Kapitel 21

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Am folgenden Morgen wurden zwei Pferde und ein Elch fertiggemacht.
Dann marschierte das ganze Elbenheer, mit den ebenfalls bewaffneten Menschen in der Mitte, zum Berg.
Dort ging es in Stellung.
Wenig später erschienen die Zwerge auf dem Wehrgang über dem Tor.
Thranduil, Bard und Naira ritten auf ihren Tieren durch die Reihen der Elben, die sich hinter ihnen wieder schlossen.
Oben, auf dem Wehrgang erhob Thorin einen Bogen und schoss einen Pfeil vor die Hufe von Thranduils Elch.
Bard und Naira schauten erschrocken erst auf den Pfeil und dann auf den Zwergenkönig, der tatsächlich auch seine Krone trug.
Thranduil sah einerseits gelangweilt, andererseits auch ein wenig erschüttert aus.
Er hatte nicht unbedingt mit einem freundlichen Empfang gerechnet, aber einen Pfeil hatte er auch nicht erwartet.
"Der nächste trifft Euch zwischen die Augen", verkündete Thorin und die Zwerge johlten.
Thranduil lächelte spöttisch.
Ermutigt durch den Zuspruch, fügte der Zwerg hinzu: "Und dann erledige ich Euer verfluchtes Drachenhalbblut."
Das hatte nicht ganz den gewünschten Effekt, denn nun bleib es still. Sogar die Zwerge schauten nun entsetzt auf ihren Anführer.
Nur Naira war um keine Antwort verlegen.
"Das kannst du gern versuchen!", rief sie grinsend zu ihrem ehemaligen besten Freund hinauf. "Allerdings lebst du danach auch nicht mehr lange!"
Thorin schien die Herausforderung anzunehmen, denn er spannte seinen Bogen erneut.
Der Elbenkönig auf seinem Elch ließ sein spöttisches Lächeln verschwinden und senkte kaum merklich den Kopf. Wie auf Knopfdruck hoben die elbischen Bogenschützen ihre Bögen und spannten sie.
Nairas Fäuste rauchten ein wenig und sie ließ Valavars Zügel los, um sie zu heben.
Die Zwerge gingen in Deckung. Nur Thorin stand noch immer mit seinem gespannten Bogen auf dem Wehrgang und schaute trotzig auf seine Belagerer hinunter.
Bard und Naira sahen Thranduil an.
Naira wartete auf das Kommando zum Angriff. Eigentlich wollte sie keinen der Zwerge verletzen, aber Thorin war, ausnahmsweise, eine Ausnahme.
Bard hingegen sah den Elbenkönig eher bittend an. Seiner Meinung nach hatte es genug Blutvergießen gegeben. Außerdem hatten sie ja noch ein Ass im Ärmel, oder eher den Arkenstein im Mantel.
Thranduil hob die Hand und die Bogenschützen steckten ihre Pfeile zurück in ihre Köcher und senkten die Bögen.
Naira seufzte enttäuscht, ließ ihre Fäuste erlöschen und legte ihre Hände vor sich auf dem Sattel ab.
Thorin jedoch hatte seinen gespannten Bogen noch immer erhoben.
"Wir sind gekommen, um Euch zu sagen, dass die Begleichung Eurer Schuld angeboten und angenommen wurde", verkündete Thranduil nüchtern.
"Welche Begleichung?", fragte Thorin. "Ich habe Euch nichts gegeben. Ihr habt nichts."
Naira kicherte. Ihr machte die Geschichte gerade unglaublich viel Spaß. Sie freute sich darauf, das Entsetzen in des Zwergen Augen zu sehen.
Ihr Blick, wie auch der Thranduils, wanderte zu Bard, der in seinem Mantel kramte und den Arkenstein hervorzog.
"Wir haben dies!", entgegnete der Bogenschütze und hob den Stein.
Nun endlich senkte Thorin den Bogen und schaute sogar entsetzter, als Naira es sich hätte vorstellen können.
"Sie haben den Arkenstein", keuchte Kili, bevor er laut rief: "Diebe! Wie kommt das Erbstück unseres Hauses in Eure Hände? Der Stein gehört dem König!"
Nein, Kili, du nicht auch, stöhnte Naira in Gedanken unglücklich.
"Und der König soll ihn bekommen", antwortete Bard unbeschwert. "Mit unserem Wohlwollen."
Er warf den Stein in die Luft, fing ihn wieder auf und steckte ihn zurück in seinen Mantel.
Naira übernahm und fügte streng hinzu: "Aber zuerst muss er zu seinem Wort stehen. Schließlich beschuldigt er so gerne andere Leute, dass sie ihr Wort ihm gegenüber brächen. Jetzt hat er die Gelegenheit, es besser zu machen."
Thorin versuchte verzweifelt, eine Antwort zu finden. Und die Einfachste war, seiner Meinung nach, dass der Stein eine Fälschung sei. Und das sagte er auch laut und deutlich.
"Der Arkenstein liegt in diesem Berg versteckt! Es ist eine Täuschung!", brüllte er.
Und dann geschah etwas, von dem Naira wünschte, es wäre nicht geschehen.
"Nein, das ist keine Täuschung", widersprach Bilbo, der in diesem Augenblick auf dem Wehrgang auftauchte. "Der Stein ist echt."
Und nach einer kleinen Pause, in der er Blickkontakt zu Naira aufnahm, die wie eine Verrückte den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: "Ich habe ihn ihnen gegeben."
"Nein, Bilbo", flüsterte Naira entsetzt. "Was hast du getan..."
"Das ist nicht wahr!", schrie sie und sprang von Valavars Rücken. "Ich bin letzte Nacht in den Berg geschlichen und habe ihn gestohlen! Bilbo hatte nichts damit zu schaffen!"
"Naira, hör auf", bat der Hobbit sie. "Ich weiß zu schätzen, dass du mich schützen willst, aber Lügen wird nichts bewirken."
Naira sah ängstlich zu, während Thorin auf Bilbo zuging.
Auch Thranduil und Bard waren entsetzt und fürchteten um den Halbling.
"Du?", fragte der Zwergenkönig enttäuscht.
"Ich habe ihn als meinen vierzehnten Teil genommen", antwortete Bilbo.
"Du hast ihn mir gestohlen?", Thorin schien ehrlich erschüttert darüber, dass Bilbo ihn betrügen würde.
Bilbo hingegen lachte ungläubig.
"Dir gestohlen?", fragte er. "Nein. Mag sein, dass ich ein Dieb bin, aber ich denke gern, dass ich ein ehrlicher Dieb bin."
"Ich bin bereit, dafür auf meine Ansprüche zu verzichten", fügte er hinzu und schaute sich unter den Zwergen um.
"Bilbo, halt den Mund", flehte Naira leise. "Du machst ihn nur noch wütender..."
"Auf deine Ansprüche?", wiederholte Thorin. "Deine Ansprüche. Du hast keine Ansprüche an mich, du elender Wurm."
Er trat auf Bilbo zu. Wenn nicht sein Ton seine Wut zeigte, dann die Art seines Ganges.
"Ich wollte ihn dir schon geben", räumte der Hobbit ein. "Viele Male wollte ich es, aber..."
"Aber was, du Dieb?", zischte Thorin.
"Du hast dich verändert, Thorin!", rief Bilbo verzweifelt aus. "Der Zwerg, den ich in Beutelsend kennenlernte, hätte sein Wort niemals gebrochen! Hätte niemals an der Treue der Seinen gezweifelt!"
Der Zwerg schäumte nun noch mehr vor Wut.
"Du sprichst nicht zu mir von Treue!", brüllte er, während sich Tränen der Wut und der Enttäuschung in seinen Augen sammelten.
Er schaute sich um und befahl: "Werft ihn den Wall hinunter!"
Doch keiner der Zwerge rührte sich. Sie waren zu geschockt. Davon abgesehen, hatten sie alle den Hobbit liebgewonnen und wollten ihn nicht verletzen.
Unten vor dem Tor hatte Naira entsetzt aufgekeucht. Nun fasste sie einen Entschluss: Sollte es tatsächlich dazu kommen, dass Bilbo fallen würde, würde sie ihre Deckung aufgeben. Nicht, dass noch viel von dieser Deckung übrig war, Thorin hatte ziemlich laut verkündet, was sie war, aber für Bilbo würde sie in Kauf nehmen, von den Elben abgeschossen zu werden.
Thorin wollte Fili dazu zwingen, Bilbo vom Wall zu werfen, doch dieser wehrte sich und da auch die anderen sich ganz offensichtlich weigerten, beschloss der Zwergenkönig, es selbst zu tun. Er verfluchte den Hobbit und Gandalf und Naira und eigentlich alle, die nicht das taten, was er wollte.
Er ergriff Bilbo, während die anderen Zwerge versuchten diesen zu befreien. Der Zwergenkönig drängte den Hobbit an die Mauer des Wehrgangs zurück und wollte ihn gerade hinüberstoßen, als-
"Nein!", erklang ein lauter Schrei und im nächsten Augenblick schoss ein hellblauer Drache auf den Wehrgang zu.
Naira hatte sich verwandelt.
Die Zwerge gingen schutzsuchend in Deckung, während Naira Thorin mit einer Pranke zurückstieß und hinter Bilbo, mit mächtigen Flügelschlägen, in der Luft stehenblieb.
Thranduil hatte unterdessen Mühe, die Elben zurückzuhalten, die schon auf Naira schießen wollten.
Diese fauchte Thorin an.
"Finger weg!", zischte sie giftig.
Thorin keuchte auf. Er hatte Nairas Drachen-Gestalt noch nie gesehen und war gefangen von ihrer Schönheit.
Im gleichen Augenblick war von unten die Stimme Gandalfs zu hören, während er sich einen Weg durch die Elben bahnte: "Wenn du mit meinem Meisterdieb nicht zufrieden bist, dann tu' ihm bitte nichts. Gib ihn mir zurück."
Thorin wagte es, an den Rand des Wehrgangs zu treten, natürlich mit gewaltigem Abstand zu Naira.
Bilbo wich ein wenig vor Naira zurück. Diese schaute ihn sanft an, ließ aber den Zwergenkönig nicht aus den Augen.
Die Zwerge, allen voran Kili und Fili, die Naira in der Gestalt eines Drachen bereits kannten, wagten sich nun aus ihrer Deckung.
Die Neffen des Königs schoben den Hobbit wieder zu Naira hinüber, während sie ihm versicherten, dass der Drache ganz harmlos sei, denn es sei Naira.
"Bisher machst du als König unter dem Berge keine sehr gute Figur, nicht wahr?", meinte Gandalf, als er bei Thranduil und Bard ankam, "Thorin, Sohn von Thrain."
"Ich will nichts mehr zu schaffen haben mit Zauberern und Auenlandratten!", schrie Thorin und bekam sofort ein Knurren von Naira zurück.
"Und du", fügte er erbost und nicht im Mindesten von ihrer neuen Gestalt eingeschüchtert, hinzu. "Du verschwindest am besten ganz schnell wieder dahin, wo du hergekommen bist, bevor ich dich persönlich umbringe."
Naira lachte spöttisch und der Zwerg zuckte nun doch zusammen.
"Wie gut das bei Smaug funktioniert hat, haben wir alle gesehen. Wer war es gleich noch, der ihn erschoss? Du jedenfalls nicht. Und soll ich dir etwas sagen? Ich bin genau da, wo ich hergekommen bin. Ich wurde in diesem Berg geboren, falls es dir entfallen sein sollte. Und ich bin genau da, wo ich hingehöre: Zwischen dir und Bilbo. Und ich meine es ernst, wenn sich herausstellen sollte, dass du Bilbo oder einem der Zwerge oder sonst jemandem auch nur ein Haar gekrümmt hast, werde ich dich persönlich grillen", zischte sie drohend.
Damit schnappte sie sich Bilbo mit ihren Klauen und hob ihn an den Schultern vom Wehrgang.
Unten setzte sie ihn neben Valavar ab und verwandelte sich zurück.
Um sie herum wurde gekeucht, als die Elben und Menschen, und auch einige Zwerge, erkannten, wer sie war.
"Sind wir uns einig?", fragte Bard und lenkte damit wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf das eigentliche Thema. "Die Rückgabe des Arkensteins gegen das, was versprochen war?"
Thorin antwortete nicht und wandte seinen Blick zu den Hügeln, als warte er auf etwas.
"Wieso sollte ich zurückkaufen, was rechtmäßig mir gehört?", fragte er, um Zeit zu gewinnen.
Er wusste, sollten die Elben angreifen, hätten sie keine Chance. Erst recht nicht, wenn Naira nicht auf ihrer Seite war. Er wusste, dass sie jedes gesagte Wort ernst gemeint hatte: Um ihn würde sie sich nicht kümmern. Sie würde nur die anderen retten. Doch das war ihm in diesem Augenblick sowieso egal. Er würde lieber bei seinem Schatz, in seinem Berg sterben, als auch nur eine Münze seines Schatzes herauszugeben.
"Behaltet den Stein", empfahl Thranduil Bard mit einem süffisanten Lächeln. "Verkauft ihn. Ecthelion von Gondor wird Euch einen guten Preis dafür geben."
"Ich bringe Euch um!", brüllte Thorin von oben und Naira grinste.
"Dann komm doch runter!", rief sie höhnisch. "Oder bist du dafür zu feige?"
Thorin schäumte vor Wut und brüllte: "Bei meinem Schwur, ich werde euch alle töten."
"Euer Schwur bedeutet nichts!", schoss Thranduil zurück.
Auf dem Wehrgang lief Thorin nervös auf und ab.
"Ich habe genug gehört", beschloss der Elbenkönig und warf einen Blick zu seinen Soldaten.
Naira schwang sich auf Valavars Rücken und mit einem letzten Blick auf die Zwerge über ihr, zog ihren Bogen und einen Pfeil.
Ein elbisches Kommando wurde gebrüllt, woraufhin die Bogenschützen ihre Bögen spannten und auf die Zwerge richteten. Naira tat es ihnen gleich und richtete ihren Pfeil, der sogleich entflammte, auf Thorin.
Kili und Fili schauten entsetzt zu ihr hinunter, doch alles, was das Halbblut ihnen geben konnte, war ein Zwinkern, von dem sie nicht einmal sicher sein konnte, dass sie es sahen.
"Thorin!", rief Gandalf, der noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben hatte, dass man den Zwerg noch zur Vernunft bringen könne. "Legt Eure Waffen nieder! Öffnet diese Tore! Dieser Schatz wird Euer Tod sein..."
Balin versuchte, Thorin ins Gewissen zu reden und Naira wagte bereits zu hoffen, dass noch nicht alles vorbei sei.
"Gebt uns Eure Antwort", verlangte Bard. "Wollt Ihr Frieden oder Krieg?"
Niemandem schien die Aussicht auf Krieg zu gefallen: Naira wollte sich nicht gegen ihre Landsleute und ihre Freunde stellen; Thranduil wollte nicht, dass Naira sich zwischen dem Volk ihrer Mutter und dem ihres Vaters, dem sie sich immer mehr verbunden gefühlt hatte, entscheiden musste; und Bard hatte genug vom Blutvergießen der letzten Tage.
In diesem Augenblick erschien ein Rabe und landete auf der Mauer und Naira wusste, jetzt würde Thorin nicht mehr klein beigeben.
Diese Befürchtung bestätigte er auch sogleich mit den Worten: "Ich will Krieg."
Naira schloss die Augen und wollte ihn schon anschreien, als ein lautes Poltern ertönte.
Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf die nah gelegenen Hügel, wo eine Armee aufmarschierte.
"Gorgor..."




Naira - Flammenherz (Der Hobbit)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt