Der Morgen von allein wird kommen, Die Hoffnung dann erneut erwacht.
Wir haben uns viel vorgenommen, Denn irgendwo, ist immer Nacht.Margot S. Baumann
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London im April 1774
»Es war einmal ein Mädchen, dessen Haut war so weiß wie der Schnee und ebenso kalt. Es mochte den Tag nicht, weil die Sonne ihm Schmerzen bereitete und darum ging es zu Bett, wenn der Morgen dämmerte und erwachte, sobald die letzten Sonnenstrahlen hinter den Hügeln verschwunden waren. Es alterte um keinen Tag und wurde nicht krank, denn der Tod hatte es bereits heimgesucht. Dennoch lebte das Mädchen und konnte...«
»Lucinda!« unterbrach mich meine Mutter empört. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du deinem Bruder nicht diese Schauergeschichten vorlesen sollst?« Sie stand vorwurfsvoll im Türrahmen und bedachte mich mit einem Blick, der sicherlich auch Wasser gefrieren könnte.
»Verzeihung, Mutter. Es wird nicht wieder vorkommen« sagte ich und zwinkerte Silvester zu, der daraufhin leise kicherte. Mit seinen zehn Jahren war er eigentlich zu alt für eine Gutenachtgeschichte, aber das war mir egal. Besonders das alte Märchenbuch aus Vaters Bibliothek hatte es ihm angetan. Ich hatte es vor zwei Jahren dort gefunden und seitdem setzte ich mich jeden Abend in Silvesters Bett und las ihm vor.
»Nun komm, die Gäste sind bereits eingetroffen und ich möchte dir jemanden vorstellen. Oh gütiger Gott!« rief sie erschrocken aus. »deine Röcke sind ja ganz zerknittert, pass doch besser auf, Kind!« Wären ihre dunklen Locken nicht schon zu einem Ungetüm aus Bändern und Perlen aufgetürmt gewesen, hätte sie sich jetzt wohl die Haare gerauft, vor lauter Verzweiflung. Ich fand jedoch, dass sie maßlos übertrieb. Silvester konnte gar nicht anders, als auf dem zarten Brokatstoff meines Kleides zu sitzen, schließlich nahm es beinahe das ganze Bett ein und er mochte es, wenn er sich beim lesen an mich lehnen konnte.
Ich gab ihm einen Kuss auf den braunen Haarschopf und legte das Buch auf den Nachtschrank. Dann erhob ich mich vorsichtig, darauf bedacht mein Kleid nicht zu beschädigen und meine Mutter dadurch noch mehr zu verärgern. Ich trug es heute zum ersten Mal und der Blauton passte ganz reizend zu meiner hellen Haut und meinen ebenfalls blauen Augen. Ja, ich sah heute wirklich ansehnlich aus, das konnte niemand leugnen. »Schlaf gut, Silvester« flüsterte ich noch schnell und folgte dann meiner Mutter die breite Marmortreppe hinunter in den Salon, aus dem ausgelassene Geigenmusik drang.
Der große Saal war mit hunderten Kerzen bestückt und wurde dadurch in goldenes Licht getaucht, wodurch sogar der alte Lord Anglia jung und faltenlos erschien, oder jedenfalls faltenloser als sonst. Eben dieser kam uns nun freudig entgegen und küsste die ausgestreckte Hand meiner Mutter zur Begrüßung. »Lady Chester, was für eine Freude Euch zu sehen. Ihr habt euch wieder einmal selbst übertroffen. Eure Soirees sind zurecht berüchtigt.«
Sein Gehrock war von einem dunklen grün mit gelben Stickereien und betonte unvorteilhaft den üppigen Bierbauch. Wie alt er genau war wusste ich nicht, aber aufgrund seiner runzligen Haut, die auch die dicke Puderschicht nicht kaschieren konnte, schätzte ich ihn auf etwa sechzig. Der Lord wandte sich nun an mich und verbeugte sich, so tief es sein altes Kreuz zuließ. »Lady Lucinda. So schön wie eine Blume im Morgentau.«
Dabei sah er mir einen Moment zu lange in die Augen. Der Viscount Anglia war dafür bekannt, trotz seines stolzen Alters sehr an jungen Damen interessiert zu sein. »Sie sind ein Schmeichler, my Lord« erwiderte ich höflich und fügte dann etwas spöttisch hinzu:. »Wie geht es ihrer Frau? Beehrt sie uns heute Abend auch mit ihrer Anwesenheit?«
Der alte Lord schüttelte leicht den Kopf und bemühte sich um einen bedauernden Gesichtsausdruck, was ihm jedoch nicht ganz gelang. »Ich fürchte sie wird den Abend vor dem Kamin verbringen. Ihr ist es heute nicht sehr wohl«. Mir wäre es auch nicht wohl, wenn mein Ehemann Mädchen nachstellte, die halb so alt waren wie er. Ich hoffte für die gute Frau, dass sie nur simulierte und sich gerade in Wirklichkeit anderweitig vergnügte. Sie war eine sehr liebe Person und hatte es nicht verdient vom Viscount so behandelt zu werden.
Plötzlich entdeckte ich einige meiner Freundinnen im hinteren Teil des Salons, die auf einem der hübschen Sofas saßen und kichernd die Köpfe zusammensteckten. Schnell entschuldigte ich mich beim Viscount und meiner Mutter und eilte zu den Mädchen.
»Lucy!« begrüßte mich Audrey und tätschelte den leeren Platz neben sich. Vorsichtig setzte ich mich und griff nach einer der französischen Pralinen, die auf dem kleinen Tischchen standen. »Lucy, gut dass du da bist« sagte Deborah erfreut. »Wir brauchen unbedingt eine weitere Meinung zu Lord Norfolks furchtbarer Perücke. Clementia schwört, sie hätte ein Mäusenest darin entdeckt« Ich musterte den Lord. Er unterhielt sich in einiger Entfernung mit meiner Schwester Penelope und ihrem Gatten Lord Richmond und kehrte uns den Rücken zu, sodass ich einen guten Blick auf sein Haar erhaschen konnte, das tatsächlich schrecklich aussah. »Nun, es würde mich keinesfalls überraschen, wenn sich Ungeziefer darin eingenistet hätte. Vielleicht auch ein Siebenschläfer« bemerkte ich pikiert, woraufhin die drei anderen in Gelächter ausbrachen.
»Oh seht nur!« rief Audrey. »Jetzt kratzt er sich am Kopf, jemand sollte ihn aufhalten, sonst verletzt er noch die Tierchen« Ihre Haare waren wie immer wunderhübsch hergerichtet. Im Gegensatz zu uns hatte sie sich nicht nur auf ihr eigenes Haar verlassen, sondern eine Perücke aufgesetzt, die zart lila schimmerte und damit exakt zur Farbe ihres Kleides passte. Ihre Zofen hatten weiße Rosen hineingeflochten und ein kleines Hütchen darin befestigt. Wir scherzten immer, dass sie sich gut am französischen Hof machen würde, aber Audrey winkte jedes Mal ab und meinte, dass sie dann ja nicht mehr auffallen würde, sondern in der breiten Masse der Extravaganten unterginge.
Auf einmal weiteten sich Deborahs Augen. »Lucy, deine Mutter kommt zu uns. Und sie ist in Begleitung eines jungen Mannes, oh, er sieht gut aus!« Schnell nahm jede von uns eine möglichst vornehme Haltung ein und achtete darauf, sich nicht anzulehnen, denn darauf legte Mutter immer besonders großen Wert. »Ist das etwa Lancelot?« zischte Clementia entgeistert und verstummte dann abrupt, weil die beiden uns erreicht hatten.
»Guten Abend, Kinder« sagte Mutter und nickte zur Begrüßung einmal gütig in die Runde. »Lucinda, Liebes, darf ich dir Lord Pembroke vorstellen? Vielleicht erinnerst du dich noch an ihn, ihr habt euch früher doch so gut verstanden.« Natürlich erinnerte ich mich noch an Lancelot. Es war schließlich erst ein paar Jahre her, seit er zur Grand Tour aufgebrochen war, um Europa zu bereisen.
Abgesehen davon gab es einige Dinge, von denen Mutter nichts ahnte, die es mir aber leider unmöglich machten ihn jemals zu vergessen. Seine Gesichtszüge hatten sich kaum verändert. Er sah immer noch genauso gut aus wie damals, wenn nicht noch besser. Dasselbe blonde, im Nacken zusammengebundene Haar und die gleichen, blauen Engelsaugen. Beim Puder hatte er gespart, denn soweit ich wusste, hatte er nie die Pocken gehabt und somit auch keine unschönen Narben, die es zu verstecken galt.
Er lächelte mich vorsichtig an, beinahe schüchtern, so als hätte er Angst vor meiner Reaktion. Anmutig stand ich auf und reichte ihm meine rechte Hand. Lancelot ergriff sie und deutete einen zarten Kuss an. Dann richtete er sich wieder auf: »Lady Lucinda, es ist mir eine Ehre euch wiederzusehen.« »Ganz meinerseits, my Lord« erwiderte ich und lächelte kühl.
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Die sterbliche Baronin
FantasyEngland, 1774 Die Londoner Adelsgesellschaft lebt ausgelassen und ohne Sorgen. Mit rauschenden Bällen, prunkvollen Soirees und der neusten Mode aus Frankreich kann man sich leicht die Zeit vertreiben. Lucinda Phillipa Hastings ist Teil dieser Welt...