Kapitel 12

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Naira wanderte ziellos durch die Gänge des Palastes. 
In ihrem Kopf hallten Thorins letzte Worte wider.
Ihr Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihr eine Menge Selbstvertrauen zurückgegeben. Sie wollte zurück in die Kerker gehen und den Zwerg anschreien. Sie wollte ihm sagen, dass sie nie etwas anderes getan hatte, als ihm zu helfen, selbst, wenn er es nicht gesehen hatte; dass sie immer an seiner Seite gestanden hatte, egal, wie ungerecht er sie behandelt hatte.
Während sie noch in ihren Gedanken schwelgte, stieß sie plötzlich mit etwas zusammen. Sie schaute sich um, sah jedoch nichts.
Dann wurde sie in eine Nische gezogen. In Sekundenschnelle zog sie eines der Schwerter an ihrer Hüfte und einen der Dolche aus ihrem Stiefel und ging in Verteidigungsposition.
Sie würde mit Feuer um sich werfen, doch der Palast bestand aus Bäumen und sie wollte ihn nicht in Brand setzen.
"Zeigt Euch, wenn Ihr nicht Euer Leben beschließen wollt", drohte sie.
"Warte, warte, Naira, ich bin es", erklang eine ängstliche Stimme hinter ihr.
Naira drehte sich um und hinter ihr stand...
"Bilbo?", fragte sie ungläubig.
Der Hobbit nickte.
"Könntest du nun bitte deine Waffen wegstecken?", fragte er mit einem misstrauischen Blick auf das Schwert und den Dolch.
"Wie bist du hineingekommen, ohne erwischt zu werden?", wollte sie wissen, während sie der Aufforderung des Hobbits nachkam.
"Gandalf hatte recht. Ich bin leiser, als man meinen sollte", erklärte Bilbo.
Naira hatte das dumme Gefühl, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Doch der Hobbit wollte es ihr nicht sagen, also würde sie ihn auch nicht dazu zwingen.
"Wie lautet der Plan?", fragte er, um von sich abzulenken.
"Der Plan?"
"Der Plan, mit dem wir die Zwerge aus den Verliesen befreien", klärte der Halbling auf.
Naira lachte freudlos.
"Tut mir leid, Bilbo", musste sie ihn enttäuschen. "Es gibt keinen Plan. Es ist besser, wenn die Zwerge bleiben, wo sie sind. Dann überleben sie wenigstens. Ich glaube kaum, dass du gerne im Feuer eines Drachen sterben willst. Wenn ich du wäre, würde ich nach Hause gehen."
"Das meinst du nicht ernst", Bilbo war entsetzt. "Wir haben auf dieser Reise nicht alles riskiert, um jetzt aufzugeben. Wo ist die Frau, die Thorin in Bruchtal so lange Kontra gegeben hat, bis er sie mitgenommen hat? Wo ist die Frau, die ihre Heimat zurückerobern wollte?"
"Sie ist aufgewacht!", keifte sie. "Sie hat erkannt, dass, egal was sie tut, Thorin immer Thorin bleiben wird und niemals dankbar dafür sein wird, dass sie ihm wieder und wieder das Leben gerettet hat! Ich habe nicht die Absicht, mich erneut von diesem Sturkopf von einem Zwergenkönig anschreien zu lassen, weil ich ihm mal wieder das Leben gerettet habe! Und weißt du was? Ich rette ihm und der ganzen Gemeinschaft gerade schon wieder das Leben, indem ich die ganze Bande in den Kerkern lasse!"
"Du hast recht...", antwortete der Hobbit leise. "Thorin wird immer Thorin bleiben. Aber das bedeutet auch, dass er niemals aufgeben wird. Er wird für immer versuchen, einen Weg aus den Kerkern herauszufinden."
"Dann soll er das ohne mich tun. Ich halte meinen Kopf nicht noch einmal für ihn hin", behauptete Naira.
"Das musst du auch nicht", beruhigte Bilbo sie. "Du musst mir nur helfen, die Schlüssel zu den Verliesen zu bekommen und dann hole ich sie allein' raus."
"Und ich gehe davon aus, dass ich so tun soll, als wüsste ich von nichts, wenn jemand fragt, wo die Schlüssel sind?", fragte das Halbblut.
Bilbo nickte langsam und sah es mit einem bittenden Blick an.
"Bartho a gorgor...", fluchte es leise, dann sah es dem Hobbit in die Augen.
"Na schön", stimmte es zu. "Ich helfe dir."

"Die Schlüssel hat Elros", erklärte Naira, während sie und Bilbo zum Weinkeller hinuntergingen.
Zwischendurch mussten sie sich immer wieder vor Elben verstecken.
"Es wird schwierig werden, ihm die Schlüssel abzunehmen, aber ich weiß, wie ich es schaffen kann. Doch du musst mir vertrauen und du darfst dir die Schlüssel nicht selbst holen, das ist zu gefährlich. Ich werde sie dir geben."
"Ich vertraue dir", versicherte Bilbo.
Naira nickte.
Sie kamen im Weinkeller an und versteckten sich in einer Nische.
"Siehst du die Fässer?", fragte das Halbblut den Hobbit.
Dieser nickte.
"Das ist euer Weg aus dem Palast. Der Hebel öffnet die Klappe, die die Fässer in den Fluss fallen lässt. Der Fluss treibt euch aus dem Palast und dem Wald hinaus. Von dort aus könnt ihr weiter zum Berg gehen", führte es aus.
Elros ging an ihnen vorbei. Er kritisierte die Elben, die ursprünglich schon längst die Fässer den Fluss hinunter hatten schicken sollen. 
Das hatte jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Stattdessen bekam er eine Einladung auf ein - oder zwanzig - Becher Wein.
"Ich muss die Zwerge bewachen", lehnte er ab.
Naira trat aus dem Schatten der Nische hervor und setzte eine hochnäsige Stimme auf, als sie sagte: "Die sind eingesperrt. Wohin können die gehen?"
"Naira?", fragte Elros ungläubig.
So hatte sie sich noch nie aufgeführt. Irgendetwas war da doch im Busch...
"Galion hat recht", behauptete sie und sie konnte nicht glauben, dass sie das sagte. "Es ist Mereth-en-Gilith und die anderen betrinken sich oben, während ihr arbeiten müsst. Das ist doch etwas ungerecht, findest du nicht?"
Naira nahm ihrem Freund die Schlüssel aus der Hand und hängte sie an einen Haken.
"Seit wann trinkst du? Und seit wann bist du gegen die Zwerge?", fragte der Elb misstrauisch.
"Ich habe beschlossen, dass Thorin sich niemals verändern wird und, dass ich nicht länger versuchen sollte, ihn davon zu überzeugen, dass ich eine Zwergin bin. Ich bin auch eine elleth und wenn er das nicht sehen will, dann ist er selbst schuld", behauptete das Halbblut. "Und ich trinke, seit ich in Imladris auf den Geschmack gekommen bin."
Ersteres war nicht unbedingt eine Lüge, Letzteres aber sehr wohl.
"Siehst du?", fragte Galion erfreut. "Wenn selbst das Halbblut auf den Geschmack gekommen ist, kannst du das auch."
"Das Halbblut hat einen Namen", zischte Naira wütend zur gleichen Zeit, wie Elros meinte: "Das Halbblut heißt Naira."
Beide konnten Galion nicht ausstehen und vor allem nicht die Art, mit der er Naira behandelte.
Galion zuckte nur mit den Schultern und bot beiden jeweils einen Becher mit Wein an, den sie annahmen.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt