Kapitel 27

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Naira erwachte, weil sich in ihrer Nähe Personen stritten. Sie konnte nicht verstehen, was sie sagten, und sie war sich auch ziemlich sicher, dass sie es nicht wollte.
"So geht das jetzt schon seit Tagen", sprach eine Stimme neben ihr. "Seit dem Tag, an dem du eingeschlafen bist."
Naira kannte diese Stimme, doch es wollte ihr nicht einfallen, zu wem sie gehörte.
"Wir tun unser Bestes, damit sie sich nicht gegenseitig umbringen... Aber es reicht nicht..."
Das klang gar nicht gut. Und Naira kannte nur zwei Personen, bei denen man fürchten musste, dass es Tote geben würde, wenn sie sich stritten.
"Ich weiß, dass du Zeit zum Heilen brauchst, aber wir brauchen dich hier... Nicht einmal Kili und Fili oder Elros, Legolas und Tauriel trauen sich, dazwischen zu gehen..."
Es gab eine Pause.
"Ich weiß, ich habe dir versprochen, dass ich aufpassen würde, dass sie sich nicht die Köpfe einschlagen... Aber es ist mittlerweile so gut wie unmöglich..."
Nun wusste Naira, wem die Stimme gehörte.
"Wir alle vermissen dich, aber Thorin und Thranduil hat es am Meisten getroffen und sie lassen ihre Trauer an einander aus..."
Langsam öffnete Naira ihre Augen. Sie schaute an eine Decke aus Stein. Sie sah sich vorsichtig um. Sie kannte diesen Raum. Es war ihr Gemach gewesen, wann immer sie sich, vor so vielen Jahren, im Erebor aufgehalten hatte.
Neben ihrem Bett saß Bilbo.
"Wie schlimm ist es?", fragte sie leise.
Bilbo war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht bemerkte, dass sie aufgewacht war. Trotzdem antwortete er ihr.
"Schlimmer, als du denkst..."
Draußen war es einen Augenblick lang still, bevor die Streiterei noch lauter wurde.
"Ja, das höre ich", bestätigte sie.
Nun erst bemerkte Bilbo, was vor sich ging.
"Naira!", rief er und sprang auf.
Diese lachte, bevor sie hustete.
Bilbo goss ihr einen Becher Wasser ein und reichte ihn ihr.
"Nun denn", verkündete sie, nachdem sie ausgetrunken hatte. "Dann will ich mal den beiden Nervensägen die Köpfe zurechtrücken."
Sie schlug die Decke zurück.
"Vorher sollte ich aber etwas Vernünftiges anziehen", fügte sie mit Blick auf ihr Nachtgewand hinzu.
Bilbo nickte und deutete auf einen Stuhl, der sich auf der anderen Seite des Raumes befand.
"Tauriel hat es dir ausgesucht", erklärte er.
"Oje", war Nairas Reaktion.

Wie sich herausstellte, war das Kleid, das Tauriel für Naira herausgesucht hatte, nicht ganz so schlimm wie diese befürchtet hatte.
Es war vergleichsweise schlicht: Der königsblaue Samt fiel locker bis zum Boden, weshalb Naira den Rock würde raffen müssen, um vernünftig gehen zu können; es war mit Trompetenärmeln ausgestattet, die einen Schnitt an der Oberseite hatten und somit die hellblauen Flammen auf ihren Armen entblößten; der Ausschnitt war nicht tief, sondern endete knapp über ihrer Narbe; Verzierungen gab es nur einige subtile am Ausschnitt, an den Oberarmen und am Saum der Ärmel; dazu hatte es noch einen Gürtel aus runden Metallscheiben, der auf ihren Hüften saß und dessen Ende fast bis zum Boden fiel.
Auch der Reif, der sich um ihren Kopf legte, hätte extravaganter sein können: Er bestand aus verschiedenen, ineinander verschränkten Silberdrähten und auf der Stirn saß ein hellblauer Edelstein.
Als sie aus ihrem Badezimmer trat, verschlug es Bilbo den Atem.
