(19) zweite Chance

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Moira

Als wir noch ungefähr einen Kilometer von der Insel entfernt waren, stieß Nachtblitz  wieder zu uns. Das war auch gut so, denn meine Rückenmuskeln verkrampften langsam. Lange und ›langsame‹ Flüge waren sie einfach nicht gewöhnt.

Während die Anderen das Lager aufschlugen, machten Nachtblitz und ich uns auf die Suche nach einem Nest der Schnellen Stacheln. Zum Glück sind Schnelle Stacheln meist nachts unterwegs und schliefen dafür tagsüber. Genauso wie wir jetzt...
Ich schob den Gedanken beiseite und kroch unter einem Strauch durch. Mitten in der Bewegung stoppte ich. Hinter dem Strauch lagen die schlafenden Körper mehrerer Schneller Stacheln. Doch ich wusste, dass die ruhige Atmosphäre täuschte. Irgendwo liefen mindestens zwei dieser Drachen herum und bewachten ihre Kameraden, die nur leicht schliefen, um im Notfall sofort reagieren zu können. Schon das kleinste Geräusch könnte die gesamte Herde wecken.
Nachtblitz schob ihren Kopf ebenfalls ins Gebüsch. <Ungefähr fünf Meter weiter links liegt ein Schneller Stachel etwas von seinen Kameraden entfernt.>
So leise wie möglich krabbelte ich zurück auf die andere Seite des Gebüschs.

Selbstverständlich hatte Nachtblitz recht. Ich betäubte das Tier und dann trug ich es (mit Nachtblitz' Unterstützung) zum Strand. Hier sollten uns die anderen Schnellen Stacheln nicht mehr hören. Mit vereinten Kräften legten wir den Drachen auf den Sand.
Keine Minute zu früh, denn die Wirkung des Betäubungsmittels ließ schon nach. Einer der Nachteile, wenn man einen Schnellen Stachel mit seinem Gift lähmt.  Die Wirkung hält nicht sonderlich lang an.
Ich setzte wieder meine Maske auf (sicher ist sicher) und holte ein Glas, über dessen Öffnung Leder gespannt war, aus meiner Tasche.

Der Schnelle Stachel öffnete die Augen. Nicht einmal eine Sekunde später stand er auch schon vor mir, den Schwanz mit dem Stachel drohend erhoben. Ich verließ mich ab jetzt nur noch auf meine Instinkte. Es war zwar bei weitem nicht das erste Mal, aber man sollte Schnelle Stacheln niemals, ich wiederhole: NIEMALS  unterschätzen. Der wilde Drache fauchte einmal und griff an.

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Bei den Drachenjägern:

Erzähler POV

Zwei stämmige Männer zogen einen abgemagerten, schwächlich wirkenden Jungen hinter sich her. Die ungesunde Färbung seiner Haut, die strähnigen hellbraunen Haare, die dunklen Augenringe sowie die zerschlissene Kleidung wiesen darauf hin, dass er die letzten Tage oder Wochen nicht unter besonders guten Umständen verbracht hatte.
Er versuchte nicht mal, sich zu wehren, als die Männer ihn zu dem großen Haus hinzogen, indem ihr Chef wartete.

Die Wachen vor der großen Doppeltür nickten den zwei Drachenjägern kurz zu, dann öffneten sie die Tür. Der Gefangene sah noch einmal Richtung Himmel, bevor sich die Tür unheilverkündend hinter ihm schloss.
Seine beiden ›Begleiter‹ zogen ihn noch etwa fünf Meter weiter, dann ließen sie ihn los und traten zur Seite.
Im spärlichen Licht der Feuerschalen sah man einen Thron, welcher etwa drei Meter vor dem Jungen aufragte. Die Gestalt auf ihm war größtenteils in Schatten gehüllt, was sie noch unheimlicher wirken ließ. Lediglich ihre Hände, Füße und Unterarme wurden in ein rötliches Licht getaucht.

„Wie ich sehe, habt ihr ausnahmsweise mal einen Befehl erfüllt.", sagte der auf dem Thron sitzende Mensch sarkastisch. Seine beiden Diener senkten ehrfürchtig den Kopf; ein größeres Kompliment war sehr selten zu hören.
„Du kennst dein Schicksal ja schon,", wandte er sich nun dem Jungen, der weiterhin fast bewegungslos auf dem Boden lag, zu.
„Warum bin ich dann noch hier?" Die Stimme war fast nicht zu hören.
„Ich habe mir etwas Anderes ausgedacht. Wäre es nicht schade, solch Potenzial einfach wegzuschmeißen?"
Bis auf das Knistern des Feuers war es still in der Halle.
„Ich habe einen Vorschlag, der für uns beide von Vorteil ist. Du bekommst eine zweite Chance und ich habe nicht noch mehr Versagerblut an meinen Händen."
„Was?" Es war kaum mehr als ein Wispern.
„Es gibt da eine klitzekleine Kleinigkeit, die mich stört. Natürlich könnte ich das mit links beseitigen, aber wo würde denn dann der Spaß bleiben?"
Die beiden Diener schauten nervös auf ihre Schuhe. Sie wussten, dass diese ›klitzekleine Kleinigkeit‹ in Wahrheit ein ernsthaftes Problem war.
„Du wirst etwas Ausrüstung und die wichtigsten Fakten erhalten. Pläne und ähnliches musst du dir selbst besorgen. Solltest du es schaffen, bin ich vielleicht großzügig und tue so, als hätte es zwischen uns nie Ärger gegeben. Solltest du es jedoch nicht schaffen, gibt es nichts mehr, was dich noch am Leben hält.  Und falls du jemals wieder auch nur ein wenig Ärger machst..."
Der Junge hob den Kopf.
Das erste Mal seit drei Wochen verspürte er so etwas wie Hoffnung.

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Moira POV

Ich schlich langsam zu den Drachenreitern zurück, um mich mit einigem Abstand neben Astrid hinzulegen und zu schlafen. Oder zumindest so zu tun.
Nachtblitz zog es vor, sich wie eine Fledermaus an einen stabilen Ast zu hängen. Nur war der Ast nicht sonderlich hoch, was zur Folge hatte, dass die schwarze Drachendame mit ihren Flügelgelenken fast das Gras berührte.
<So kann man gar nicht schlafen! Man hat die ganze Zeit das Gefühl, gleich mit der Nase auf dem Boden zu landen.>, beschwerte sie sich.
<Dann leg dich doch einfach gleich auf den Boden.>
<Ne>
<Und warum nicht?>
<Weil... aus Prinzip.>
Ich musste einfach die Augen verdrehen.

Astrid neben mir bewegte sich.
„Na, und wo wart ihr?"
„Äh..." unauffällig verstaute ich das (inzwischen mit einem Korken verschlossene) Glas in meiner Tasche, die neben mir lag.
„Nachtblitz wollte mir zeigen, wo es hier Heilkräuter gibt."
„Du bist jetzt also auch noch Heilerin?"
Sie sah mich herausfordernd an.
„Ich habe eine ganze Weile allein gelebt, da sollte man sich doch etwas damit auskennen, oder?", gab ich ihr patziger als gewollt eine Antwort.
Astrid schien der etwas schroffere Ton nichts auszumachen.
Sie zuckte mit den Schultern.
„Wenn du meinst..."
Augenblicklich wusste ich, dass sie mich bald nochmal darauf ansprechen und nicht so leicht nachlassen würde.

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In einer kleineren Drachenjägerbasis:

Ein stämmiger Wikinger mit einer Weste aus Zipperleder schlug auf den Tisch.
„BEI THOR! Das kann doch einfach nicht wahr sein!"
Als er die etwas erschrockenen Gesichter seiner Kameraden sah, fuhr er in einem ruhigeren Ton fort.
„Wie viel war es genau?"
„Fünf Schiffe, siebenundzwanzig Drachen und zwei Ladungen neuer Käfige." Die Stimme des Sprechers zitterte leicht.
„Und das hat ein einziger Drache zu verantworten?!"
„Nun ja, seine Reiterin war nicht zu sehen..."
„Vielleicht hatte die gerade Ärger mit ein paar Kopfgeldjägern. Ich habe da echt ein paar fiese Leute losgeschickt."
Der Wikinger mit der Weste sah den untersetzten Kerl, der gesprochen hatte, an.
„Und? Hatten sie Erfolg?"
„N-n-nein, leider nicht."
Ein andere Mann meldete sich zu Wort.
„Dann hat der Drache wahrscheinlich nach ihr gesucht."
„Das kann doch einfach nicht wahr sein! Selbst einzeln sind sie mittlerweile so stark, dass... dass... AARGGHH!!"
Eine Person, die bisher im Schatten stand, trat vor.
„Auf den Flugblättern stand eine ziemlich genaue Körpergröße. Wenn ihr fast nichts über sie wisst, woher wisst ihr dann das?"
„Als wir sie einmal eingesperrt hatten, hat sie ihren Körperumriss aus der Zellenwand ausgeschnitten."
Alle anderen Anwesenden prusteten los.
Man konnte sagen, was man wollte, aber diese Schwarze Kriegerin ließ keine Gelegenheit aus, um ihre Gegner lächerlich zu machen.
Denn wer bemerkte es nicht, wenn jemand ein Stück aus der Schiffswand raus sägt?
Und den eigenen Körperumriss in Holz zu schneiden, dürfte nicht gerade schnell gehen.

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Auch dieses Bild ist nicht von mir 😉

Sternenfluch - Auf den Spuren der RätselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt