Maida hielt bereits meine schwarze Robe bereit und so war ich die Erste der Familie, die sich angekleidet in seinen Räumen wieder fand. Nemours kam bald darauf und entschuldigte Gwen. Sie brauche einen Moment, meinte er. Nemours blieb direkt neben der Tür stehen und Gideon hätte ihn fast damit geschlagen, als er hereinstürmte. „Meine Kleine", murmelte er und schloss mich sofort in seine Arme. Eigentlich sollte mir das vor Nemours unangenehm sein, aber ich war froh, dass er mich festhielt. Das würde er bald nicht mehr tun können.
Gwens Schluchzen zerriss mein Herz aufs Neue. Nemours stand stillschweigend neben ihr und bot ihr seine Hand. Aber sie schlug sie weg. Gideon ließ mich nicht los, deshalb konnte ich nicht zu ihr. Ich hätte mir so gerne die Ohren zugehalten. Ihr Wehklagen tat fast noch mehr weh, wie mein eigener Schmerz.
„Gwendolin", Nemours kniete sich schließlich hinter sie und versuchte sie von Mathews Leiche wegzuziehen. Langsam löste sie sich von ihm, aber immer erst, wenn Nemours aufgehört hat an ihr zu zerren. „Werdet Ihr Euch wirklich zuerst krönen lassen, bevor Ihr meinen toten Bruder beerdigt?" – „Gwendolin, der Ministerrat hat entschieden" Ich trat näher auf ihn zu. Dieses Gespräch sollte definitiv nicht in seinem Sterbezimmer stattfinden. „Wann hat der Ministerrat getagt?", fragte ich und zog meine Augenbrauen hoch. Man hätte mich unterrichten müssen.
„Ich habe Euch würdig vertreten, Majestät"
„Nichts hast du! Die Seele meines Bruders hast du verkauft!"
„Wollen wir das nicht besprechen, wenn wir einige Stunden geschlafen haben?"
Nemours schob Gwen mehr aus dem Zimmer als sie wirklich ging, aber schlussendlich ließ sie sich von ihm in den Arm nehmen. „Ich weiß nicht, was ich ohne euch drei an meiner Seite tun soll", scherzte ich schließlich und ließ mich wieder ins Bett sinken. Mathews Haut erkaltete langsam. Ich konnte ihn nicht alleine lassen, bevor die Priester kamen und ihn salbten. Das wäre nicht richtig. „Diesem Land den Frieden schenken, meine Kleine. Genauso wie du es von Anbeginn an wolltest"
Zu meiner Schande schlief ich wirklich. Als mich Maida um acht Uhr weckte, befand ich mich noch in einem Tiefschlaf. Als mich Paget verließ, folgte nächtelanges Weinen. Wenn Mathew starb, schlummerte ich wie ein Kleinkind. „Ihr braucht diese Kraft", baute mich Maida auf, als sie mich in meine Arbeitsräume begleitet. Ich musste mir ansehen, was sich Mathew betreffend Grace gedacht hat und dann ... dann würde ich nicht mehr mit ihm sprechen. Ich schloss beschämt meine Augen.
Er konnte doch nicht wirklich fort sein.
Die Präzision mit der er diesen Plan ausgefeilt hatte, klang ganz nach ihm. Das war sein letztes und größtes Geschenk an mich, seit wir Grace verloren hatten. „Majestät, soll ich die Kinder ermahnen?", fragte Delune ich sah überrascht auf. Ihr Lachen perlte wie Sonnenstrahlen durch die geöffneten Fenster.
„Lasst sie fröhlich sein"
„Aber der Hof trauert"
„Die Kinder begreifen noch nicht, dass er nicht zurückkehren wird. Lasst ihnen Zeit"
„Der Hof könnte das falsch verstehen"
Ich erhob mich von meinem Sessel und funkelte sie an. Wie konnte sie es selbst heute noch wagen? Mathew war fort. Niemand hielt mehr eine schützende Hand über sie. Ausnahmsweise wurde sie unter meinem Blick kleiner.
„Macht aus lachenden Kindern keine Staatsaffäre"
***
„George", ich drückte mich aus meinem Sessel hoch und winkte den Jungen zu mir heran. In seinen Augen erkannte ich Mathew wieder. Im Vergleich zu meinen Zwillingen, war George wirklich noch ein Kind. Ich konnte mir vorstellen, dass gerade die Welt unter ihm zusammengebrochen ist. „Wieso habt Ihr nicht nach mir rufen lassen, Tante?", fragte er leise und ich zog ihn stumm in eine Umarmung. Kein Kind sollte seinen Vater zu Grunde gehen sehen. Weiß Gott, er hatte genug abbekommen.
„Darf ich zu ihm?", fragte er weiter und ich nickte sofort. Im Vergleich zu meinen Kindern griff er dankbar nach meiner Hand und ließ sich in sein Schlafzimmer führen. Ob er schon Mal hier war? Seinen großen Augen nach zu schließen eher nicht. Die Vorhänge waren zugezogen und ich kniete mich nochmal vor ihn hin. „Du musst jetzt sehr tapfer sein, George", warnte ich ihn und er nickte ernst. Das hatte er nicht verdient. Ich schlang meine Arme um ihn, während ich einem der Soldaten, die um sein Bett wache standen, einen Wink gab. Der Vorhang wurde behutsam zur Seite gezogen. Als wollten die Wache seine letzte Ruhe nicht stören.
George schluchzte sofort auf. Ich drehte ihn um zu mir und drückte seinen Kopf auf meine Halsbeuge. Sein Schluchzen riss alles erneut in mir auf. Ich riskierte einen Blick auf sein Bett. Er war leichenblass. Natürlich, ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Er war tot. Von meiner Position am Boden sah es so aus, als würde er lächeln. Das beruhigte mich. Er war jetzt an einem besseren Ort. Bei seiner Mutter und vielleicht auch bei Paget. Wer wusste schon, was dieser Mann trieb oder nicht.
George drückte sich los von mir und huschte näher ans Kopfende. Vorsichtig legte er seine kleinen Hände über die gefalteten seines Vaters.
„Wieso ist er so kalt, Tante?"
„Wenn das Herz aufhört zu schlagen, sorgt niemand mehr für Wärme"
„Friert er jetzt, Tante Lavinia?"
„Nein, mein Kleiner"Ich trat widerwillig zum Kopfende vor und legte meine Hand auf die des Jungen. Mathew wirkte auf mich, als würde er schlafen. Ganz tief und fest und endlich frei von Qualen. Einzelne Tränen rannen mir über die Wange. Ich hätte ihm so gerne dafür gedankt, dass er einen Weg gefunden hatte, Grace zurückzuholen. Oder dafür, dass er mir gezeigt hat, wie man hier am Hof überlebte.
„Nicht, Tante Lavinia. Papa mochte es nicht, wenn Ihr weint", munterte mich George auf und ich nickte schwach. Ich ging nochmal vor ihm auf die Knie und drückte meine Lippen auf seine Stirn. „Geh und hol alle zum Essen zusammen. Machst du das für mich?", bat ich und er nickte eifrig.
Sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte, schmiss ich die Wachen hinaus. Zu meiner eigenen Überraschung gingen sie wortlos. Ich ließ mich neben dem Bett zu Boden sinken und bettete meinen Kopf auf den weichen Laken. Ich sehnte mich bereits jetzt nach seinem Rat, nach seinen tröstenden Berührungen. Gott, wie sollte ich das alles hier ohne ihn schaffen?
***
Ich hatte es zu Stande gebracht mich bis zur Tür zu schleppen. Aber ich konnte sie einfach nicht öffnen. Ihn hier alleine lassen mit den fremden Männern. Außerdem konnte ich nicht durch die Tür gehen, da mein Gesicht vom Weinen verquollen war und ich mir diese Blöße nicht geben durfte. „Lavinia. Ich habe mir schon sorgen gemacht", rief Dorian und verschloss die Tür hinter sich. Schweigend legte er die Arme um mich. Drückte aber nicht zu. Überlies es mir, ob ich mich an ihn schmiegen wollte oder nicht.
Mein Gewissen wäre erleichtert gewesen, hätte er mich zu einer Umarmung genötigt. Jetzt schmuste ich mit meinem neuen Verlobten im Schlafzimmer meines verstorbenen Verlobten. Die Welt war ein eigenartiger Ort geworden. Wo war all die Struktur meines Lebens hin verschwunden? „Es tut mir so leid, Lavinia", flüsterte er mir ins Ohr. Ich lachte leise auf. Mein Verstand mochte umnebelt sein, aber ich war noch so klar zu merken, dass er log. „Wann hat dir Mathew gesagt, dass du mich heiraten könntest" – „Noch bevor ich nach Italien ging"
Verbittert presste ich meine Lippen zusammen. Das war vor 3 Jahren. Mathew wusste also, dass ich nie vorgehabt hatte ihn zu heiraten. Ich schämte mich so. Vor allem, da ich ihm jetzt die Welt zu Füßen legen würde, gäbe es nur nochmal die Chance für mich.
„Das bedeutet nicht, dass ich nicht trauere"
„Das werf ich dir auch gar nicht vor. Ich muss jetzt trotzdem alleine sein"
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Lavinia, dass Mädchen unter Vielen
Historical FictionLavinia wird mit der Gewissheit konfrontiert, dass Paget nicht zurückkehren wird, während ihr Cousin Mathew immer schwächer wird. Wer wird das Land reagieren, sollte Mathew wirklich sterben und wer steht ihr dann noch zur Seite? Im letzten Band dies...