Kapitel 8

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Der Abstieg stellte sich als echte Herausforderung heraus. Der Weg war schmal, zu schmal gemessen am Hüftumfang einiger Zwerge. Dazu kam dann noch, dass Thorin, obwohl seine Wunden geheilt worden waren, noch immer Probleme beim Gehen hatte. Naira hätte ihn gern gestützt, doch aufgrund der geringen Breite des Weges war dies leider unmöglich. So musste Thorin sich an der Felswand abstützen und die Gemeinschaft viele Pausen einlegen, damit ihr Anführer sich so weit erholen konnte, dass sie weitergehen konnten, ohne fürchten zu müssen, dass er vom Felsen in der Tiefe stürzte.
Während besagter Pausen, beschäftigte Naira sich damit, mit ihren neu entdeckten Fähigkeiten zu experimentieren. Zu ihrer Überraschung musste sie sich nicht einmal anstrengen, um Flammen beliebiger Größen zu entzünden. Es war, als habe sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan. Wenn es nachts kühler wurde, mussten die Zwerge nicht einmal mehr Feuerholz suchen, weil Naira einfach ein Feuer in ihrer Hand entfachte und es dann auf den Boden legte, als wäre es ein Gegenstand und kein Element, dass das Potenzial besaß, ihr ganze Umgebung zu vernichten.

Als sie es endlich an den Fuß des Berges geschafft hatten, schickten sie Bilbo als Späher, um nachzusehen, wie nah die Orks waren.
Während der Rest wartete, fragte Thorin Naira, was sie in der Zeit zwischen Smaugs Überfall auf den Erebor und ihrem Treffen in Imladris getan hatte.
"Ich bin viel gereist, hab viele interessante Leute getroffen und die dann meist auch umgebracht...", erzählte sie.
"Bitte was?", fragte Thorin entsetzt.
Seit wann sprach Naira so unbeschwert über das Töten? Vor allem dann, wenn es um Tode ging, die sie zu verantworten hatte.
"Töte oder du wirst getötet", erwiderte sie mit einem Schulterzucken.
Der König atmete erleichtert auf.
"Was? Hast du geglaubt, dass ich wahllos durch die Gegend renne und Leute ermorde?", Naira war entsetzt. "Du weißt aber schon, mit wem du sprichst, nicht wahr?"
"Der Verlust des Erebors hat uns alle verändert", verteidigte Thorin seine Annahme.
Naira schnaubte.
"Da gebe ich dir recht", gab sie klein bei. "Aber so sehr habe ich mich dann doch nicht verändert."
"Wie dem auch sei", sprach sie weiter. "Ich habe in der Schlacht bei Moria an eurer Seite gekämpft-"
Erneut wurde sie unterbrochen, dieses Mal von Oin: "Das warst du? Die Kriegerin in schwarz, deren Gesicht niemand sah und die am Ende der Schlacht verschwand, als sei sie nie da gewesen? Das warst du?"
Das Halbblut nickte.
"Thranduil konnte mich nicht mehr kontrollieren und ich hatte nichts mehr zu verlieren..."
Die Zwerge blieben still, was Naira als Zeichen nahm, dass sie noch mehr erzählen sollte.
"Nach einigen Jahrzehnten des Umherziehens beschloss ich nach Imladris zu gehen und dort blieb ich, bis ihr kamt."
Thorin wollte etwas sagen, doch in dem Augenblick kam Bilbo angelaufen.
"Wie nah ist die Meute?", wollte Thorin wissen.
"Zu nah", antwortete der Hobbit. "Ein paar Wegstunden, mehr nicht. Aber das ist nicht das Schlimmste."
"Haben die Warge uns gewittert?", setzte Dwalin hinterher.
"Noch nicht, aber das werden sie. Und wir haben noch ein Problem."
"Wurdest du gesehen?", klinkte sich nun auch Gandalf ein. "Du wurdest gesehen."
"Nein, das ist es nicht", beruhigte Bilbo den Zauberer.
Gandalf lächelte zufrieden und begann, den Halbling in den Himmel zu loben. Die Zwerge, mit ein paar wenigen Ausnahmen, stiegen ebenfalls ein.
Naira hatte - im Gegensatz zu einigen anderen - mehr gehört, als sie hören wollte.
"Seid ruhig!", zischte sie. "Bilbo hat etwas Wichtiges zu sagen."
Als alle endlich den Mund hielten - motiviert nicht zuletzt durch Todesblicke von Naira - enthüllte Bilbo: "Da draußen ist noch etwas anderes."
"Welche Gestalt hat es angenommen?", hakte Gandalf nach. "Die eines Bären?"
Bilbo begann mit einer Bestätigung, stoppte jedoch mittendrin, bevor er wieder ansetzte: "Ja, aber größer, viel größer."
Gandalf und Naira tauschten bedeutungsschwere Blicke.
Das war ja wieder logisch. Als hätten sie nicht schon genug Probleme, musste nun auch noch der letzte Hautwechsler Mittelerdes dazu kommen.
"Ihr wusstet von dem Biest?", fragte Bofur entsetzt.
Während Gandalf sich abwandte, erklärte Naira: "Wie gesagt: interessante Leute. Er ist einer der Wenigen, die die Begegnung mit mir überlebt haben. Aber auch nur, weil er eigentlich keine Bedrohung darstellt."
Es sei denn, er befindet sich gerade in seiner Bärengestalt, fügte sie in Gedanken hinzu.
Die Zwerge berieten, wie sie weiter fortfahren sollten.
Gandalf machte dem jedoch ein Ende, indem er meinte: "Es gibt ein Haus, nicht weit von hier, wo wir möglicherweise Zuflucht suchen könnten."
"Wessen Haus?", fragte Thorin misstrauisch.
 Er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie sie nach Imladris gekommen waren.
"Das eines Freundes oder eines Feindes?"
"Weder noch", antwortete Naira.
"Er wird uns helfen", ergänzte Gandalf, "oder uns umbringen."
"Welche Wahl haben wir?", fragte Thorin, der insgeheim zu Mahal betete, dass sie eine hatten.
Doch ein Heulen in der Ferne gab ihm eine negative Antwort.
"Keine", bestätigte Naira diese und schon rannte die Gemeinschaft wieder einmal los: durch einen Bach, über eine Wiese, durch einen Wald und über eine weitere Wiese, hin zu dem Haus.
Auf der letzten Wiese überholte Bombur, zur allgemeinen Überraschung, alle Mitglieder der Gemeinschaft und warf sich als Erster gegen die Tür des Häuschens.
Während sich die ankommenden Zwerge wieder und wieder gegen die Tür warfen, in der Hoffnung, dass sie nachgeben würde, brach hinter ihnen ein riesiger Bär aus dem Wald.
"Der Riegel!", rief Naira, die ganz hinten lief, um sicherzustellen, dass niemand zurückgelassen wurde, und dank ihrer elbischen Sicht, den Riegel schon von weitem gesehen hatte - mal ganz davon abgesehen, dass sie durch regelmäßige Besuche von dem Riegel wusste. "Öffnet den Riegel!"
Thorin drängte sich an den anderen Zwergen vorbei und befolgte Nairas Anweisung. Die Tür öffnete sich und die Gemeinschaft stürmte ins Haus.
Als alle drinnen waren, machten sich die Zwerge daran, die Tür wieder zu schließen. Dies gestaltete sich als etwas schwierig, da der Bär die Tür nun ebenfalls erreicht hatte und seinen Kopf hereinstreckte.
Unter großer Anstrengung gelang es ihnen schließlich doch, den Kopf des Bären hinauszudrängen und die Tür zu schließen.
Erschöpft lehnten sich die Zwerge gegen die Tür. Erleichterung machte sich breit.
"Was war das?", fragte Ori und drehte sich zu Gandalf.
"Das ist unser Gastgeber", erklärte dieser.
Die Zwerge fuhren zu dem Zauberer herum.
"Sein Name ist Beorn", ergänzte Naira, die es sich bereits auf dem Boden bequem gemacht hatte. "Er ist ein Hautwechsler: Manchmal ist er ein riesiger, schwarzer Bär, manchmal ein großer, starker Mann. Der Bär ist, wie ihr gesehen habt, unberechenbar, aber dem Menschen ist mit Vernunft beizukommen."
"Jedoch schätzt er Zwerge nicht übermäßig", warnte Gandalf.
"Meine Gesellschaft hat er immer geschätzt", widersprach das Halbblut beleidigt. 
Mit einem Mal lagen die Blicke aller Zwerge auf ihm.
Doch die Aufmerksamkeit wurde sofort von ihm gelenkt, als draußen der Bär knurrte.
"Er geht fort", behauptete Ori, der ein Ohr an die Tür gedrückt hatte.
Dori zog ihn von der Tür weg.
"Das ist nicht natürlich, nichts davon. Es ist offensichtlich: Er steht unter einem dunklen Zauber", erklärte er entschieden.
"Das ist doch Blödsinn!", fauchte Naira und erhob sich. "Wenn dem so wäre, stünde auch ich unter einem dunklen Zauber. Aber ich höre keine Beschwerden wegen meiner Kräfte, obwohl ich euch noch schneller töten könnte als er. Der Zauber ist ein Teil von ihm, genau wie das Feuer ein Teil von mir ist."
Gandalf nickte zustimmend und befahl ihnen schließlich, sich schlafen zu legen. Er versicherte, dass sie diese Nacht in Sicherheit sein würden.

Naira suchte sich eine abgeschiedene Ecke, um noch ein wenig mit ihren Kräften experimentieren zu können. Doch ihre Pläne wurden von Thorin durchkreuzt, der sich neben sie fallen ließ.
Eine Weile lang sagte keiner von ihnen etwas, doch Naira spürte, dass der Zwerg etwas auf dem Herzen hatte.
"Wenn du mich etwas fragen willst, dann frag jetzt, bevor ich einschlafe", merkte sie schließlich mit einem leichten Grinsen an, weil sie die Spannung nicht mehr aushielt.
Thorin sah sie einen Augenblick lang einfach nur an.
Schließlich öffnete er den Mund, nur um ihn wieder zu schließen.
"Woher kennst du diesen Hautwechsler?", fragte er endlich.
Naira seufzte.
"Ich hab ihn auf einer meiner Reisen getroffen", erklärte sie vage.
Thorin wurde misstrauisch. 
"Das kann nicht alles gewesen sein", zweifelte er.
Das Halbblut blickte in eine andere Richtung und antwortete nicht. Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf. Erinnerungen, die sie liebend gern vergessen würde. Schmerzen. Blut, sehr viel Blut. Todesangst...
"Der Tag, an dem wir gegen Azog gekämpft haben...", begann sie schließlich leise. "Das war nicht das erste Mal seit der Schlacht bei Moria, dass ich ihn gesehen habe..."
Sie atmete tief ein.
"Nach der Schlacht bin ich weiter durch Mittelerde gereist und nach einigen Jahren war ich in dem Wald, durch den wir vor einigen Stunden gelaufen sind... Ich wurde von einigen Orks angegriffen. Ich dachte, ich könnte sie besiegen und das hatte ich auch fast, als..."
Sie stockte.
Thorin legte seine Hand auf ihre Schulter.
"Genau wie du bis vor einigen Wochen, glaubte ich, dass er nach der Schlacht verblutet sei... Doch das war er nicht. Das musste ich an dem Tag auf die harte Art lernen. Ich hatte die Orks beinah besiegt, als er kam... Er...", Naira stockte erneut.
"Alles, was du wissen musst, ist, dass er mich ziemlich übel zugerichtet hat. Er sprach davon, das Biest in mir zu wecken, oder so ähnlich, aber als das nicht funktionierte, ließ er mich zurück."
Ihre geweiteten Augen fixierten einen Punkt auf dem Boden etwa zwei Meter entfernt.
"Ich hatte solche Angst...", ihre Stimme brach etwas, doch sie riss sich zusammen. "Ich wollte nicht sterben, aber da war so viel Blut..."
Ein weiterer tiefer Atemzug.
"Ich wusste, ich würde es nicht schaffen, wenn mich niemand finden würde. Doch es kam niemand... Und dann erschien er, Beorn, in seiner Bärengestalt. Ich fürchtete, er würde mich töten, aber stattdessen legte er sich neben mich und ließ mich auf seinen Rücken klettern. Er brachte mich hierher und pflegte mich gesund."
Sie lächelte in Erinnerung an die schönen Zeiten, die sie mit Beorn verlebt hatte.
"Seitdem besuche ich ihn so oft ich kann", schloss sie ihre Geschichte. "Er sorgt sich noch immer, dass ich die Wunde wieder aufreiße, aber sie ist seit damals gut verheilt. Mehr als eine Narbe ist nicht zurückgeblieben...und die Erinnerungen..."
Thorin sah seine Freundin an. In seinen Augen erkannte sie Wut, Trauer und vor allem Sorge.
Sie lachte.
"Schau nicht so", bat sie ihn. "Es geht mir gut."
Der Zwerg blieb still.
"Darf ich sie sehen?", fragte er dann leise. "Die Narbe, meine ich."
Naira zögerte, bevor sie nickte.
Sie legte ihre Rüstung ab und zog den Ausschnitt ihres Waffenrocks so weit herunter, dass Thorin das einzige Überbleibsel der Folter durch Azog sehen konnte. Es zog sich von ihrer linken Schulter bis zu ihren Rippen oberhalb ihrer rechten Brust. 
Thorin fuhr vorsichtig mit seiner Fingerspitze darüber, dann schaute er Naira in die Augen.
"Es tut mir leid...", meinte er leise.
Naira lächelte ihn gezwungen an und entgegnete: "Es ist nicht deine Schuld."
Ein Blick in seine Augen zeigte ihr, dass er anderer Meinung war.
Sie versteckte die Narbe wieder unter ihrem Ausschnitt.
"Wir sollten schlafen gehen", beschloss sie, um von dem vorherigen Thema abzulenken. "Wer weiß, was morgen auf uns zukommt."
Thorin nickte und Naira legte sich ins Stroh, dem Zwerg ihren Rücken zuwendend.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt