Kapitel 3 - Nach dem Vorfall

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Reglos saß ich auf meinem Bett. Ich trug mein Nachthemd und hatte die Beine angezogen, damit ich mein Kinn darauf abstützen konnte. Die Gäste waren überstürzt gegangen, sobald sich herumgesprochen hatte, was meinem Vater zugestoßen war. Offenbar hatten sie gefürchtet der Vorfall könne sich wiederholen und ein weiteres Opfer fordern.

 Jetzt, da der Lärm der Stimmen und der Musik verklungen waren, erfüllte Stille das Haus.. Es musste schon sehr spät sein, sicher würde bald der Tag anbrechen und ich hatte noch keine Minute geschlafen. Wie auch, wenn ich jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, das totenbleiche Gesicht des Monsters vor mir sah. Die Uhr an der Wand tickte unbarmherzig und die Kerze auf dem Nachttisch flackerte fröhlich auf und ab, wie sie es immer tat. Draußen bellte ein Hund und irgendwo sang eine Eule ihr Schlaflied. 

Alles war so wie immer, nur ich nicht. Mit einem zarten knarksen ging die Tür auf und meine Mutter kam herein, immer noch in Abendgarderobe. Sie setzte sich vorsichtig neben mich und drückte mich fest an sich, wie damals als ich noch ein kleines Mädchen war.

 »Der Doktor geht gleich nach Hause, er wollte wissen, ob dir noch etwas eingefallen ist, das wichtig sein könnte« sagte sie leise und strich mir dabei sanft übers Haar. 

»Nein« erwiderte ich mit trockener Kehle. »Wie geht es Vater? Ist er schon aufgewacht?«. Traurig schüttelte sie den Kopf: »Er schläft noch immer. Dr. Brown meint, sein Körper müsse sich erst erholen. Er hat sehr viel Blut verloren, deshalb hat der Doktor ihn auch nicht zur Ader gelassen«. 

Ich schluckte schwer. Mein Vater war alt, fast 61, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, hätte mir eigentlich bewusst sein sollen, aber irgendwie hatte ich immer angenommen, er würde ewig da sein. Jetzt, da sein Leben am seidenen Faden hing, schnürte sich mir der Hals zu vor Angst. »Wie geht es den Anderen?« fragte ich heiser. Sylvesters Zimmer lag direkt neben meinem und die Wände waren so dünn, dass ich sein Weinen bis zu mir gehört hatte. Noch ein Grund, warum ich unmöglich hatte einschlafen können. Mutter seufzte müde. »Penelope und Lord Richmond haben beschlossen fürs erste hier zu bleiben, bis es ihm besser geht. Er ist wirklich sehr gut zu ihr, hat ihre Hand nicht ein einziges Mal losgelassen. Um Cecilia mache ich mir mehr Sorgen. Sie wollte eurem Vater die ganze Nacht nicht mehr von der Seite weichen. Wie es um Sylvester steht weißt du ja, ich wünschte er wäre jung genug, um noch nicht zu verstehen was vor sich geht, doch ich fürchte das ist nur Wunschdenken«. 

Mutter redete nur selten so offen mit mir, aber ich war froh, dass sie es jetzt tat. Ich vergrub mein Gesicht an ihrem Hals, um die Tränen zu verbergen, die mir über die Wangen liefen. »Wird er jemals wieder aufwachen?« presste ich hervor und ärgerte mich darüber, wie weinerlich ich klang. 

»Ich weiß es nicht« sagte Mutter und ihre Stimme brach. Ich konnte spüren, wie sich ihre Brust ruckartig hob und senkte, weil sie ein Schluchzen unterdrückte. In mir wuchs etwas heran, ein Gefühl, das heiß unter meiner Haut brodelte. Ich krallte meine Hand in den schweren Brokatstoff ihres Kleides und hätte am liebsten laut aufgeschrien. Doch ich riss mich zusammen. 

Während meine Mutter mir beruhigend über den Rücken strich, leistete ich still einen Schwur. Ich würde das Monster büßen lassen, für alles was es meiner Familie angetan hatte. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

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»Nimm dir noch etwas Brot, du siehst ja schon ganz verhungert aus« behauptete meine Schwester Penelope, woraufhin mir einer der Diener elegant ein Tablett reichte, auf dem duftende Toastscheiben lagen. Ich protestierte nicht. In den letzten Tagen hatte ich nicht viel herunter gekriegt und dafür bekam ich nun die Rechnung. Ich hatte einen Bärenhunger und schon allein der Gedanke an Mrs. Fitzgeralds Rhabarbermarmelade ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

 »Wie könnt ihr nur ans Essen denken, wo doch unser Vater jeden Moment sterben könnte« entrüstete sich Cecilia, meine andere Schwester empört. Ihr Teller war leer bis auf ein paar Brocken Rührei, die sie aber nur unwillig mit der Gabel hin und her schob. Sie hatte tiefe Ringe unter den Augen, die seit sie erblindet war, immer unruhig zitterten, und wirkte schon seit Tagen so, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Vater geht es nun schon seit fast zwei Wochen unverändert« sagte Penelope streng. »Wenn wir am Hungertod sterben wird ihm das wohl kaum helfen. Und jetzt iss dein Rührei!« 

Penny hatte den Befehlston meiner Mutter geerbt und scheute sich nicht ihn einzusetzen. Mit ihren Mann würde sie zwar nie öffentlich so sprechen, aber ich war sicher, dass auch er Zuhause oft ihre Launen ertragen musste. Sylvester aß unterdessen eifrig seinen Toast und wandte sich an Penny: »Du bist viel netter, wenn du nicht hier wohnst, weißt du das?« Damit entlockte er jedem von uns ein Schmunzeln. 

Sogar Cecilia lachte kurz auf, kaschierte es dann jedoch schnell mit einem Hüsteln. Ich schluckte schwer. Auch wenn ich es nie zugegeben hätte, gab ein kleiner Teil von mir Cecilia Recht. Es fühlte sich nicht richtig an, unser Leben einfach so weiter zu leben. So zu tun, als sei alles wie immer. Dem Doktor gab Vaters Zustand Rätsel auf. 

Seit Tagen schlief er tief und fest und zeigte keine Besserung. Damit Vater nicht verdurstete, hatte Dr. Brown versucht, ihm einen dünnen Schlauch in die Kehle zu legen, durch den er sogar Brei bekommen könnte, aber sobald das Rohr seinen Rachen berührte, krampfte Vaters Hals sich so fest zusammen, dass der Doktor auf Widerstand stieß. Als würde sein Körper sich gegen die Hilfe wehren. Trotzdem wurde Vater nicht dünner und zeigte keinerlei Anzeichen von Verdursten.

 Nicht einmal sein Bart schien zu wachsen. Er lag einfach nur da und schlief. »Ich hoffe, ihr wisst, wie wichtig es ist, unser Leben normal weiter zu führen« sagte Mutter sachlich. »besonders da es Cecilias erste Season ist«. Die Unterlippe meiner Schwester begann zu zittern. 

»Das ist mir egal. Ich werde noch genug Gelegenheiten haben, einen Mann zu finden. Lucy ist schon zum fünften Mal dabei und hat sich immer noch nicht verlobt«. Mutters Blick glitt kurz zu mir. Meine Unwilligkeit zu heiraten war ihr nicht entgangen. In den ersten paar Seasons waren sie noch geduldig gewesen, aber seit letztem Jahr wurden meine Eltern immer drängender. Vermutlich hatten sie Angst, ich würde wie meine Großtante Mary als Jungfrau enden und sterben ohne Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Ein für meine Mutter undenkbares Schicksal. 

Daher wusste ich, dass ich mich beeilen musste, denn sonst würden meine Eltern mir die Wahl abnehmen und mich mit dem nächstbesten Earl verheiraten. Und dann konnte ich von Glück sprechen, wenn mein zukünftiger noch alle Zähne besaß. »Lucinda wird sich schon noch entscheiden« sagte Mutter spitz. »Trotzdem würde ich es sehr begrüßen, wenn du dir nicht so viel Zeit ließest wie deine Schwester, liebe Cecilia«. Oh ja, das würde sie. Als Mutter Cecilia im Januar an den Hof von König George begleitet hatte, um sie dort als neue Debütantin vorzustellen, war sie aufgeregt gewesen wie ein kleines Mädchen. Zu ihrer großen Freude war der König ganz entzückt von ihr gewesen. Ja, Cecilia war ihr ganzer Stolz und sie konnte es kaum erwarten, endlich eine weitere Tochter verheiratet zu sehen.

Mutter nahm einen Schluck aus ihrem Glas und sah uns dann der Reihe nach durchdringend an. »Ich weiß, es kommt euch sehr früh vor, aber ich habe beschlossen, am Freitag eine kleine Nachmittagsgesellschaft zu veranstalten«. Keiner am Tisch schien wirklich begeistert von dieser Idee zu sein, aber es beschwerte sich auch niemand. So war es eben in London. 

Man heuchelte gute Laune und zeigte Allen, was für ein schönes Leben man doch hatte. Am besten bei einem Tässchen Tee und Musik. Erst wenn alle Kerzen erloschen, und die Tische abgetragen waren, ließ man die Fassade fallen und kehrte in die trostlose Realität zurück. »Schön« sagte Penny tonlos.

 »Wir werden uns zusammenreißen«. Alle nickten zustimmend und Mutter entspannte sich ein wenig. Auch wenn sie es nicht zeigte, musste diese Sache furchtbar schwer für sie sein, aber sie versuchte stark zu sein. Für uns, für Vater und für sich selbst. Denn so war es eben in London.

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Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, Meinungen und kritik gerne in die kommis.

Lena

Die sterbliche BaroninWo Geschichten leben. Entdecke jetzt