Prolog

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Ein junges Elbenmädchen lief hinter einem kleinen Zwerg den Abhang des Erebors hinunter.
"Du fängst mich nie!", rief der Zwerg über seine Schulter, als das Mädchen sich hinter ihm zurückfallen ließ.
Natürlich hätte sie ihn einfach bekommen, doch sie wollte ihm seine Freude lassen.
Etwas oberhalb standen der Großvater des Zwergs und die Mutter des Mädchens und unterhielten sich leise.
"Ich danke Euch, dass meine Tochter eine Zeit lang hier leben darf", sagte die Mutter.
"Ihr braucht mir nicht danken", entgegnete der Zwerg. "Ihr Vater stammte aus meinem Haus. Es ist mir eine Ehre seine Tochter bei mir zu haben. Und mein Enkel freut sich jedes Mal, wenn sie hier ist. Allein, um ihm diese Freude zu machen, würde ich sie jederzeit hier beherbergen."
Die Elbenfrau lächelte sanft und neigte respektvoll den Kopf.
"Dennoch", antwortete sie, "ich danke Euch, dass ihr uns diese Toleranz entgegenbringt, wo Ihr doch von Elben nicht allzu angetan seid. Diese Toleranz fehlt vielen."
Die Anspielung auf dem Elbenkönig des Waldlandreiches entging dem Zwerg nicht. Trotzdem sagte er nichts dazu.

Einige Jahre später saß eine junge Elbenfrau, die nunmehr 200 Jahre zählte, auf einem Felsen vor dem Erebor.
Als sie Schritte vernahm, die sich ihr näherten, wischte sie sich schnell über das Gesicht.
Ein junger Zwerg setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie.
"Es ist in Ordnung zu weinen", sagte er leise und zog sie an sich.
Diese schniefte und schaute ihn mit geröteten Augen an.
"Es ist nur...", begann sie, wurde jedoch von einem heftigen Schluchzen unterbrochen.
Der Zwerg fuhr ihr mit der Hand sanft durch das flammenrote Haar.
Als die Elbenfrau sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder sprechen konnte, erklärte sie: "Mutter weilt nun schon seit Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Aber bisher schien es mir so unwirklich..."
Wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht.
"Aber das ist noch nicht alles, nicht wahr?", fragte der Zwerg vorsichtig.
Die Elbenfrau schüttelte den Kopf, sagte jedoch nichts.
"Wenn du mit jemandem reden möchtest... Ich bin für dich da..."
Sie nickte, sagte jedoch noch immer nichts.
Wissend, dass er nichts aus ihr herausbekommen würde, schlug er vor: "Möchtest du vielleicht mit meiner Schwester reden?"
"Nichts für ungut, aber deine Schwester ist nicht meine Mutter."
Trotzdem nahm die Elbenfrau das Angebot an und wenig später saß sie neben der Schwester ihres besten Freundes.
Der Zwerg selbst war von seiner Schwester aus dem Zimmer geschickt worden, damit die Frauen sich in Ruhe unterhalten konnten.
"Ich weiß, ich bin nicht deine Mutter", begann die Zwergin vorsichtig. "Aber ich habe einen Bruder, der sich gern bei mir ausheult."
Die Elbenfrau lachte.
Dann atmete sie tief durch und antwortete: "Bevor meine Mutter starb, sagte sie mir, dass ich keine ganze Elbenfrau bin. Ich bin zur Hälfte eine Zwergin..."
"Ist das so beklagenswert?", fragte die Zwergin. "Du verbringst doch den Großteil deiner Zeit hier und nicht im Waldlandreich."
"Nein", antwortete das Halbblut. "Den Fakt an sich finde ich nicht beklagenswert, sondern eher, dass Mutter es mir nicht eher gesagt hat..."
"Hätte es einen Unterschied gemacht?"
"Wie meinst du das?"
"Wärst du weniger enttäuscht gewesen, wenn sie es dir eher gesagt hätte?"
Diese Frage brachte die Elbenfrau zum Nachdenken.
"Nein", meinte sie schließlich und die Zwergin lehnte sich zufrieden zurück. "Aber ich hätte sie fragen können, warum sie es mir vorenthalten hat."
Die Zwergin beschloss, dieses Thema auf sich beruhen zu lassen.
"Gibt es sonst noch etwas, worüber du gerne sprechen würdest?", fragte sie stattdessen.
Sie sah, dass die Elbenfrau mit sich rang.
"In Ordnung, raus damit", befahl sie. "Es wird dir besser gehen, wenn du es laut aussprichst."
Die Elbenfrau nickte langsam. Dann stand sie auf und ging zur Tür.
"Wo willst du hin?", fragte die Zwergin.
Die Elbenfrau grinste jedoch nur böse und riss die Tür auf.
Ein lauter Fluch in der Sprache der Zwerge war zu hören und der Zwerg landete auf dem Fußboden. 
"Bruder, Abmarsch", befahl die Zwergin. "Ich bin mir sicher, dass Großvater etwas für dich zu tun hat."
Grummelnd machte sich der Zwerg aus dem Staub.
Seine Schwester schloss die Tür und wandte sich wieder der Elbenfrau zu.
"Aber du darfst deinem Bruder nichts davon erzählen", bat diese.
Die Zwergin versprach es und die Elbenfrau fügte hinzu: "Ich habe mich in deinen Bruder verliebt..."

Die Elbenfrau saß im Sattel ihres Pferdes.
"Und du kannst wirklich nicht länger bleiben?", fragte ihr bester Freund.
"Der König braucht mich. Er würde mich umbringen, wenn ich nicht käme", antwortete sie.
"Er ist aber nicht nur dein König, sondern auch ein Freund deiner Mutter."
"In diesem Fall ist er mein König und er behandelt alle gleich: Wenn ich seine Befehle verweigere, macht er mich einen Kopf kürzer, genau wie alle anderen auch. Er würde auch seinen Sohn enthaupten lassen, wenn er es müsste."
Der Zwerg schaute sie entsetzt an.
Die Elbenfrau nickte.
"So ist es bedauerlicherweise. Nach dem Tod seiner Frau ist er so...kalt geworden", meinte sie.
"Pass auf dich auf", bat der Zwerg. "Und verlieb' dich nicht unterwegs in einen Elben, du weißt, wie das ausgehen wird..."
"Ich hasse dich", behauptete die Elbenfrau trocken.
"Nein, tust du nicht", hielt der Zwerg dagegen. "Du liebst mich."
"Das tue ich...", antwortete die Elbenfrau und gab ihrem Pferd die Sporen, bevor ihr bester Freund etwas erwidern konnte.
Dass dies die letzten Worte sein sollten, die sie für eine lange Zeit miteinander sprechen würden, wussten beide nicht...

"Werden wir ihnen nicht helfen?", fragte die Elbenfrau ihren König entsetzt.
"Ich werde mein Volk nicht dem Zorn des Drachen aussetzen", antwortete der König eisig.
"Selbst wenn Ihr ihnen nicht helfen werdet, so werde ich es tun", widersprach sie trotzig.
"Als dein König verbiete ich es dir."
Der König wendete seinen Elch.
Die Elbenfrau zögerte.
"Verzeih mir...", flüsterte sie, bevor sie ihr Pferd wendete und ihrem König folgte.

Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt