Die Eingangstür stand sperrangelweit offen, aber im Foyer warteten zwei groß gebaute, leichenblasse Diener und bewachten die Tür zum Ballsaal. »Halt!«, brummte einer der beiden, als wir Anstalten machten hindurchzugehen. »Sind die beiden mit euch hier?«, fragte er an Isadora gewandt. Wie hatte er so schnell bemerkt, dass wir sterblich waren? Konnte er es etwa riechen?
»Ja, Mr. Baker und seine Frau sind unsere Begleitung für den Abend.« Der große Mann nickte zu einem kleinen Tischchen in der Ecke, auf dem mehrere leere Kristallgläser standen. »Sie müssen zuerst bezahlen. Zwei für jeden.« Ich sah den Lord erschrocken an. Mir war nicht klar gewesen, dass ich Geld brauchen würde. Hoffentlich hatte er genug für uns beide dabei. »Jetzt ist wohl der richtige Zeitpunkt um Euch zu erzählen, dass wir nicht nur die Doyle Schwestern brauchen um in den Saal zu kommen«, raunte er entschuldigend und führte mich zu den Gläsern. »Ich habe kein Geld mitgenommen, wieso habt Ihr mir das auch nicht früher gesagt?«
»Wer redet denn von Geld?«, sagte er und deutete auf das kleine Tischlein vor uns. Was mir vorhin entgangen war, war das filigrane Messer, das neben den Gläsern auf der weißen Tischdecke lag. Es hatte einen wunderschönen Griff aus Elfenbein und eine leicht gebogene Klinge, die, wenn mich nicht alles täuschte, mit einer roten Substanz beschmiert war. Es war kaum zu sehen, weil jemand offenbar versucht hatte es wegzuwischen, dabei aber nicht allzu gründlich gewesen war. Auch waren zu meiner Überraschung nur ein paar der Gläser leer. Die anderen waren gefüllt mit etwas, das große Ähnlichkeit hatte zu...
Ich ließ meinen Blick vom Messer zu den Gläsern und wieder zurück wandern. Dann sah ich Lord Salvertons schuldbewusste Miene und mir ging ein Licht auf. »Nein!«, hauchte ich, aber es abzustreiten hatte keinen Sinn. »Ich dachte, wenn ich es Euch vorher sage, entscheidet Ihr euch vielleicht doch noch dazu nicht mitzukommen«, sagte er.
»Ach, und es mir erst zu sagen, wenn ich vor dem Messer stehe, war die bessere Idee?« Ich funkelte ihn böse an, versuchte aber nicht zu laut zu sprechen, weil der Türsteher uns schon misstrauisch begaffte. »Verzeihung, Mylady. Immerhin sind es nur zwei Gläser. Es gibt schlimmeres.« Ohne zu zögern griff er nach dem Messer und zog es in einer fließenden Bewegung über sein Handgelenk. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper als die Klinge seine Haut durchschnitt, aber mir wurde ein wenig mulmig zumute, als ich sah, wie sein Blut zuerst eines und dann auch noch ein zweites Glas füllte.
»Wärt Ihr so nett?« Mit der unversehrten Hand zog er ein Taschentuch aus seiner Westentasche und streckte es mir entgegen. Als ich es um seinen Unterarm band, färbte sich der weiße Stoff sofort scharlachrot, aber wenigsten lief das Blut jetzt nicht mehr seinen Arm herunter. Jetzt war ich an der Reihe. Zugegeben, die Gläser waren nicht besonders groß, aber trotzdem drehte sich mir bei der Vorstellung, was ich als nächstes tun musste, der Magen um. Ich nahm das zierliche Messer in die Hand und setzte es an der gleichen Stelle an wie er. Dann kniff ich die Augen fest zusammen und drückte zu. Ein brennender Schmerz durchzuckte mich und als ich wieder hinsah, lief das Blut bereits in einem schmalen Rinnsal über meine weiße Haut. Ich hatte ganz vergessen ein Glas bereitzustellen, aber der Lord ergriff geistesgegenwärtig meinen Arm und lenkte ihn ein Stück nach rechts.
Es dauerte kaum dreißig Sekunden bis beide Gläser gefüllt waren und sobald der Lord mein Tuch über dem Schnitt festgebunden hatte, wurde auch der Schmerz schwächer. »Seht Ihr«, sagte der Lord und lächelte. »Nur halb so schlimm.«
Der große breite Vampir räusperte sich und Lord Salverton deutete bereitwillig auf die gefüllten Gläser vor uns. »In Ordnung«, sagte der Türsteher und öffnete die große Flügeltür. »Einen angenehmen Abend wünsche ich.«
Der Ball übertraf meine kühnsten Erwartungen. Bunt gekleidete Gäste spielten tanzend auf Fiedeln, Trommeln und seltsam geformten Flöten. Die Musik klang ausgelassen und fremdländisch. Melodien die scheinbar weder Anfang noch Ende hatten erfüllten den Raum. Eine Choreographie schien es nicht zu geben. Stattdessen wirbelten die Tanzenden wild durch den Raum, hakten sich beieinander ein oder drehten sich auf der Stelle bis die Röcke weit um ihre Körper wehten. Hier und da sah man Paare, die sich eng aneinander pressten und lachend in der Musik versanken. Manche Kleider sahen aus, als seinen sie aus dem letzten Jahrhundert, was vermutlich auch der Wahrheit entsprach und wieder andere zeigten mehr Haut, als ich mich je getraut hätte. Überall standen Tische mit Süßigkeiten, Obst, Gebäck und Wein und die kleinen Blutgläser, zu denen auch wir vor wenigen Minuten beigetragen hatten.
Ich wandte mich an den Lord. »Mir war nicht klar, dass Vampire auch normales Essen zu sich nehmen.« Er reichte mir ein Glas und schüttelte den Kopf. »Das müssen sie auch nicht«, rief er über die Musik hinweg. »Aber es schmeckt ihnen nun mal. Hier, trinkt. Die mischen meistens noch billigen Fusel mit hinein, von Wein allein wird ein Vampir kaum betrunken, aber es schmeckt überraschend gut.« Ich nahm einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht. Man hatte wohl eher den Wein zum Fusel gegeben und nicht umgekehrt. Mein Rachen brannte vom Alkohol. Aber der Lord hatte Recht, es schmeckte gut. Fruchtig und süß, und je mehr man davon trank, desto besser wurde es. »Und jetzt? Wie finden wir die beiden?«
»Am besten mischen wir uns zuerst unters Volk. Wenn wir Misstrauen erregen, könnten wir in ernste Schwierigkeiten geraten. Danke für eure Hilfe.« Das letzte war an die Schwestern gerichtet, die eng beieinander standen. Isadora nickte leicht. »Ihr versteht hoffentlich, dass Ihr von jetzt an auf euch allein gestellt seid. Wir versprachen euch Zutritt zu verschaffen, aber damit endet unsere Abmachung.« »Natürlich«, sagte der Lord. Die beiden wandten sich zum Gehen, aber Lucretia hielt noch einen Moment inne und schenkte mir ein leichtes Lächeln. »Genießt den Abend, Mylady! Dieser Ball ist nicht umsonst berüchtigt.« Dann verschwand sie mit Isadora in der Menge.
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Die sterbliche Baronin
FantasíaEngland, 1774 Die Londoner Adelsgesellschaft lebt ausgelassen und ohne Sorgen. Mit rauschenden Bällen, prunkvollen Soirees und der neusten Mode aus Frankreich kann man sich leicht die Zeit vertreiben. Lucinda Phillipa Hastings ist Teil dieser Welt...