Kapitel 4

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Am vergangenen Abend hatte Naira dann doch beschlossen, sich erst am folgenden Tag, also heute, den anderen Zwergen vorzustellen. Also machte sie sich, gleich nachdem sie aufgestanden war und sich etwas Präsentables angezogen hatte, auf den Weg, um diese zu finden.
Dies war bei Weitem nicht so schwierig, wie sie angenommen hatte, denn die Zwerge, die auch sonst nicht sonderlich leise waren, waren noch lauter, wenn sie gerade erst aus den Betten gekrochen waren.
Die ersten Zwerge, denen sie begegnete, waren die Neffen Thorins: Sie liefen das Halbblut wortwörtlich über den Haufen. Doch anstatt sich darüber aufzuregen, wie jeder andere Elb das getan hätte, brach Naira in lautes Gelächter aus.
"Verzeiht", entschuldigte sich der braunhaarige Zwerg und half der jungen Frau beim Aufstehen.
"Es war nicht unsere Absicht Euch umzurennen", fügte der Blonde hinzu.
Naira lächelte.
"Das macht doch gar nichts", antwortete sie kichernd. "Ich bin Naira. Halb Elbenfrau, halb Zwerg. Und wer seid Ihr?"
"Kili", meinte der Braunhaarige.
"Und Fili", ergänzte der Blonde.
"Zu euren Diensten", beendeten sie unisono und verbeugten sich.
Naira lächelte und neigte den Kopf.
"Wo wolltet ihr hin, so schnell am Morgen?", fragte sie neugierig.
"Frühstück", meinte Kili und grinste.
Die Halbelbenfrau lachte.
"Das könnte ich jetzt auch gut vertragen", erklärte sie.
Dann fügte sie diebisch grinsend hinzu: "Kommt mit. Wir schleichen uns in die Küchen und sehen, was wir uns von dort stibitzen können."
Die beiden Brüder sahen ihr ungläubig nach, während sie bereits fröhlich hopsend den Flur hinunterlief.
Am Ende des Ganges drehte sie sich noch einmal um.
"Kommt ihr?"

"Nun denn", flüsterte Naira, als sie und die beiden Zwerge um die Ecke, zu der Tür in die Küche schauten, "hier sind wir nun."
"Und wie kommen wir da rein, ohne Aufsehen zu erregen?", fragte Kili.
Naira kicherte.
"Gar nicht", antwortete sie.
Kili und Fili schauten sie ungläubig an. War sie nicht diejenige gewesen, die diese Eskapade vorgeschlagen hatte? Wie sollten sie in die Küchen schleichen und Frühstück stibitzen, wenn sie nicht einmal hineinkommen würden?
Doch Naira war nicht dumm: Sie arbeitete bereits an einem Plan.
"Wir brauchen eine Ablenkung...", murmelte sie vor sich hin.
Und als hätten sie sie gehört, bogen in genau dem Moment die Zwillingssöhne Elronds, Elladan und Elrohir, um die Ecke.
"Und da kommt sie auch schon!", rief Naira erfreut aus und lief den beiden Elben entgegen.
"Elladan, Elrohir, ihr kommt wie gerufen", behauptete sie und legte beiden je einen Arm um die Hüften.
"Naira, wie geht es dir?", fragte Elrohir und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Sein Bruder machte es ihm nach und fügte hinzu: "Wir haben dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen."
"Wenn du seit gestern Morgen als Ewigkeit bezeichnest...", versetzte Naira und grinste.
Dann drehte sie sich zu Kili und Fili.
"Kili, Fili, das sind Elladan und Elrohir, Elronds Söhne und in diesem Fall unsere Ablenkung", stellte sie die Elben vor.
"Du hast doch nicht schon wieder etwas Verbotenes vor, Naira?", fragte Elladan gespielt entsetzt.
"Ich nicht", versicherte Naira.
Sie deutete mit dem Finger zwischen den Zwergenbrüdern und sich selbst hin und her, während sie hinzufügte: "Wir schon."
Kili und Fili sahen erstaunt mit an, wie Naira mit den Zwillingen umsprang. Niemals hätten sie geglaubt, dass Elben sich so behandeln lassen würden.
Alle Elben, die sie bisher in Imladris getroffen hatten, waren so ernst und überhaupt nicht so verspielt wie die Zwillinge, die auf Nairas Späße einstiegen und sie weitersponnen.
War Elrond sich sicher, dass sie seine Söhne waren?
"Also Naira, wie lautet der Plan?", fragte Elrohir neugierig.
"Ihr lenkt die Elben in den Küchen ab, Kili, Fili und ich huschen rein und stibitzen uns und den anderen Zwergen etwas zu Futtern", erklärte sie.
"Und an welche Art der Ablenkung habt Ihr gedacht, oh große Meisterin der Streiche?", wollte Elladan wissen.
"Ihr seid intelligente Jungs", erwiderte Naira und klopfte ihnen auf die Oberarme. "Euch wird schon etwas einfallen."
Damit gesellte sie sich wieder zu Kili und Fili, schnappte sie sich an den Ärmeln und zog sie hinter sich her zu der Tür, die in die Küchen führte.
Auf halbem Wege drehte sie sich noch einmal zu den Söhnen Elronds um.
"Na los", scheuchte sie sie. "Worauf wartet ihr denn noch?"
Die Zwillinge schauten sich frech grinsend an und machten sich aus dem Staub.
"Wo wollen sie hin?", fragte Kili verwirrt.
Er bekam etwas Angst um die Zukunft seines Frühstücks.
"Durch den Geheimgang in die Küchen", erklärte Naira, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.
"Und woher wissen wir, ob die Luft rein ist?", wollte Fili wissen.
"Wenn niemand mehr in den Küchen ist."
"Und woher wissen wir, wann niemand mehr in den Küchen ist?"
"Wenn-", weiter kam das Halbblut nicht, denn in diesem Augenblick ertönte ein erschrockener Schrei aus den Küchen und die Tür flog auf.
Die Elben, die sonst in den Küchen arbeiteten, kamen panisch herausgelaufen.
"Jetzt", erklärte Naira zufrieden.
Elladans und Elrohirs grinsende Gesichter tauchten im Türrahmen auf.
"Kommt ihr? Die Luft ist rein", meinten sie unisono.
Naira grinste und zog die Zwergenbrüder hinter sich her.

Einige Minuten später verließen die Fünf die Küche wieder. Sie hatten sich mit so vielen Lebensmitteln beladen, wie sie tragen konnten.
Kili und Fili führten sie zu dem Platz, an dem sich die anderen Zwerge bereits versammelt hatten.
"Einen wunderschönen guten Morgen", trällerte Naira fröhlich.
Thorin hatte sich bei dem Klang ihrer Stimme von Balin, mit dem er gesprochen hatte, abgewandt. Nun, da er die beiden Elben und das Halbblut entdeckte, verfinsterte sich seine Miene.
"Wir bringen Frühstück", verkündete Kili, bevor sein Onkel etwas Unhöfliches sagen konnte.
"Frühstück?", kam es aufgeregt von der Gemeinschaft.
"Genau so sieht's aus", bestätigte Naira grinsend.

Wenig später saßen die Zwerge und Naira auf dem Boden und schlugen sich die Bäuche voll.
Die Elbenzwillinge hatten sich bereits verabschiedet, da sie noch ihre täglichen Aufgaben vor sich hatten, die Naira hingegen beschlossen hatte, ausfallen zu lassen.
Sie hatte sich den Zwergen vorgestellt und ihnen eröffnet, dass sie sie auf der Reise begleiten würde.
Zuerst hatten sie sich vereinzelt darüber ausgelassen, doch je länger Naira bei ihnen saß und mit ihnen Witze machte und lachte, desto mehr freuten sich die Zwerge darauf, das Halbblut mitzunehmen.
Spätestens nachdem es ihnen erzählt hatte, dass sein Vater ein Zwerg aus dem Erebor gewesen war, hatte auch der letzte Zwerg es akzeptiert.
Im Augenblick ließ es sich lachend mit Bofur darüber aus, dass es bei den Elben kein Fleisch gab.
"Wie hast du das bloß ausgehalten?", fragte der Zwerg verständnislos.
"Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Und wenn man Freunde wie Elladan und Elrohir hat, die immer wieder gerne die Ablenkung spielen, kann man schon das ein oder andere Mal ein wenig Fleisch aus der Küche stibitzen", erklärte Naira und kicherte.
"Haben die Elben dieses Spiel nicht längst durchschaut, wenn ihr das schon seit mehreren Jahren spielt", mischte sich nun Ori ein.
"Das sollte man zumindest meinen", kicherte Naira. "Aber scheinbar sind Elben doch nicht so schlau wie sie immer tun..."
Die Zwerge lachten.
Thorin, der das ganze Schauspiel still mitangesehen hatte, lächelte leicht. Ganz genau so hatte Naira sich verhalten, als sie noch im Erebor gelebt hatten und sie noch seine beste Freundin gewesen war: Sie war immer fröhlich gewesen und hatte viel gelacht. Sie schien wie damals, doch Thorin kannte Naira gut genug, um zu wissen, dass die Fröhlichkeit bis zu einem gewissen Grad aufgesetzt war und, dass ihr Lachen nicht ihre Augen erreichte.
Während Naira lachte, ließ sie ihren Blick über die Gemeinschaft schweifen, bis er an Thorin hängen blieb. Dieser lächelte noch immer und schien nicht zu bemerken, dass sie ihn ansah. Nairas Lachen erstarb und wurde zu nicht mehr als einem sanften Lächeln, das ihre Augen zum Leuchten brachte.
Doch dann wurde sich Thorin der Situation bewusst, setzte einen grimmigen Gesichtsausdruck auf und wandte sich ab.
Nairas Lächeln schmolz dahin und auch sie drehte sich weg.

Der Tag verging wie im Fluge.
Naira verbrachte ihn zum größten Teil mit den Zwergen: Sie machte Späße mit ihnen und erzählte ihnen von den Streichen, die sie in Bruchtal gespielt hatte.
Erst gegen Abend verabschiedete sie sich.
Auf dem Weg zu ihrem Zimmer begegnete sie Thorin, der über dieses Treffen ganz und gar nicht begeistert schien.
Das Halbblut schob sich an dem Zwerg vorbei und tat, als hätte es ihn nicht gesehen, doch er hielt es am Handgelenk fest. Einen Augenblick lang schauten sie sich in die Augen und Naira glaubte für einen kurzen Moment den alten Thorin gesehen zu haben. Doch genauso schnell, wie er gekommen war, war der Augenblick wieder vorbei, sodass sie glaubte, sie habe sich getäuscht.
"Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf. Wenn du noch immer mitkommen willst, solltest du dich pünktlich einfinden", erklärte er, während er sie mit eisigen Blicken zu durchbohren schien.
Naira nickte und Thorin ließ sie los.
Er ging an ihr vorbei, den Gang hinunter.
Naira drehte sich zu ihm um.
"Thorin!", rief sie ihm nach.
Er blieb stehen, wandte sich jedoch nicht zu ihr um.
"Ich..." Naira wusste nicht mehr, was sie hatte sagen wollen.
"Willst du noch etwas oder kann ich gehen?", fragte Thorin nach einigen Minuten der Stille.
Naira sagte nichts und Thorin ging einige Schritte weiter, doch dann hörte er ganz leise ein "Es tut mir leid... Ich hoffe, eines Tages kannst du mir verzeihen, dass ich das tat, von dem ich glaubte, es sei das Richtige..."
Er blieb erneut stehen und drehte sich um. Er sah Naira an. Sie weinte und innerlich zerriss es ihn, dass er der Grund dafür war.
Als er nichts sagte, senkte sie kurz den Kopf, wischte sich über die Augen und setzte ein Lächeln auf.
Jeder, der sie nicht kannte, hätte geglaubt, es sei ein echtes Lächeln, wären da nicht die Tränen, die ihr noch immer über das Gesicht liefen.
Dann drehte sie sich um und floh beinah den Gang hinunter.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt