Kapitel 3

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„Warum habt Ihr nichts getan?", fragte Novel und ich schluckte. Ich warf Gideon einen vielsagenden Blick zu. Er durfte mich jetzt nicht im Stich lassen. Nichts konnte entschuldigen, was wir verpasst haben zu tun, aber die beiden gaben uns die Chance, uns zu erklären.

„Als euer Papa noch hier war", begann ich und ich merkte, wie die beiden die Ohren spitzten. Wie sollte ich es bloß sagen, ohne ihren Helden in den Schatten zu stellen, „Euer Papa stand immer hinter Onkel Mathew. Und ich stand bedingungslos hinter ihm. Glaubt nicht, dass ich nicht versucht hätte Mathew umzustimmen, aber ..." ich brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. Wie sollte man alle diese Gefühle in einen Satz bringen. Es gab so viel, dass ich heute anders machen würde und auch könnte. Aber ich hatte noch nicht den Mut mich gegen die beiden aufzulehnen. Ich weiß nicht, ob ich jemals den Mut gefunden hätte, mich gegen meinen Mann aufzulehnen.

„Mathews Entscheidungen waren unanfechtbar, Jungs", wandte sich schließlich Gideon zu Wort. „Niemand riet ihm dazu, aber er hätte sich einzig und alleine von einer Revolte abhalten lassen", Gideons Stimme war leiser geworden und ich biss mir auf die Lippen. Die Erinnerungen fluteten meinen Kopf und ich sehnte mich nach Pagets Wärme. Nach seinen Armen, auf die ich mich verlassen konnte, wenn auch nicht auf seinen Liebe. Aber seinen Körper hätte er immer vor mich gestellt. „Eure Mama war zu jung und zu unerfahren, um sich gegen ihren Mann zu stellen und ich ...", er brach erneut ab und wandte den Blick in die Augen meiner Söhne „Ich hatte nicht die Kraft, die es benötigt hätte um sich gegen ihn aufzulehnen. Ich überließ Politik gerne meinen Brüdern"

Avel und Novel wandten sich immer wieder zueinander und zwischen ihnen schien eine stumme Diskussion stattzufinden. In einer Sprach die nur die beiden beherrschten. „Ich war nicht zu jung", gestand ich schließlich und sah dabei eher Gideon als meine Kinder an, „ich getraute es mich einfach nicht!"

„Ihr habt also zugesehen, wie fünfzehn Menschen durch Exekution das Leben verloren?", bohrte Novel nach und ich presste meine Lippen zusammen. Ich schüttelte den Kopf. „Ich war dabei, als die Ministerin hingerichtet wurde. Es war die erste Hinrichtung in einer Reihe, bei der mich Mathew aber zum Glück nicht mehr dabeihaben wollte" Aber in einem Punkt hatten sie Recht. Ich hab wortwörtlich zugesehen, wie Mathew den Befehl gab, die Ministerin zu erschießen. Ich bin direkt hinter den beiden Männern gestanden und habe nichts unternommen. Abgesehen von meinem Betteln und Flehen.

„Und Ihr gebt Mathew die Schuld dafür?" – „Schuld tragen wir alle, ihr beiden. Aber ja, es war Mathews Entscheidung und es war sein gottgegebenes Recht es durchzusetzen" Ich ballte die Hände in meinem Rock zu Fäusten. Wäre Mathew nicht erkrankt, würden sie seine Macht niemals in Frage stellen. Das sollten sie auch jetzt nicht. Immerhin war er der Herrscher.

„War er so mächtig wie Ihr heute, Mama?", fragte Avel und ich war versucht aufzulachen. Doch da sich plötzlich alle Blicke auf mich richteten, schwieg ich. Niemand zweifelt meine Entscheidungen an. Zumindest getrauten es sich nur mehr die Wenigsten sich mir in den Weg zu stellen. War ich in etwa so mächtig wie ...? Hilfesuchend wandte ich mich zu Gideon. Das konnte es nicht geben. Er war der Kaiser. Es ist seine Macht. „Ähnlich. Aber eure Mama trägt immer noch nicht die Krone. Stellte sie Euch vor mit Allmacht, die ihr die Krone und Gott verleihen würde. Dann könnt annähernd begreifen, wie es war",

„Ich glaube nicht, dass Ihr diese Macht verdient habt", zischte Novel im selben Moment und ich schluckte. „Es reicht, kleiner Prinz", fuhr Gideon dazwischen. „Ihr versteckt Euch gerade hinter Macht und Liebe, Mama. Aber Eure Loyalität hat Euch blind gemacht! Bei Eurem Versuch erwachsen zu werden, mussten unzählige Menschen ihr Leben lassen!", schrie er und war aufgesprungen. Ich rutschte auf der Sitzgruppe zurück und ließ die kühle Maske der Regierung über mein Gesicht gleiten. Es waren lediglich Vorwürfe. Nichts Neues und auch nichts, an dem ich zu Grunde gehen würde. In Gedanken wiederholte ich den Satz so oft, bis die Sätze an mir abprallten, als würde er sie zu jemand anderem sagen. Mein Sohn ...

„Ich hoffe für dich, dass du auf deinem Weg keine Fehler begehst", flüsterte ich schließlich und die Kälte wich aus meinem Blick. Damit kehrte der Schmerz zurück. Novel stampfte mit dem Fuß auf und stürmte aus der Tür. Die er mit einem lauten Knall zuschlug. Avel starrte ihm einen Moment hinterher und ich merkte, wie er zögerte.

„Sieh nach ihm, Avel. Er braucht dich jetzt"

„Und Ihr, Mama?"

„Mir geht es gut"

Ich bemerkte seinen zweifelnden Blick, seinen stummen Hilferuf, aber ich konnte ihn nicht ansehen, ohne in Tränen auszubrechen. Gideon legte eine Hand auf meine Schulter und ich atmete tief durch. Es stimmte. Ich durfte dieses Gespräch nicht alleine führen. Aber Gideon war der Falsche. „Geh mit Avel. Er soll nicht mit dieser Wut im Bauch zu Bett gehen" Ich schniefte und spürte, wie Gideon seine Hand fester auf meine Schulter presste.

„Geht, bevor wir ihn verlieren"

Ich wischte mir die Tränen von der Wange und ließ mir das Licht des Mondes ins Gesicht scheinen. Wie konnte ich bloß ... Ich presste meine Hand gegen die Stirn und ging immer wieder jedes Gespräch durch. Ohne Gewissensbisse habe ich mein Leben weiterlaufen lassen. Ich habe mich nicht ausreichend gewehrt. Nicht hart genug gekämpft.

„Bitte entschuldigt", ich fuhr herum und wischte mir mit einer fahrigen Handbewegung über die Wange. Der Gesandte. „Geht!", fuhr ich an, „oder ich hole die Wache" Er hob belustigt seine Augenbrauen und ich presste sofort die Lippen zusammen. Eine Hofdame hätte niemals ... Gott, gleich würde meine Tarnung auffliegen. „Wer seid Ihr, dass Ihr mit dieser Souveränität ...?" – „Reicht es Euch nicht zu wissen, dass ich Euch helfen werde, Mylord?"

Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und seine Augen blitzten amüsiert auf. „Ihr seid so schön" flüsterte er und wischte mir eine Träne von der Wange. Ich starrte überrascht auf seine Hand. Ich erinnerte mich noch genau, wie sich Pagets Hand an meine Wange geschmiegt hat. Es fühlte sich an, als würde ich an diesem Abend nochmal verlieren. Denn das hier war nicht im Geringsten damit vergleichen.

„Hab ich etwas Falsches gesagt?", fragte er und zog seine Hand zurück. Ich schüttelte den Kopf und ließ zu, dass er mich zu einer Bank schob. Ich sollte gehen. Damit ich mein Herz, meine Identität und vor allem meine Krone behalten konnte. Aber sein Blick machte es mir unmöglich mich nur einen Zentimeter zu rühren. „Ich habe einen furchtbaren Fehler gemacht", schluchzte ich schließlich und vergrub meinen Kopf in den Händen. Er legte seine Hand auf meinen Schultern und rückte näher an mich heran. „Könnt Ihr es mir sagen?", fragte er und ich schüttelte stumm den Kopf. Mir fiel keine Lüge ein, die glaubhaft gewesen wäre. „Ihre Majestät ist bereits gespannt, Euch kennenzulernen" – „Ich hoffe Ihr habt Ihrer Majestät nicht von meinem brüsken Verhalten berichtet, Gräfin! Ansonsten wird sie mich sofort abweisen" Meine Tränen versiegten und ich zog amüsiert die Augenbrauen nach oben. Soso, sehr spannend was er so von mir hielt. „Wie kommt Ihr darauf, Mylord?", fragte ich und spürte sein Lächeln praktisch an meinem Körper. Die Kälter der Nacht war wie weggeblasen. „Ihre Majestät scheint eine taffe Person zu sein, aber kalt, seid Ihr Mann sie verlassen hat", erklärte er und ich schluckte kurz. „Ja", flüsterte ich und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, „dass hat sie nie ganz überwunden" Er legte seine Hand wieder an meine Wange und drückte meinen Kopf zu sich. „Eure Augen glänzen", murmelte er und fuhr mit seinen langen Fingern, über meine Haut. Ich lachte heiser auf und spürte, wie eine Träne über meine Wange rollte.

„Lavinia?"

Ich fuhr zurück, als ich Gideons Stimme vernahm. Für einen Moment schloss ich die Augen und drängte die Wärme dieses Moments zurück. Ganz tief in mich hinein, damit ich sie später wiederfinden könnte. „Ihr müsst gehen, Mylord. Das ist Erzherzog Gideon. Er wird nicht erfreut sein, Euch hier anzutreffen", log ich und trat einige Schritte zurück. „Werdet Ihr die Erzherzogin morgen begleiten?", fragte er und griff nach meiner Hand. Ich wich einen weiteren Schritt zurück, da ich Gideon erneut rufen hörte. So wie ich Gideon kannte, wurde er mich die nächsten zehn Jahre damit aufziehen. „Vielleicht", flüsterte ich und wandte den Blick nochmal auf unsere verflochtenen Finger. Er hatte einen festen, sicheren Griff, auf den man sich verlassen konnte.


Lavinia, dass Mädchen unter VielenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt