.
Doch bevor sie etwas sagen konnten, begann einer der Zwerge zu singen, während die anderen im Takt mit den Füßen stampften. 
Naira konnte nicht widerstehen, sprang auf und tanzte. Die entsetzten Blicke der Elben ignorierend, hopste und sprang und drehte sie sich unter den Anfeuerungsrufen der Zwerge zu der Melodie.
Nachdem das Lied beendet war, bat sie um Ruhe, um ebenfalls ein Lied zum Besten geben zu können.
Es war ruhiger als das der Zwerge, doch es erinnerte sie an ihre Heimat.
"A king he was on carven throne, in many-pillared halls of stone with golden roof and silver floor and runes of power upon the door. The light of sun and star and moon, in shining lamps of crystal hewn, undimmed by cloud or shade of night there shone forever fair and bright."
Sie schloss ihre Augen und ließ die Erinnerungen an vergangene Zeiten im Erebor über sich kommen.
Die Zwerge hörten ihr andächtig zu. Vor allem Kili und Fili, die Neffen Thorins, waren wie gefangen genommen von den Beschreibungen in Nairas Lied.
"The world is grey, the mountains old. The forge's fire is ashen-cold. No harp is wrung, no hammer falls. The darkness dwells in Durin's halls. The shadow lies upon his tomb in Moria, in Khazad-dûm. But still the sunken stars appear in dark and windless mirrormere."
Sogar Thorin, von seinem Platz in den Gärten, konnte Nairas Gesang hören und lauschte ihm mit angehaltenem Atem. Er erinnerte sich an eine Zeit, als das Halbblut, wenn es im Erebor geweilt hatte, jeden Abend für ihn gesungen hatte. Er vermisste diese Zeiten und Nairas Gesang, alles an ihr eigentlich. Doch er war zu stolz und zu stur, um es einzugestehen.
"There lies his crown in water deep, till Durin wakes again from sleep..."
Naira öffnete ihre Augen und beendete ihr Lied.
Als sie sich wieder setzte, schauten Gandalf und Elrond sie noch immer auffordernd an, obwohl in Elronds Blick nun auch ein wenig Vorwurf lag.
"Kann ich Euch helfen?", fragte Naira misstrauisch.
"Naira, früher oder später musst du mit ihm sprechen", meinte Gandalf ernst, bevor der Elbenfürst den Mund öffnen konnte.
"Wenn ich die Wahl habe, dann nehme ich später", grummelte das Halbblut.
Dann spürte es die Blicke von Balin und Dwalin.
"Bei den Valar, meinetwegen! Ich geh ja schon!", jammerte Naira, stand auf und folgte dem Zwergenfürsten.
Als sie an Balin vorbeikam, warf sie ihm einen halb wütenden, halb freundlichen Blick zu. Doch der alte Zwerg lächelte sie nur ermutigend an.

Naira fand ihren ehemaligen besten Freund in den Gärten, unter einem Baum stehend.
"Dass ich dich mal in einem Garten sehe, in den ich dich nicht hinein gezwungen habe...", kommentierte sie.
"Ich sehe, du hast die Einstellungen deines Volkes angenommen", antwortete der Zwerg kühl.
"Ich weiß nicht, wovon du sprichst", behauptete das Halbblut.
"Hör auf damit, Naira. Wir wissen beide, dass du weißt, wovon ich spreche", entgegnete Thorin wütend.
"Nein, tue ich nicht. Bitte erleuchte mich", meinte Naira, die eigentlich genau wusste, was der Zwerg meinte.
Sie wollte nur, dass er es aussprach damit er nicht sagen konnte, dass sie es gewusst hätte, wenn sie sich verteidigte. Denn genau das würde sie tun: Sie würde sich verteidigen. 
Es lag nicht in ihrer Natur ihre Freunde, ihre Familie, im Stich zu lassen.
Der Zwergenfürst tat ihr tatsächlich den Gefallen: "Du hast dich den Elben angeschlossen, als der Erebor fiel! Als Smaug meine Heimat, deine Heimat, an sich riss! Du hast nichts getan! Du bist mit dem Waldlandkobold davongeritten, als hättest du nie etwas mit uns zu schaffen gehabt! Du hast mich im Stich gelassen!"
Naira versuchte vergeblich, Ruhe zu bewahren.
"Ich wollte es nicht", zischte sie wütend. "Aber was hätte ich tun können?! König Thranduil verbot mir, euch zu helfen!"
Thorin schnaubte.
"Ich hätte dich niemals freiwillig verlassen! Du warst mein bester Freund und du wirst es immer bleiben, selbst wenn ich nicht mehr deine beste Freundin bin! Du hast recht, der Erebor war meine Heimat und er wird es immer bleiben! Aber ich musste meinem König Folge leisten!", schrie sie ihn an.
"Wieso hast du dann nicht geholfen?"
"Hast du mir gerade überhaupt zugehört?! Thranduil verbot es mir!"
"Wann hast du dich je darum gekümmert, was diese spitzohrige Elbenprinzessin von dir verlangte?"
Dies brachte die Elbenfrau für einen kurzen Moment zum Schweigen. 
Thorin grinste siegessicher.
"Ich wollte dich nicht allein lassen", sagte sie schließlich leise. "Ich habe dem König gesagt, dass ich euch auch allein unterstützen würde, sollte er nicht helfen wollen. Aber er wollte nichts davon hören. Was hätte ich, deiner Meinung nach, tun sollen? Einen Befehl des Königs missachten und dann? Was hätte ich danach tun sollen?"
Thorin dachte einen Moment lang nach.
"Du hättest mit uns kommen können", sagte er schließlich leise.
Naira lachte sarkastisch.
"Ihr musstet durch den Düsterwald. Denkst du nicht, dass Thranduils Wachen mich erwischt hätten?", fragte sie höhnisch.
"Wir hätten dich beschützt!", wurde der Zwerg wieder laut.
"Sie hätten euch umgebracht, Thorin! Ich habe versucht, euch zu schützen! Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich dem Augenblick, da ich auf dem Hügel stand, alle Möglichkeiten durchgegangen bin! Jede davon hätte in deinem Tod oder dem Tod vieler anderer Zwerge resultiert! Dies schien mir die einzige Option, um so viele von euch wie möglich zu retten!", widersprach Naira heftig.
Thorin schüttelte enttäuscht den Kopf.
"Ich glaubte einmal, dass du anders wärst als die anderen Elben...dass dein Zwergenblut stärker sei, als das der Elben, aber scheinbar habe ich mich getäuscht...", sagte er, drehte sich um und ging.
Naira wollte ihm hinterherrufen, ihm nachlaufen, ihm sagen, dass er sich nicht in ihr getäuscht hatte; dass sie noch immer das Halbblut war, das er vor so vielen Jahren kennengelernt hatte. Doch sowohl ihre Beine als auch ihre Stimme versagten ihr den Dienst.
Und so brach die Elbenfrau weinend unter einem Baum zusammen.
Vor wenigen Stunden noch hatte sie gedacht, dass sie Thorin nie mehr wiedersehen würde und, dass dieser Verlust erträglich wäre. Doch als er ihr nun die Freundschaft offiziell gekündigt hatte, zeigte sich, wie falsch sie gelegen hatte.
Dennoch war die Kündigung der Freundschaft selbst nicht das Schlimmste für Naira. Das Schlimmste war der Ausdruck in Thorins Augen: Dieser Ausdruck purer Enttäuschung und Trauer würde sie für den Rest ihres Lebens verfolgen.

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Das Lied heißt "Song of Durin" von Eurielle und auch das Video ist nicht von mir.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt