Kapitel 24

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Naira ging durch die Flure, die sie seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte.
Sie hatte geglaubt, dass sich alles verändert haben würde, doch das war nicht der Fall.
Den Weg zur Ahnenhalle fand sie fast blind und wie Dwalin gesagt hatte, fand sie dort auch den kranken König.
Er stand in der Mitte der Halle, deren Boden tatsächlich mit Gold überzogen war, und sah ganz und gar nicht gut aus. Es schien, als trüge er einen Kampf mit sich selbst aus.
"Thorin?", fragte sie vorsichtig.
Er schaute in ihre Richtung, doch es schien ihr, als schaue er durch sie hindurch.
"Ich bin nicht mein Großvater...", erklärte er mit gebrochener Stimme.
"Ich weiß", antwortete Naira sanft. "Nur, weil dein Großvater der Drachenkrankheit nicht widerstehen konnte, bedeutet das nicht, dass du es nicht kannst."
"Ich bin nicht mein Großvater...", wiederholte Thorin.
"Kämpfe dagegen an, Thorin. Ich weiß, dass du es kannst."
Mit jedem Wort trat sie näher an ihn heran.
"Du bist noch nicht verloren... Gib dich nicht selbst auf... Gib mich nicht auf..."
Bald stand sie direkt vor ihm.
"Ich bin nicht mein Großvater..."
"Es gibt noch immer Leute, die dich lieben: deine Schwester, deine Neffen, dein Volk...mich..."
Thorin schaute sie an und sein Blick wurde klarer.
Naira fasste Hoffnung.
"Thorin, ich flehe dich an, gib jetzt nicht auf. Wir brauchen dich. Ich brauche dich, ich kann dich nicht verlieren."
"Ich bin nicht mein Großvater..."
"Nein, Thorin, du bist nicht dein Großvater. Er hat aufgegeben, aber aufgeben liegt nicht in deiner Natur. Du musst kämpfen. Für deine Schwester. Für Kili und Fili. Für die Gemeinschaft. Für dein Volk. Für mich... Ich kann dich nicht verlieren..."
Naira holte tief Luft. Wenn sie jetzt sagte, was sie sagen wollte, würde es kein Zurück mehr geben.
"Thorin...", begann sie leise und schloss die Augen. "Ich liebe dich..."
Im nächsten Augenblick hörte sie ein Klappern und sie öffnete die Augen.
Vor ihr stand noch immer Thorin. Doch nun war sein Blick klar und er hatte die Krone nicht mehr auf dem Kopf. Sie lag jetzt einige Meter entfernt auf dem Boden.
"Naira", flüsterte Thorin leise, als könne er nicht glauben, wen er vor sich sah.
"Thorin", hauchte Naira und lachte erleichtert.
Der Zwerg schloss sie in seine Arme.
"Verzeih mir", bat er sie und hielt sie auf Armlänge von sich. "Ich weiß, ich habe kein Recht, um deine Verzeihung zu bitten, aber ich bereue alles, was ich dir angetan und gesagt habe. Ich war nicht ich selbst."
"Das weiß ich doch", erwiderte das Halbblut. "Und ich verzeihe dir."
Thorin atmete erleichtert auf.
"Ich liebe dich", flüsterte er und zog sie wieder an sich.
Naira stockte.
Das waren sie. Die Worte, die sie schon so lange von ihm hatte hören wollte.
"Und ich liebe dich", antwortete sie.
Thorins Blick zeigte puren Unglauben.
"Was?"
"Hast du mir nicht zugehört? Ich sage dir das jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten", meinte sie lachend.
Doch sie hatte nicht mehr viel Zeit zum Lachen, denn der Zwergenkönig drückte seine Lippen auf ihre und schnitt ihr damit das Wort ab.
"Bedeutet das, dass ich kein verfluchtes Drachen-Halbblut mehr bin?", fragte Naira, als Thorin sich wieder von ihr löste.
"Das warst du nie", entgegnete Thorin. "Ich war nur zu blind, um es zu sehen."
"Wie schön", freute sie sich. "Dann meine ich, dass du mal deine Rüstung ablegen solltest, die ist nämlich etwas unpraktisch zum Kämpfen. Und wie du weißt, sitzen unsere Verwandten ein wenig in der Klemme."

Nachdem Thorin den schweren Mantel und die noch schwerere Rüstung losgeworden war, machten er und Naira sich auf den Weg zum Tor.
Naira ging vor.
Als sie bei dem Zwergen ankam, setzte sie eine traurige und enttäuschte Miene auf und der hoffnungsvolle Ausdruck, mit dem die Zwerge sie empfangen hatten, verschwand von ihren Gesichtern.
Dann breitete sich ein Lächeln auf Nairas Lippen aus und sie trat beiseite, um den König vorbeigehen zu lassen.
Mit seinem Schwert in der Hand, trat er auf die Gemeinschaft zu.
Jeder konnte die Veränderung in ihm sehen.
Trotzdem wählte Kili genau diesen Augenblick, um Thorin die Meinung zu sagen.
Er stand auf und ging auf ihn zu.
"Ich werde mich nicht hinter einer Wand aus Steinen verstecken, während andere für uns in die Schlacht ziehen!", rief er aus.
Ruhiger und mit leicht brechender Stimme fügte er hinzu: "Das liegt nicht in meinem Blut, Thorin..."
Onkel und Neffe blieben vor einander stehen.
"Nein", bestätigte Thorin, während sich Tränen in Kilis Augen sammelten. "Wahrlich nicht... Wir sind Söhne Durins und Durins Volk flieht vor keinem Kampf."
Thorin lehnte seine Stirn gegen Kilis.
Dann wandte er sich an die anderen Zwerge.
Naira stellte sich neben Kili.
"Danke, Tantchen", sagte dieser leise.
Naira lächelte und antwortete: "Über den Tantchen-Teil reden wir nochmal. Aber zuerst wollen ein paar Orks vernichtet werden."
"Ich habe kein Recht, dies von euch zu verlangen", meinte Thorin. "Aber werdet ihr mir folgen? Ein letztes Mal?"
Die anderen Zwerge schauten einander an, ehe die, die saßen, sich erhoben und alle ihre Waffen vom Boden aufhoben.
Naira lächelte und trat neben Thorin.
"Dann erleichtert mal eure Rüstungen und denkt euch aus, wie wir diesen Wall einreißen können", verkündete sie voller Tatendrang.

Die Zwerge hatten einen Teil ihrer Rüstungen abgelegt und nun wurde beraten, wie man das Tor einreißen könnte.
Dwalin hatte vorgeschlagen, dass Naira sich als Drache dagegen werfen sollte. Doch das hatten sie schnell wieder verworfen, nachdem diese ihnen gesagt hatte, dass sie sich dabei einen Flügel brechen und somit vollkommen unbrauchbar sein würde. Wer weiß schon, ob ein Drache in dieser Schlacht nicht doch noch ganz hilfreich sein könnte.
Naira leitete die Debatte und Balin und Thorin standen daneben, grinsten und warteten darauf, dass jemand die große, goldene Glocke entdeckte, die über ihnen hing.
Endlich meinte Gloin, der Thorins Blick nach oben verfolgt hatte: "Wir könnten auch einfach die Glocke da oben benutzen..."
Aller Blicke richteten sich an die Decke.
"Gute Idee", befand Naira zufrieden und mit Blick auf die alten Zwerge fügte sie hinzu: "Ihr hättet auch eher sagen können, dass das Ding da noch hängt."
Thorin und Balin grinsten nur dämlich.
"Nun denn", beschloss das Halbblut. "Ich mache die Glocke los, sobald das Horn ertönt."
"Und wer bläst das Horn?", fragte Bombur.
"Immer der, der fragt", kam es sofort zurück. "Na los."
"Ja, meine Königin", antwortete der dicke Zwerg und verschwand.
Naira stöhnte frustriert.
"Geht das schon wieder los..."
Thorin lachte.
"Du hast dir den Titel jedenfalls verdient", behauptete er.
"Darüber unterhalten wir uns noch einmal", entgegnete Naira und ließ ihre Hand entflammen, um gleich das Seil zu durchtrennen, das die Glocke zurück hielt.
Von draußen ertönte das Angriffshorn der Orks.
"Komm schon, Bombur", drängte Naira leise und im gleichen Augenblick erklang das Horn des Erebors.
Naira warf einen Feuerball auf das Seil. Die Glocke kam von der Decke geschnellt und schwang an ihrer Kette auf das Tor zu. Mit einem tiefen, durchdringenden Gong!, durchbrach sie den Wall und riss ihn ein.
Die herunterfallenden Steine bildeten eine Brücke über das Wasser vor dem Tor.
Und aus dem Berg rannten die Zwerge und Naira: Thorin und das Halbblut an der Spitze, dahinter Kili und Fili und hinter ihnen der Rest der Gemeinschaft.
Die Orks blieben verblüfft stehen, während die Zwerge der Eisenberge, die sich vor den Berg zurückgezogen hatten, der Gemeinschaft Platz machten.
"Für den König und die Königin!", brüllte Dain. "Für den König und die Königin!"
"Du Bekâr!", brüllten Thorin und Naira gleichzeitig und die Zwerge stimmten in ihr Kriegsgebrüll mit ein.
Zusammen führten Thorin Eichenschild und Naira Flammenherz die Zwerge in die Schlacht.

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Übersetzungen
Du Bekâr! - Zu den Waffen!


Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt