Kapitel 3

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Irgendwann beschloss Naira, dass sie nicht für immer unter diesem Baum, in den Gärten, sitzen konnte und, dass sie stattdessen Balin suchen sollte.
Auch, wenn ein kleiner Teil in ihr sich fragte, warum sie nicht für immer da sitzen bleiben konnte.

Während Naira den alten Zwerg suchte, bekam sie immer mehr Zweifel daran, ob sie ihn wirklich finden wollte.
Doch bevor sie es sich anders überlegen und die Suche aufgeben konnte, hörte sie eine Stimme, die ihren Namen rief.
Sie drehte sich um und sah Balin auf sich zu kommen.
"Balin!", rief sie mit einem fröhlichen Lächeln, "Ich könnte schwören, dass du größer warst, als ich dich das letzte Mal sah."
Der Zwerg zog sie in eine Umarmung und ging nicht weiter auf den scherzhaften Kommentar ein.
"Du bist noch immer genauso frech wie damals und auch sonst hast du dich kaum verändert", antwortete er.
"Du bist mir nicht böse?", fragte sie vorsichtig, als sie ihn wieder losließ.
"Weil du getan hast, wovon du glaubtest, dass es richtig war? Wieso das denn?", stellte Balin die Gegenfrage. "Und mal ganz unter uns: Sogar Thorin macht Fehler, auch wenn er es niemals freiwillig zugeben würde."
Naira lächelte dankbar.
In ihren Augen war Balin schon immer der Toleranteste unter den Zwergen gewesen. Und er hatte noch nie verstanden, warum Thorin die Elben hasste.
"Nun komm mit mir", forderte er das Halbblut auf.
"Wohin gehen wir?"
"Wir haben ein Treffen mit Herrn Elrond."
"Wer ist wir?", fragte Naira misstrauisch.
"Gandalf, Bilbo, Thorin, du und ich", antwortete der alte Zwerg und zog sie hinter sich her.
"Ich glaube nicht, dass Thorin mich dabeihaben will...", meinte sie und wollte sich von Balin los machen.
"Seit wann interessiert es dich, wenn jemand dich nicht bei etwas dabeihaben will? Vor allem, wenn dieser Jemand Thorin ist?", fragte Balin und schaute sie verwundert an.
"Seit ich mich meinem Volk angepasst habe und das Elbenblut stärker geworden ist als das Zwergenblut...", antwortete die Elbenfrau tonlos.
Balin schaute sie zweifelnd an.
"Sind das deine Worte oder die Thorins?", fragte er sanft.
Naira schaute zu Boden.
"Also Thorins. Und was sagt Naira?"
Das Halbblut schaute langsam auf und überlegte ein wenig.
"Naira sagt...", sagte es schließlich, "Dass ich beides bin: Eine Elbenfrau und eine Zwergin. Und nicht mein Blut entscheidet, wer ich bin, das tue nur ich allein. Und wenn Thorin mich nicht dabeihaben will, dann komme ich erst recht."
Balin lächelte stolz, als Naira sich aufrichtete und ihn entschlossen anschaute.

Naira trat an Balins Seite auf die Plattform, wo die anderen schon versammelt standen.
"Was tut die Elbenfrau hier?", fragte Thorin ungehalten.
"Die Elbenfrau war einmal deine beste Freundin. Außerdem bin ich nicht nur eine Elbenfrau, sondern auch eine Zwergin", schoss Naira selbstbewusst zurück.
Nichts deutete mehr darauf hin, dass sie vor einigen Stunden noch um den Verlust von Thorins Freundschaft geweint hatte.
"Also", meinte sie ungeduldig, "kommen wir jetzt zum Punkt?"
"Unsere Angelegenheiten gehen die Elben nichts an", antwortete Thorin eisig.
"Du meine Güte, Thorin, zeig ihm die Karte", befahl Gandalf.
"Sie ist das Vermächtnis meines Volkes und es ist an mir, sie zu schützen. Genau wie ihre Geheimnisse", versetzte der Zwergenfürst störrisch.
"Bewahre mich jemand vor der Sturheit der Zwerge!", rief Gandalf frustriert aus. "Euer Stolz wird Euer Niedergang sein."
Naira hatte genug. Wenn Thorin nicht von sich aus nachgeben wollte, dann würde sie eben nachhelfen.
"Wenn ich das recht verstanden habe, könnt ihr diese Karte nicht lesen", meinte sie und kümmerte sich nicht um die warnenden Blicke, die sie von Thorin, Gandalf und Elrond erhielt. "Wie wäre es also, wenn du, Thorin Eichenschild, deinen Stolz ein einziges Mal niederlegst und Hilfe annimmst, wenn sie dir angeboten wird. Du bist zu stolz, um um Hilfe zu bitten, was ich auch verstehe, aber wenn sie dir angeboten wird, kannst du sie gerne annehmen. Du stehst vor einem der Wenigen in Mittelerde, die diese Karte lesen können. Zeig sie Herrn Elrond, verflucht noch einmal!"
Der Fluch brachte ihr einen missbilligenden Blick von Elrond ein, den sie jedoch gekonnt ignorierte.
Thorin jedoch schien überzeugt, denn er reichte, wenn auch widerstrebend, die Karte an Elrond, also hatte sie erreicht, was sie hatte erreichen wollen, und das war es wert, sich später den ein oder anderen Vortrag über vornehmes Benehmen anhören zu müssen.
"Erebor...", erkannte der Elbenfürst, als er die Karte auseinanderfaltete. "Was ist Euer Interesse an dieser Karte?"
Thorin öffnete den Mund, setzte zu einer Antwort an, als Gandalf ihm auch schon zuvorkam, indem er behauptete, es wäre ein rein theoretisches Interesse, denn alte Artefakte enthielten manchmal versteckte Texte.
Naira glaubte diese Ausrede nicht einen Augenblick lang, denn der Zwergenfürst schaute etwas zu erleichtert über die Antwort des Zauberers.
Außerdem hatte sie zwar viele Jahre in Imladris verbracht, doch dümmer war sie nicht geworden und sie hatte sich aus sehr zuverlässiger Quelle über Smaug berichten lassen. Und seit 60 Jahren hatte es keine Sichtungen des Drachen mehr gegeben. Und wenn sie das wusste, dann wusste es ein Thorin Eichenschild, rechtmäßiger König unter dem Berge, erst recht.
Sie konnte sich ziemlich gut vorstellen, was die Zwerge mit der Karte wollten.
"Ihr lest noch immer altes Zwergisch, nicht wahr?", fragte Gandalf.
"Er ist nicht der Einzige in diesem Raum, der das tut", murmelte Naira, während sie Elrond beobachtete, der die Karte ins Mondlicht hielt.
"Cirth Isil...", murmelte er leise vor sich hin.
"Mondrunen...", übersetzte Naira.
"Natürlich", meinte Gandalf und schaute zu dem Hobbit, von dem Naira glaubte, dass er wohl Bilbo sein musste. "Es ist ein Leichtes, sie zu übersehen..."
"Woran das wohl liegen mag...", kommentierte Naira.
Als sie die fragenden Blicke der Zwerge und des Hobbits bemerkte, fügte sie hinzu: "Mondrunen können nur gelesen werden, wenn der Mond der Phase und Jahreszeit entspricht, zu der sie geschrieben wurden."
"Vermögt Ihr sie zu lesen?", fragte Thorin Elrond.
"Nicht nur ich, auch Naira tut das", antwortete er und wandte sich an seine Schutzbefohlene. "Möchtest du dich daran versuchen?"
Naira nickte, wenn auch zögerlich, und sie traten auf eine Plattform, auf die der Mond schien.
Das Halbblut hielt die Karte in der Hand und studierte sie.
"Diese Runen wurden am Abend einer Sommersonnenwende, im Licht eines zunehmenden Mondes vor bald zweihundert Jahren geschrieben...", erklärte es.
"Es scheint, als wäre es euch vorbestimmt, nach Bruchtal zu kommen", verkündete Elrond. "Das Schicksal ist mit Euch, Thorin Eichenschild, derselbe Mond scheint heute Nacht auf uns herab."
Naira legte die Karte auf den kleinen Tisch, der am Ende der Plattform stand.
Als der Mond sich zeigte, wurden silber-blau leuchtende Runen sichtbar.
Thorin stellte sich so dicht neben Naira, dass sie sich große Mühe geben musste, um normal zu atmen.
"Stellt euch an den grauen Stein,", las sie laut vor, "wenn die Drossel schlägt und die untergehende Sonne mit dem letzten Licht am Durinstag wird hinab scheinen, auf das Schlüsselloch."
"Durinstag?", fragte der kleine Hobbit.
"Der Beginn des neuen Jahres der Zwerge", erklärte Gandalf.
"An diesem Tag teilen sich der letzte Herbstmond und die erste Wintersonne den Himmel", ergänzte Naira. "Was haben wir damals gefeiert..."
"Dies ist eine schlechte Nachricht...", behauptete Thorin.
"Ich stimme zu", bestätigte die Halbelbenfrau vorlaut. "Bei den Feiern ist immer viel Alkohol geflossen und wenn du planst, dieses Jahr genauso viel zu trinken, dann glaube ich nicht, dass du noch lange leben wirst. Ich meine, du bist auch nicht mehr der Jüngste..."
Bilbo kicherte leise.
Thorin warf ihr einen wenig freundlichen Blick zu.
"Der Sommer vergeht. Der Durinstag wird bald da sein", erläuterte er, ohne auf den Kommentar Nairas einzugehen, was diese mit einem Schmollen beantwortete.
"Wir haben noch immer Zeit", versuchte Balin ihn aufzuheitern.
"Zeit? Für was?", fragte Bilbo misstrauisch.
"Um den Eingang zu finden", erklärte Balin. "Wir müssen genau am richtigen Ort, zu genau der richtigen Zeit sein. Dann, und nur dann, kann die Tür geöffnet werden."
"Das ist also eure Absicht? Ihr wollt in den Berg hinein?", hakte Naira nach.
"Und wenn es so wäre?", entgegnete Thorin kalt.
"Es gibt einige, die das nicht als weise erachten würden...", meinte Elrond mit einem bedeutungsvollen Blick an Gandalf in genau dem Moment, da Naira verkündete: "Dann komme ich mit."
Elronds Einwurf wurde keine Beachtung mehr geschenkt. Sogar der Elbenfürst selbst schien, ob Nairas Entschluss, vergessen zu haben, was er gerade gesagt hatte.
"Nein, das wirst du nicht", bestimmte Thorin.
"Mit welchem Thorin spreche ich gerade?", fragte Naira verstimmt. "Dem besten Freund, der mich beschützen will? Dem König, der nicht mein König ist, es mir aber trotzdem verbietet? Oder Thorin Eichenschild, dem alten Trotzkopf, der mich nicht dabeihaben will, weil ich zur Hälfte eine Elbenfrau bin? Tut mir leid, wenn ich deine Illusion zerstöre, aber wie ich bereits sagte, bin ich auch eine Zwergin und der Erebor ist meine Heimat."
"Kann dich irgendetwas aufhalten?", fragte Thorin, der sich zurückhalten musste, um ob ihrer Entschlossenheit nicht zu lächeln.
Naira überlegte einen Augenblick lang, dann antwortete sie: "Die Valar. Aber nur, weil ich nicht den Zorn Manwes auf mich ziehen will und nicht so enden will wie die Noldor. Ansonsten nur mein Tod. Wenn du also möchtest, dass ich hierbleibe, musst du entweder dafür sorgen, dass einer der Valar hier auftaucht und mir befiehlt zu bleiben, was allerdings sehr unwahrscheinlich ist, da sie seit Jahrtausenden nicht mehr nach Mittelerde kommen, oder du musst mich umbringen. Tust du das? Nein? Dann wäre das ja geklärt. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss meine Sachen packen und mich meinen neuen Reisegefährten vorstellen."
Und mit diesen Worten verschwand Naira aus dem Sichtfeld der anderen.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt