Kapitel 10

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Der Weg durch den Wald war lang. 
Naira fühlte sich unglaublich unwohl. Nicht zuletzt, weil sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Sie summte ein wenig vor sich hin, um sich abzulenken, doch es funktionierte nicht.
"Der Weg geht hier weiter!", rief Thorin von vorne.
Und noch ein Grund, warum Nairas Laune nicht sonderlich erbaulich war, war dass, obwohl Gandalf gesagt hatte, dass sie die Gemeinschaft durch den Wald führen sollte, sie in der Mitte gelandet war, weil Thorin und Dwalin alles besser wussten und an jeder ihrer Anweisungen herumgemäkelt hatten.
Schließlich hatte sie die Nase voll gehabt und den beiden Besserwissern gesagt, sie sollten selbst die Führung übernehmen, wenn sie den Weg und den Wald so gut kannten. Sie hatte gehofft, dass sie dann endlich den Mund halten und sie machen lassen würden. Leider hatte ihr Ausbruch nicht ganz die gewünschte Wirkung gehabt.
Natürlich nicht, schimpfte sie in Gedanken. Thorin würde niemals zurückstecken und zugeben, dass er im Unrecht ist. Und Dwalin ist nicht viel besser.
Hinzu kam die Luft, diese furchtbar schwere, stehende Luft. Das Halbblut hatte das Gefühl an dieser Luft zu ersticken. Es wünschte sich den Wald ihrer Kindheit zurück.
Sie gingen immer weiter in den Wald hinein, dem Weg folgend. Je weiter sie gingen, desto mehr beschwerten sich auch die Zwerge über die Luft und darüber, dass die Welt sich zu drehen schien.
Endlich verkündete Kili, sie hätten die Brücke gefunden.
Doch die Freude verwandelte sich schnell in Enttäuschung, als sie erkennen mussten, dass die Brücke offensichtlich lange nicht mehr benutzt worden war. Nicht, dass irgendjemand sie hätte benutzen können. Sie war nämlich zerstört worden - ob mit Absicht durch Waffengewalt oder mit der Zeit durch mangelnde Instandhaltung ließ sich nicht sagen.
"Wir könnten hinüberschwimmen", schlug Bofur vor.
Naira schüttelte heftig den Kopf und auch Thorin widersprach ihm: "Hast du nicht gehört, was Gandalf gesagt hat? Dunkle Magie liegt auf diesem Wald. Das Wasser dieses Flusses verwunschen."
"Sieht mir nicht sehr verwunschen aus", kommentierte Bofur.
Naira quetschte sich nach vorne durch und keifte: "Ihr bleibt dem Wasser fern oder, so Mahal mir helfe, werde ich dafür sorgen, dass ihr in eurem ganzen Leben keine Pfütze mehr anrührt!"
Thorin nickte zustimmend und ordnete an: "Wir müssen einen anderen Weg hinüber finden."
"Diese Ranken sehen stark genug aus", befand Kili und wollte an einer hinaufklettern, wurde jedoch aufgehalten.
"Kili!", warnte Thorin.
"Kommst du da weg!", zischte Naira.
"Wir schicken die Leichteste zuerst", fügte Thorin hinzu.
Dann lagen aller Augen auf dem Halbblut.
"Tut mir leid", erwiderte dieses. "Ich bin nicht so leicht wie meine elbischen Vorfahren. Ihr müsst euch jemand anderen suchen."
Und sofort schauten alle Bilbo an und Naira wünschte sich, sie wäre doch so leicht wie andere Elben. Sie wollte nicht, dass der Hobbit zuerst gehen musste. Sie wussten nicht, ob die Ranken halten würden und selbst, wenn sie das täten, gab es nichts, was ihnen sagen könnte, was auf der anderen Seite wartete. Und ausgerechnet Bilbo war derjenige, der die wenigste Erfahrung im Kampf hatte.
Doch Bilbo schaffte es auf die andere Seite, ohne zu fallen, ohne, dass die Ranken nachgaben oder rissen, obwohl es zwischenzeitlich anders aussah und es kam auch kein Angreifer aus dem Gebüsch gesprungen.
Also begann auch der Rest der Gemeinschaft damit, über die Ranken zu klettern und als Bilbo ihnen trotz aller guten Zeichen empfahl, zu bleiben, wo sie waren, war es bereits zu spät.

Naira kam kurz nach Thorin auf der anderen Seite des Flusses an.
Sie sah sich um. Sie bekam ein noch mieseres Gefühl als vorher. Gerade, als sie Thorin empfehlen wollte, dass sie vielleicht doch wieder umdrehen sollten, kam aus dem Unterholz ein weißer Hirsch angelaufen.
Während Naira respektvoll ihren rechten Unterarm über ihre Brust legte und den Kopf neigte, spannte Thorin seinen Bogen.
Der Hirsch neigte ebenfalls den Kopf, was Naira als Zeichen nahm, dass sie sich nähern durfte. Sie hatte noch nicht einmal einen Schritt gemacht, als Thorins Pfeil an ihr vorbeischoss. Er verfehlte den Hirsch zwar und das Tier galoppierte ins Unterholz zurück, aber entsetzt war sie trotzdem.
Mit vor Wut funkelnden Augen drehte sie sich zu ihrem besten Freund um.
"Was sollte das denn?", zischte sie.
Auch Bilbo erklärte resigniert: "Das hättest du nicht tun sollen. Das bringt Unglück."
"Ich glaube nicht an Glück", antwortete Thorin und erwiderte Nairas Blick mit seiner üblichen Sturheit. "Wir machen unser eigenes Glück."
In diesem Augenblick kippte Bombur, der bei seiner Kletterpartie eingeschlafen war, in den Fluss.
"Möchtest du das noch einmal wiederholen?", fragte Naira etwas schadenfroher, als sie hätte sein sollen.
Der Ausdruck auf Thorins Gesicht war eine Mischung aus Überraschung, Entsetzen und Ärger.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt