Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss und Anna stützte atemlos die Hände auf die Knie. Draußen auf der Straße erklangen Schritte. Anna hielt den Atem an, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, dachte sie und lauschte angestrengt, bis die Schritte verklungen waren. Doch noch wagte sie sich nicht zurück ins Freie. Sie zwang ihre zittrigen Beine zum Gehorsam und suchte sich einen Weg durch den dunklen Hausflur, in dem sie gelandet war. Nach wenigen Schritten stieß sie auf einen Treppenabsatz. Anna hob vorsichtig den Fuß und tastete sich vorwärts. Schritt für Schritt zog sie sich höher, die Hand auf dem schwankenden Geländer zu ihrer Linken und schon stieß ihr Fuß ins Leere. Erschrocken krallte sie sich am Geländer fest, das unter ihrem Gewicht gefährlich nachgab. Anna hielt inne, sortierte ihre Glieder und ihre Gedanken und setzte den Fuß höher, über die fehlende Stufe hinaus.
Oben angekommen, fand sie sich vor einer schmalen Holztür wieder, unter der ein schwacher Lichtschein ins Treppenhaus fiel. Anna legte ihr Ohr gegen das raue Holz und horchte angestrengt. Doch auf der anderen Seite war nichts zu hören, als das Echo des Straßenlärms und das Pfeifen des Windes. Mit klopfendem Herzen tastete sie nach der Klinke und drückte sie langsam nach unten. Nach der maroden Treppe hätte sie erwartet, dass die Tür quietschen würde oder direkt aus den Angeln fallen, doch nichts dergleichen geschah. Sie glitt lautlos auf und gab den Blick auf ein kleines Dachzimmer frei.
Anna lugte um die Ecke. Der Raum war praktisch leer. In einer Ecke entdeckte sie ein altes Strohlager. Ein Tisch, dem ein Bein fehlte und ein wackliges Dreibein in der Mitte des Raumes ließen das ganze sehr ärmlich wirken. Außerdem schien es verlassen. Sie trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Im Zimmer gab es nicht mehr zu entdecken als das, was sie auf den ersten Blick schon gesehen hatte und mit einem erleichterten Seufzer wandte sie sich zum einzigen Fenster im Raum. Eigentlich hatte es die Bezeichnung Fenster nicht verdient, es war nur ein Loch in der Wand, durch das etwas Licht herein fiel. Vorsichtig spähte sie hinaus als ihr plötzlich ein stechender Schmerz durch die Schulter fuhr. Jemand hatte sie an den Oberarmen gepackt und drehte ihren rechten Arm schmerzhaft weit auf den Rücken. Anna keuchte erschrocken auf und versuchte sich zu befreien. Sie warf sich nach vorn um sich aus dem Griff zu winden und nach ihrem Angreifer zu treten, doch vergeblich. Wo war er hergekommen? Er hatte sie fest gepackt und Anna konnte sich kaum bewegen. Ein warmer Atemzug streifte ihr Ohr und sie zuckte zusammen als eine raue Stimme sie anfuhr.
„Was hast du hier zu suchen, Kleine? Rede!"
„Du tust mir weh, verdammt", zischte sie und kämpfte weiter vergeblich gegen ihn an.
„Das ist Absicht. Antworte auf meine Frage."
Ein Ruck ging durch ihren Arm und plötzlich sah sie sich dem Mann gegenüber, der sie immer noch fest im Griff hatte. Überrascht starrte sie ihn an. Es war ein junger Mann, er konnte nicht viel älter sein als Amon, vielleicht drei, vier Jahre. Das volle dunkle Haar fiel ihm ins Gesicht, das so bleich war wie Meerschaum wenn sich das Mondlicht darin spiegelt. Aber am faszinierendsten waren seine Augen. Tiefe schwarze Abgründe, die Anna in ihren Bann zogen. Sie tauchte ein in einen endlosen Raum, der alles Licht verschluckte und dem sie nicht mehr entkommen konnte, so sehr sich ihr Verstand auch bemühte. Sie verlor jedes Gefühl für ihre Umgebung, vergaß ihre Angst, ja sogar ihren Namen. Es schien plötzlich alles nicht mehr wichtig.
Ein heißer Schlag auf die Wange holte sie zurück in die Wirklichkeit. Sie stand noch immer vor dem jungen Mann mit der rauen Stimme und der weißen Haut.
„Ich rede mit dir. Also was ist? Was suchst du in meinem Haus?"
So schnell das seltsame Gefühl gekommen war, so schnell war es wieder vorbei. Anna gewann ihre Fassung wieder und grinste den Mann frech an.
„Das nennst du ein Haus? Ruine würde besser passen. Der Wind pfeift ja durch alle Ritzen."
Sein Gesichtsausdruck verriet ihr sofort, dass sie zu weit gegangen war.
„Ok ok, ich wollte mich nur umsehen", sagte sie beschwichtigend. „ Konnte ja nicht wissen, dass hier jemand wohnt."
„Was wollte die Stadtwache von dir?", fragte er ruhig, doch sie erkannte Zorn und Ungeduld in seiner Stimme. Rasch überschlug sie ihre Möglichkeiten. Er hatte ihr noch nichts getan und zur Stadtwache gehörte er sicher nicht. Wahrscheinlich hatte er selbst etwas zu verbergen und es bestand zumindest eine Chance, dass er sie unbehelligt laufen ließ. Seufzend gab sie sich geschlagen.
„Ich hab was auf dem Markt stibitzt. Und? Von irgendwas muss ich schließlich leben", erklärte sie trotzig.
„Deshalb verfolgen dich zwei Soldaten von der Garde?"
„Fünf."
„Wie bitte?"
„Es waren fünf."
Seine Miene zeigte keinerlei Regung. Sie zuckte die Schultern. Entweder er würde ihr glauben oder sie hatte sowieso verspielt.
Ohne ein weiteres Wort schob er sie durch den Raum und drückte sie auf den einzigen Hocker. Dann ließ er sie los. Anna wartete angespannt, als seine Hand in einem Beutel verschwand und einen halben Laib Brot zutage förderte. Er brach ein Stück ab und reichte es ihr. Sie schluckte ihren Stolz hinunter - seit zwei Tagen hatte sie nichts mehr gegessen - und griff nach dem Brot.
„Wie heißt du?"
„Anna", presste sie zwischen zwei Bissen hervor.
„Anna also. Wo sind deine Eltern?"
Anna schluckte und hielt inne. Dieses Thema war heikel. Sie hatte zwar ihre Eltern nie kennen gelernt, aber sie wusste genug über sie um ihre Namen niemals auszusprechen. Zornig funkelte sie den Mann an und erwiderte: „Ich habe keine."
Er nickte stumm und kramte in seinem Beutel wieder nach dem Brot. Dann drückte er ihr den ganzen restlichen Laib in die Hand und sagte:
„Stehlen gehört sich nicht, kleine Anna."
„Ich will keine Almosen", stieß sie wütend hervor und schob den Laib zurück. Der Mann zog überrascht die Augenbrauen hoch, die erste echte Regung seit er vor ihr stand. Dann nahm er das Brot und ließ es zurück in den Beutel fallen.
Fast bereute sie, es abgelehnt zu haben und ihr Magen tat seinen Protest lautstark kund. Anna starrte den Mann trotzig an, nein, sie würde jetzt nicht klein beigeben.
Dessen Blick huschte für einen Moment auf ihren knurrenden Bauch hinunter, dann sah er sie an. Bildete sie sich das ein, oder war das ein Lächeln, das seine Mundwinkel umspielte?
„Gut", sagte er. „Du hast Hunger, ich habe Brot. Die Frage ist also, was kannst du mir im Tausch dafür anbieten?"
Entsetzt starrte sie ihn an. Sie war nicht dumm. Viele Mädchen verkauften ihren Körper. Sie kannte einige und sie hatte sich geschworen sich niemals so erniedrigen zulassen. Ihre Reaktion musste ihn verwirrt haben, denn er hielt inne und musterte sie stumm. Dann brach er plötzlich in Lachen aus. Es klang seltsam rau, als hätte er es lange Zeit nicht getan.
„Entschuldige, ich glaube ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich könnte tatsächlich Hilfe gebrauchen. Du bist ein Straßenkind?" Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Gut.Ich brauche Informationen. Es ist ganz einfach. Hör dich für mich in der Stadt um. Am Markt, am Hafen, einfach überall. Bring mir Antworten auf meine Fragen und ich gebe dir dafür zu essen."
Sie musterte ihn skeptisch.„Ich soll für Euch spionieren?", fragte sie vorsichtig.
„Nenn es wie du willst. Was sagst du dazu?"
Anna stand auf und musterte ihn nachdenklich.
„Wie heißt Ihr?", fragte sie. Er zögerte.
„Aric", sagte er dann beiläufig.
„Ich bin einverstanden, Aric."
Sie hielt ihm ihre Hand hin und er schlug ein.
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Das Erbe der schwarzen Königin
FantasyFeuer wird Erde verbrennen, Wind wird ihre Asche aufs Meer hinaus tragen, Wasser schenkt ihr neues Leben. Nichts ist ewig, doch es währt für immer... Anna lebt auf der Straße. Zusammen mit ihrem besten Freund Amon lässt sie sich treiben. Ihre einzig...