Alleine hätte ich mich sicherlich verlaufen, aber er schien jeden Winkel zu kennen wie seine Westentasche. Irgendwann kamen wir an eine bunt verzierte Tür, die er mit Schwung aufriss und für mich offen hielt. Dahinter kam ein verglaster Raum zum Vorschein, der von der hohen Decke bis zum gefliesten Boden mit Pflanzen bedeckt war.
Es war schwül hier drinnen und aus jeder Ecke schwebten uns neue Düfte entgegen, die ich nicht zuordnen konnte. Viele der Blumen und Sträucher mussten von weit her kommen, so fremdartig sahen sie aus. Vor einer dunkelgrünen Stachelpflanze mit dicken, tentakelartigen Blättern stand ein älterer Herr mit schneeweißer Lockenperücke, der uns den Rücken zuwandte. »Ihr habt nach uns gefragt, Vater?«, rief der Lord, woraufhin sich der Mann zu uns umdrehte. »Ja ja, sehr richtig, wie schön, dass ihr es einrichten konntet«, sagte er mit warmer Stimme und betrachtete mich mit schelmisch funkelnden, tiefblauen Augen, die von kleinen Lachfältchen und buschigen Augenbrauen eingerahmt wurden.
»Ihr seid sicher Lady Lucinda. Euer Vater ist Henry Hastings, nicht wahr? Der Graf von Chester?« Ich nickte höflich. »Sehr richtig, ja. Ihr kennt also meinen Vater?«
»Leider nicht«, winkte er ab. »aber ich habe mich nach ihnen erkundigt. Ich hoffe, das stört sie nicht.«
»Überhaupt nicht. Ich würde auch wissen wollen, wer sich ständig in meinem Haus herumtreibt.« Sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter. »Ja, da haben Sie recht, aber verzeihen Sie mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er verbeugte sich, viel tiefer und eleganter, als ich es ihm zugetraut hätte. »Horatio Littlewood, Graf von Dorset«, sagte er. »Sehr erfreut.«
Ich sank in den obligatorischen Knicks und neigte dabei leicht den Kopf. »Ganz meinerseits.« Lord Salverton wippte indes ungeduldig auf und ab. »Wieso hast du nach uns geschickt?« Sein Vater hob die dichten Brauen. »Brauche ich denn immer einen Grund? Ich wollte lediglich die Lady kennenlernen, schließlich ist sie in letzter Zeit oft Gast bei uns.« Er bedeutete mir näher zu kommen, also stellte ich mich neben ihn, direkt vor das seltsam aussehende, krautige Gewächs. »My Lady, interessiert Ihr euch für exotische Pflanzen?« Ich schüttelte verlegen den Kopf. »Um ehrlich zu sein, kenne ich mich schon mit den heimischen nicht gut aus.«
Der alte Mann brummte gutmütig und deutete dann vor sich. »Das hier ist eine Aloe Vera. Ihre Blätter sind voll mit Pflanzensaft, der besonders gut bei Sonnenbrand hilft. Ich habe sie selbst aus Barbados mitgebracht. Wussten sie, dass der Name der Insel die Bärtigen bedeutet? Ein Portugiese hat sie so benannt, weil ihn die Wurzeln der Feigenbäume dort an Bärte erinnert haben.«
Verstohlen blickte ich zu Lord Salverton, der etwas abseits stand und uns beobachtete. Damit wäre also geklärt, wieso er so gerne über Geschichtliches sprach. Es lag ihm wohl einfach im Blut. Der Lord bemerkte meinen Blick und beschloss, sich am Gespräch zu beteiligen.
»Vater sammelt Pflanzen. Auf unserem Landsitz hat er ein Gewächshaus, so groß wie eine Scheune«, sagte er. Sein Vater seufzte auf. »Caleb konnte damit noch nie etwas anfangen. Als er vierzehn war hat er aus meinem Nerium oleander eine Steinschleuder geschnitzt.«
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber dem hat es hier ohnehin nicht gefallen. Zu kalt, vermute ich.« Lord Salverton ließ sich auf einem Gartenstuhl nieder und zuckte mit den Schultern. »Es war doch bloß ein Busch.« Sein Vater seufzte wehmütig.
»Er war aus Marokko. Hat mich eine ordentliche Stange Geld gekostet. Aber das liegt jetzt schon Jahre zurück, nicht wahr? Sagt mir, mein Kind, wie geht es eurem Vater? Caleb hat mir erzählt, dass er gebissen wurde. Hat er sich gut erholt?« Seine Stirn war in besorgte Falten gelegt. Überhaupt hatte er sehr viele Falten im Gesicht. Er musste schon alt gewesen sein, als Caleb geboren wurde. Was wohl mit seiner Mutter passiert war? »Nein, er schläft leider noch. Aber Euer Sohn meinte, es könne manchmal ein paar Tage dauern.«
»Das ist richtig«, sagte er mit gerunzelter Stirn. »Wie lange ist es noch gleich her?« Darüber musste ich erst einmal nachdenken. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, aber eigentlich konnten es höchstens zwei Wochen gewesen sein. Seltsam wie sich das Leben in so kurzer Zeit von Grund auf verändern konnte. »Das war am Freitag vor drei Wochen, glaube ich.« Die Stirnfalten des Grafen vertieften sich und er tauschte einen vielsagenden Blick mit Lord Salverton, den ich nicht verstand.
»Hmm. Äußerst ungewöhnlich«, sagte er. »Warum ist das ungewöhnlich?«, fragte ich. »Habt Ihr nicht eben noch gesagt, dass das immer nach einem Biss passiert?«.
»Nun ja«, begann er. »Der Schlaf nach einem Biss ist ganznormal, aber in der Regel spricht man hier von zwei bis drei Tagen. Manchmalauch vier. Drei ganze Wochen sind ungewöhnlich lang. Aber genaues weiß ichleider auch nicht. Der Schlaf nach einem Biss ist eines der Dinge, die wir nochnicht erklären können. Vor ein paar Jahren gab es eine sehr interessante Studiezu diesem Thema, aber die musste natürlich eingestellt werden, seit der Ratalle Ressourcen für die Mission verwendet.« Wieder seufzte er und ich runzelte verwirrt die Stirn. »Welche Mission denn, wenn ich fragen darf?« Der Graf sah tadelnd zu Lord Salverton.
»Caleb! Heißt das du hast es ihr nicht erzählt?« Der Lord schüttelte den Kopf. Auf seinem Gesicht war nicht die geringste Spur von Reue zu sehen. Im Gegenteil, er sah entschlossener drein, denn je. »Nein, habe ich nicht«, sagte er und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und ich hatte es auch nicht vor. Die Mission ist für Lady Lucinda völlig irrelevant und unterliegt außerdem der höchsten Geheimhaltungsstufe. Sie ist besser dran, je weniger sie weiß.«
Dafür dass ihm das Geheimnis so wichtig war, hatte er mir aber von allem anderen auffällig viel erzählt.
Der Graf von Dorset schüttelte den Kopf. »Also wirklich! Du kannst sie nicht einfach mit auf die Jagd nehmen, ohne ihr zu sagen, wonach die Bruderschaft eigentlich sucht.« Sie suchten nach etwas? Ich war einfach davon ausgegangen, dass das Ziel der Nachtwächter darin bestand so viele Vampire wie möglich zu töten. »Ich kann schweigen wie ein Grab«, versicherte ich an den Lord gewandt. Dieser schien innerlich mit sich zu ringen, gab sich aber schließlich geschlagen und holte tief Luft. »Na schön, aber das muss ein Geheimnis bleiben, verstanden? Vor zwei Jahren wurden im Nachlass eines Nachtwächters Bücher gefunden, die er verbotenerweise bei sich aufbewahrt und nicht der Collectio übergeben hatte, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Jedenfalls wurde es geschrieben von einem gewissen Richard Alfray, der darin von einer Geheimwaffe schreibt, mit der die Vampire ein für allemal ausgelöscht werden könnten.«
Seine Augen hatten zu funkeln begonnen und seine Stimme klang beinahe ehrfürchtig. »Das Problem ist, dass diese Information irgendwie an die Vampire gelangt ist«, sagte der Graf. »Seit dem versuchen die Nachtwächter die Waffe, was immer es auch sein mag, vor den Vampiren zu finden und umkehrt. Letztere wollen sie natürlich zerstören. Möglicherweise haben sie das sogar schon, wir tappen völlig im Dunkeln.«
»Das klingt nach viel Arbeit«, sagte ich. »Elendig viel, ja«, sagte der Lord und zupfte gedankenverloren eine gelbe Blüte von einem der Sträucher. Er betrachtete sie, drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her und ließ sie dann achtlos zurück ins Beet fallen. »Aber das ist es wert.«
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Die sterbliche Baronin
FantasyEngland, 1774 Die Londoner Adelsgesellschaft lebt ausgelassen und ohne Sorgen. Mit rauschenden Bällen, prunkvollen Soirees und der neusten Mode aus Frankreich kann man sich leicht die Zeit vertreiben. Lucinda Phillipa Hastings ist Teil dieser Welt...