Obwohl das Kleid schlicht war, sah Naira aus, als käme sie aus königlichem Hause und das lag nicht nur an dem Reif auf ihrem Haupt.
"Sehe ich so schlimm aus?", scherzte Naira lachend und drehte sich um ihre eigene Achse.
"Nein", beeilte sich der Hobbit zu sagen. "Im Gegenteil..."
Naira legte ihm eine Hand auf die Schulter.
"Das war ein Witz, Bilbo", beruhigte sie lächelnd.
Draußen vor der Tür wurde der Streit wieder lauter.
Das Halbblut verdrehte die Augen.
"Das kann man sich ja nicht mit anhören", behauptete es genervt und riss die Tür auf.
"Seid ruhig!", brüllte es wütend. "Das ist ja nicht zum Aushalten!"
Die beiden Streithähne, Thorin und Thranduil, waren sofort still und starrten die junge Frau an. Dann, als ihnen klar wurde, wer vor ihnen stand, wollten beide gleichzeitig zu ihr, um sie zu umarmen. Und prompt ging die Zankerei wieder los, denn beide wollten der Erste sein.
Doch die machte kurzen Prozess: Sie machte einen Schritt nach vorne und verpasste beiden Männern eine Ohrfeige.
Jetzt schauten sie sie blöd an.
"Haltet doch endlich eure Klappen", zischte Naira böse. "Ich habe wer weiß wie lang geschlafen und hatte gehofft, dass ihr euch so lange zusammenreißen könntet. Ich bin aufgewacht und was ist das Erste, was ich gehört habe? Euch beide, weil ihr euch gegenseitig anschreien musstet, wie zwei arrogante Weiber, die jede die Schönste sein wollen."
Wenigstens hatten Thorin und Thranduil den Anstand, etwas beschämt zu Boden zu schauen.
"So etwas will ich nicht erleben, wenn ich aufwache. Ich verstehe, dass ihr mich vermisst habt und Angst um mich hattet, aber das braucht ihr nicht aneinander auslassen. Habt ihr mich verstanden?"
Thranduil wollte den Mund öffnen, doch als hätte Naira gewusst, was er sagen wollte, unterbrach sie ihn: "Ich will nicht wissen, wer angefangen hat. Ich beende es."
Sie ging mit Bilbo an ihnen vorbei, blieb jedoch noch einmal kurz stehen.
"Ich bin wirklich enttäuscht von euch. Ihr seid erwachsene Männer, sogar Könige... Benehmt euch gefälligst so..."
Dann ließ sie sich von Bilbo den Weg zu den anderen Zwergen weisen.
Auf dem Weg kamen sie an sehr vielen Menschen vorbei.
"Thorin hat den Menschen gestattet, so lange bei uns im Berg zu leben, bis Thal wieder aufgebaut ist", erklärte der Hobbit. "Und der Aufbau geht gut voran: Elben, Menschen und Zwerge arbeiten Seite an Seite."
Naira lächelte.
"Ich hätte nie gedacht, dass der Tag kommen würde", gab sie zu.
"Die Angst um dich hat uns alle zusammengebracht", erklärte eine Stimme hinter ihnen.
"Balin!", rief Naira erleichtert. "Ich fürchtete bereits, dass du es nicht schaffen würdest, nachdem wir dich auf dem Fluss zurückließen."
Der alte Zwerg lächelte.
"Ich bin zu alt, um mich von ein paar Wargen umbringen zu lassen", behauptete er, während Naira lachte und ihn in eine Umarmung schloss.
Sie standen nun vor dem Tor des Erebors und schauten auf Thal. Die Stadt erstrahlte schon fast wieder in ihrem alten Glanz.
"Wie viel hat sich verändert, während ich geschlafen habe?", fragte Naira vorsichtig, als fürchte sie sich vor der Antwort.
"Einiges", antwortete Tauriel, die gerade ankam. "Du hast immerhin fast einen Mond lang geschlafen."
Naira schnappte entsetzt nach Luft.
"Doch so lange? Was habt ihr denn in der Zeit gemacht? Ihr müsst ohne mich verloren gewesen sein", scherzte sie, doch in ihrer Stimme war einiges an Schmerz zu erkennen.
Tauriel legte ihren Arm um Nairas Schultern und führte sie von Bilbo und Balin fort, auf die Stadt zu.
"Wir haben die Toten beerdigt", begann sie zu erzählen. "Wir hätten gewartet, bis du wieder wach warst, aber da wir nicht wussten, wann du wieder aufwachen würdest..."
Sie ließ den Satz unbeendet.
"Ich verstehe schon", beruhigte Naira sie.
Dann stellte sie eine Frage, vor deren Antwort sie sich mehr fürchtete als vor irgendetwas anderem: "Wie viele haben wir verloren und wen?" 
Tauriel blieb einen Augenblick lang still, bevor sie antwortete: "Zu viele. Zwerge, Menschen, Elben... Aber niemanden, den du besser kennen würdest."
Naira atmete erleichtert auf, fühlte sich jedoch sofort schlecht. Sie hatte vielleicht niemanden verloren, aber andere hatten nicht so viel Glück gehabt.
"Was hat sich sonst noch ereignet?"
"Wir haben mit dem Wiederaufbau Thals begonnen", zählte sie auf. "Die Zwerge haben eine Nachricht an ihre Verwandten in den Ered Luin geschickt, dass sie heim kommen können..."
"Und da ist noch etwas, das du mir nicht erzählen willst", bohrte Naira.
Tauriel seufzte.
"Manchmal vergesse ich, dass du auch Elbenblut in dir hast...", bekannte sie, ehe sie dem Halbblut eröffnete: "Legolas ist nach Norden gegangen, um die Dúnedain zu suchen."
Naira wandte ihren Blick von ihrer Freundin ab.
"Wieso hat er nicht Auf Wiedersehen gesagt?", fragte sie traurig.
"Thranduil meinte, es wäre besser, wenn er sofort aufbräche..."
"Natürlich...", Naira lachte freudlos. "Immer ist Thranduil an allem schuld..."

Als sie die Stadt erreichten, stockte Naira der Atem.
"Es sieht aus wie damals...", flüsterte sie andächtig.
"So war es beabsichtigt, Tantchen."
Zwei junge Zwerge kamen auf Tauriel und Naira zu.
"Kili! Fili!", freute sich das Halbblut und zog die Beiden in eine Umarmung.
Kili löste sich von ihm, während Fili noch immer einen Arm um es gelegt hielt. Der braunhaarige Zwerg drückte Tauriel einen Kuss auf die Lippen, wobei er sich sehr strecken und Tauriel sich herunterbeugen musste.
Fili und Naira grinsten.
"Nun denn", hakte die junge Frau nach. "Gibt es noch mehr, von dem ich wissen sollte?"
Ein freches Grinsen der Brüder war die Antwort.
"Mutter!", riefen sie und eine Zwergin kam auf sie zu gelaufen.
"Dís...", flüsterte Naira und machte sich von Fili los.
"Naira", antwortete die Zwergin.
Dann fielen sich die beiden Frauen in die Arme.
"Ich sollte dich schlagen, weil du dich nie hast blicken lassen", schimpfte Dís.
Naira blickte zu Boden.
"Ich fürchtete, du würdest mich hassen, weil ich euch verlassen hatte", erklärte sie leise.
Dís schnaubte.
"Du vergisst, dass ich nicht mein Bruder bin", erwiderte sie. "Ich weiß, warum du es getan hast..."
Naira schaute sie hoffnungsvoll an.
"Du glaubtest, du würdest uns beschützen..."
Das Halbblut nickte.
Die Zwergin lächelte.
"Lass uns die Stadt erkunden. Wie in alten Zeiten, nur wir beide", schlug sie vor.
Mit einem Lächeln stimmte Naira zu und die beiden Frauen gingen Arm in Arm davon.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt