Die ganzen zwei Wochen bis zum Abendessen bekam ich Lord Salverton nicht zu Gesicht. Immer wenn ich ihn per Brief nach einem Treffen fragte, entschuldigte er sich höflich und behauptete, zu viel zu tun zu haben. Nur einmal schickte er mir eine Nachricht, um mir zu sagen, wann er mich für das Dinner abholen würde. Ich war ein wenig beleidigt. Ging er mir etwa aus dem Weg? Oder tat ich ihm Unrecht und er war wirklich zu beschäftigt? Wahrscheinlich bilde ich mir das alles nur ein, dachte ich zerknirscht, während ich in der Eingangshalle auf und ab ging und darauf wartete, dass es endlich an der Tür klopfte. Sowieso sollte ich aufhören mir so viele Gedanken um ihn zu machen. Das war bestimmt furchtbar ungesund, besonders für mein Gemüt.
Als ich das vertraute Geräusch des Türklopfers vernahm, hielt ich inne und strich mein Kleid glatt. Am besten ich konzentrierte mich einfach auf das eigentliche Ziel. Nämlich irgendwie an Elijah Wright zu kommen und diese ganze Sache endlich zu beenden. Ja, genau, das war die richtige Einstellung. Entschlossen hob ich das Kinn und öffnete die Eingangstür. Als ich ihn sah, vergaß ich all meine guten Vorsätze und ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus.
Solche Grübchen gehörten verboten! Wie sollte man sich da konzentrieren können? »Guten Abend, Mylady. Sie sind wie immer ein äußerst angenehmer Anblick.« Was für eine Unverschämtheit. Mich zuerst wochenlang zu ignorieren und dann an zu grinsen, als wäre nichts. Ich hob kühl die Brauen. »Und Ihr seid zu spät.«
»Die besten Gäste kommen zum Schluss. Darf ich bitten?« Ich ergriff seinen Arm und wir stiegen in die Kutsche. Als die Pferde sich in Bewegung setzten fiel mir der Silberpflock auf, der an seinem Gürtel steckte. »Sollte ich mir Sorgen machen?«
»Wie bitte? Achso. Nein, das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
»Bekomme ich auch einen? Ihr werdet uns wohl kaum beide gleichzeitig beschützen können.« Er lachte und sah mich herausfordernd an. »Ach ja? Ich glaube ihr unterschätzt mich, Mylady. Außerdem habt Ihr noch nie mit einem Pflock gekämpft.«
»Ihr hättet es mir ja zeigen können«, sagte ich zerknirscht. Er nickte. »Das kommt noch, versprochen.«
Als wir am Haus des Grafen angekommen waren fröstelte ich. Nicht nur wegen der Kälte, sondern auch, weil das ganze Gebäude irgendwie gefährlich wirkte. Die Fenster waren von innen mit dicken Stoffbahnen verhängt. Der kleine Vorgarten war kahl und das verschnörkelte Eisentor quietschte bedrohlich. »Wie gemütlich«, sagte ich und schluckte. Der Lord zuckte mit den Schultern. »Ich würde Ihnen gerne sagen, dass es von innen behaglicher ist, aber ich fürchte das wäre gelogen.«
Der Türklopfer am Eingang war geformt wie ein Adler und hatte etwa die Größe meines Kopfes. Er musste ihn nur einmal betätigen und schon öffnete uns ein kurzgewachsener Diener die Pforte und führte uns hinein. Es war nicht so dunkel wie ich es mir vorgestellt hatte. Zwar kamen die letzten Reste der Abendsonne nicht gegen die verdunkelten Fenster an, aber es gab genug Lampen und Kerzen um uns den Weg zu leuchten.
Erst jetzt bemerkte ich die Gemälde an den Wänden der Eingangshalle. Es mussten hunderte sein. Sie alle zeigten Landschaften. Weite Wiesen, Bachläufe und Berge, getaucht in goldenes Sonnenlicht. Ich wäre gerne noch etwas geblieben, aber der Mann schien es eilig zu haben. Wie eine Gänsemutter watschelte er zügig vor uns her und geleitete uns durch den Flur in den Speisesaal, wo bereits reich gedeckte Tafel auf uns wartete. »Baron! Wie schön, dass Ihr es einrichten konntet«, sagte der Graf mit samtweicher Stimme und verbeugte sich tief. »Und eure Verlobte. So schön wie immer.« Ich knickste und bemerkte wohlwollend, wie sein Blick dabei zu meinem Dekolleté wanderte. Ich trug das Collier, dass ihn beim letzten Mal so fasziniert hatte. Wer weiß, vielleicht war es ja zu etwas gut. »Danke für die Einladung, werter Graf«, sagte Lord Salverton ohne zu lächeln.
»Bitte setzt euch doch.« Der Graf machte eine ausladende Handbewegung zu den drei gedeckten Plätzen am Ende des Tisches. Es duftete unglaublich gut. Nach würzigem Fleisch und Kräutern. Als ich meinen Teller sah, stutzte ich. »Goldenes Gedeck? Versuchen sie uns zu beeindrucken?« Lord Salverton gab ein abfälliges Schnauben von sich. »Seid nicht albern. Der Graf mag einfach kein Silber.« Ein Diener begann damit, das Essen zu servieren, aber obwohl alles unfassbar köstlich aussah, machte Lord Salverton ein Gesicht, als hätte man ihm dieses Jahr den Geburtstag gestrichen. Huntington schwenkte sein Weinglas und seufzte. »Wie immer der Sonnenschein in Person.« Er wandte sich zu mir und senkte die Stimme. »Ich hoffe für Eure Ehe, dass sich seine Griesgrämigkeit nur auf mich beschränkt.«
»Sind Sie mir böse, wenn ich ja sage?«
»Ganzund gar nicht.« Er lächelte spitzbübisch. »Vielleicht würde ich Euch lieber mögen, wenn ich nicht wüsste, dass Ihr statt dem Truthahn lieber uns zum Abendessen hättet«, sagte Lord Salverton. »In diesem Fall kann ich euch beruhigen«, versprach der Graf. »Ich habe bereits gegessen, also sorgt euch nicht.«
»Ach ja, wer war denn diesmal der Glückliche?«
»Dem Himmel sei Dank bin ich aufso etwas primitives wie das Jagen nicht mehr angewiesen. Es gibt genug Sterbliche, die sich freiwillig beißen lassen. Hat er Euch jemals erklärt, wie ein Biss sich anfühlt?« Die letzte Frage war an mich gerichtet. »Soweit ich weiß, wird man ohnmächtig und kann sich dann an nichts mehr erinnern«, sagte ich zögerlich, woraufhin der Graf amüsiert die Stirn runzelte. »Ja, ja, alles was während der Ohnmacht passiert, die Träume die man hat, der Kampf des eigenen Körpers gegen die Verwandlung, das vergisst man. Aber der Biss selbst, das Gift, das sich langsam ausbreitet und einem die Sinne verzaubert, das bleibt einem ewig im Gedächtnis. So muss es sich angefühlt haben, als Eva vom Baum der Erkenntnis aß.« In seinen Augen glitzerte die Verzückung. Lord Salverton verdrehte die Augen.
»Tut nicht so als wärt Ihr fromm.«
»Was wisst Ihr schon von Frömmigkeit, Lord Salverton. Zu meiner Zeit ist man noch ins heilige Land gezogen um seinen Glauben zu verteidigen. Wann wart Ihr das letzte Mal überhaupt in einer Kirche?«
»Sprecht Ihr von den Kreuzzügen?« warf ich ein. »Das ist über fünfhundert Jahre her.« »Überrascht euch das?«, fragte Lord Salverton.»Irgendein daher gelaufener Jungvampir würde wohl kaum Clanführer werden.« Ich konnte nicht anders als beeindruckt zu sein. Der Graf hatte Königin Elizabeth miterlebt, die Entdeckung Amerikas und das Ende des Mittelalters. Natürlich hatte ich gewusst, dass Vampire mit unter sehr alt waren, aber mit jemandem am Tisch zu sitzen, der zur selben Zeit wie meine Vorfahren gelebt hatte war wirklich...skurril. Und irgendwie aufregend.
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Die sterbliche Baronin
FantasiEngland, 1774 Die Londoner Adelsgesellschaft lebt ausgelassen und ohne Sorgen. Mit rauschenden Bällen, prunkvollen Soirees und der neusten Mode aus Frankreich kann man sich leicht die Zeit vertreiben. Lucinda Phillipa Hastings ist Teil dieser Welt...