Ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie auf die Lichtung hinaus trat. Es war eiskalt, der Wind brannte ihr im Gesicht. Bei ihrem Marsch über den zugefrorenen See wäre sie beinah eingebrochen, die Ebene hatte ihr ein ungutes Gefühl des Ausgeliefertseins gegeben und als sie das offene Land endlich hinter sich gelassen hatte, war sie in ihrer Erschöpfung unvorsichtig geworden und gestürzt. Hände und Knie hatte sie sich aufgeschürft und ihre Muskeln schmerzten von dem tagelangen Marsch. Doch sie hatte es geschafft. Nun stand sie hier auf einer kleinen Lichtung im Mitwald und orientierte sich.
Auf einem umgestürzten Baumstamm ließ sie sich nieder und öffnete das Bündel, das Amon nicht gesehen hatte. Jahrelang hatte sie es versteckt, hatte es gehütet wie ihre Geheimnisse und dann unter ihrem Hemd wieder hinaus aus der Stadt geschmuggelt. Mit klopfendem Herzen hob sie es auf ihren Schoss und öffnete die Knoten. Die Lederhülle fiel ab und zum Vorschein kamen verschiedene Dinge. Ein Messer mit handgeschnitztem Griff und ein Paar lederne Handschuhe. Dann war da noch ein grasgrüner Wollmantel. Wehmütig ließ Anna den Stoff durch die Finger gleiten. Er war federleicht und schien doch sehr warm zu sein und seine Farbe war ungewöhnlich. Er hatte ihrer Mutter gehört und als sie Saronns Burg verlassen hatte, hatte sie ihn mitgenommen. Genau wie die anderen Dinge in dem Bündel. Nachdem sie sich den Mantel über die Schulter gelegt hatte, das Messer in ihren Gürtel gesteckt und die Handschuhe übergestreift hatte, lag in ihrem Schoss nur noch eine Sache: eine unscheinbare Kette, an der ein Ring hing. Sie drehte ihn zwischen den Fingern und fand die Gravierung auf der Innenseite: zwei verschnörkelte Buchstaben. Ein E und ein T und dann stand da noch „Trotz dem Schicksal." E stand für Estell. Sohatte ihre Mutter geheißen. T stand für Taos, ihren Vater. Sie legte sich die Kette um den Hals, als sie hinter sich Schritte hörte, schwere Stiefel, die über den gefrorenen Boden scharrten.Erschrocken drehte sie sich um und starrte den Mann an, der 20 Schritte entfernt aus dem Wald getreten war. Seine Lippen verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln.
Anna stand völlig benommen da, während der Fremde auf sie zukam. Ihr Kopf befahl ihr wegzulaufen, doch sie konnte sich nicht rühren. Sie konnte nur dastehen und zusehen, wie der Mann näher kam. Dann stand er vor ihr und so schnell, dass sie es kaum wahrnahm, schnellte seine Faust nach vorn und traf sie hart auf die Brust.
Ihr blieb die Luft weg und ein scharfer Schmerz fuhr durch ihren Rumpf, vergeblich versuchte sie zu atmen und mit dem Sauerstoff schwand auch ihr Bewusstsein. Das hämische Grinsen verschwamm vor ihrem Gesicht und die Knie sackten ihr weg. Laut rauschte das Blut in ihren Ohren, dann wurde es schwarz um sie.
Das erste, was sie spürte, als sie das Bewusstsein wiedererlangte, war die Nässe, die durch ihre Kleider drang. Sie wand sich unbehaglich auf dem Boden und zuckte erschrocken zusammen, als sich ihre Glieder nicht bewegen ließen. Anna zwang ihre Lider nach oben und starrte auf ihren gekrümmten Körper. Dünne Seile wanden sich um ihre Brust und zwangen ihre Arme an ihre Seiten. Auch die Beine waren gefesselt. Das Seil schnitt in ihre Haut und mit dem Schmerz stieg Panik in ihr auf. Sie war gefangen. Hilflos ausgeliefert und allein. Tränen stiegen ihr in die Augen und Verzweiflung drohte sie zu überwältigen. Doch sie hatte keine Zeit sich lange zu fürchten, denn schon packten grobe Hände nach ihren Hüften und erzwangen ihre Aufmerksamkeit, als der Mann sie hochhob und über den Rücken seines Pferdes warf. Woher kam das Pferd? Der Gedanke durchzuckte sie im selben Moment wie sich der Sattelknauf in ihren Magen rammte. Sie würgte und übergab sich gequält in den schmutzigen Schnee. Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut verließ ihren Mund. Der Mann stieg neben ihr auf. Seine Hand hielt ihren Körper fest auf dem Pferderücken, während sich das Tier mit einem Ruck in Bewegung setzte.
Anna konnte nicht abschätzen wie lange sie unterwegs gewesen waren. Ihre Glieder wurden immer steifer und irgendwann begann die Kälte die Schmerzen zu betäuben. Sie spürte sich kaum in ihrer Benommenheit und der Ritt kam ihr vor wie ein langer, zäher Albtraum. Unscharfe Bilder zuckten durch ihren Kopf, Menschen, deren Gesichter sie nicht kannte, drangen auf sie ein und eine Stimme flüsterte ihr Worte zu, die zu undeutlich waren um sie zu verstehen. Sie schien aus unerreichbarer Ferne zu kommen, doch gleichzeitig lockte sie Anna mit unwiderstehlicher Kraft zu sich. Sie hatte das Gefühl diese Stimme sehr gut zu kennen, doch sie wusste nicht woher. Ungeduldig stemmte sie sich gegen die Barrieren in ihrem Kopf, die sie von diesen wunderbar tröstenden warmen Worten fernhielten, doch sie konnte sie nicht erreichen. Sie hörte sie wie durch tiefes Wasser.
Nach einiger Zeit verblassten die Tagträume und sie wurde wacher. Nur langsam wurde sie sich ihrer Umgebung wieder bewusst. Anna versuchte etwas zu spüren, doch ihr Körper schien nicht da zu sein. Mühsam öffnete sie die Augen und blickte in einen sternenlosen Abendhimmel. Sie erinnerte sich dumpf daran auf einem Pferderücken gelegen zu haben und eine Ewigkeit lang den gleichmäßigen Schritten des Tieres zugeschaut zu haben. Sofort war ihr klar, was sich verändert hatte. Sie sah den Himmel, also lag sie auf dem Rücken. Unter ihr bewegte sich nichts, also lag sie auf dem Boden. Da ihr die Kraft fehlte sich aufzurichten, blieb sie einfach liegen, starrte in den Himmel und versuchte vergeblich ihre tauben Glieder zu erspüren. Es machte sie unruhig, dass sie nicht einmal Schmerz empfand, denn sie erinnerte sich noch lebhaft an die Torturen vom Vormittag. Als sie neben sich Schritte hörte, hielt sie ängstlich den Atem an. Ein Gesicht schob sich in ihr Sichtfeld, das sie zu fürchten gelernt hatte. Die braunen Augen des Mannes wirkten unter den buschigen Brauen kaum menschlich und die scharfen Gesichtszüge verstärkten noch den Eindruck eines Raubtieres.
Er musterte sie forschend. Annas Herz klopfte schneller und sie zuckte innerlich zusammen, als etwas ihre Wange berührte. Seine Hand. Langsam strich er mit den Fingern hinab bis zum Kinn und es blieb ihr nichts anderes übrig als ihn mit weit aufgerissenen Augen anzusehen. Sein Daumen strich über ihren Mund und sie spürte wie Panik in ihr aufwallte, als er seine Hand in ihren Nacken legte und ihren Kopf vom Boden hob. Dann schlug etwas Hartes gegen ihre ängstlich zusammengekniffenen Lippen und der Geruch von Leder stieg ihr in die Nase. Als sie die Nässe spürte, die ihr am Kinn hinab lief, schlossen ihre Gedanken zu ihr auf und gierig trank sie von dem kühlen Wasser. Es brannte in ihrer ausgetrockneten Kehle, aber sie ignorierte es, denn sie war unheimlich durstig. Viel zu schnell zog der Mann den Schlauch wieder weg und ließ sie hilflos am Boden liegen. Anna war zu eingeschüchtert um etwas zu sagen und zu erschöpft sich irgendwie zu wehren. Sie seufzte leise und wartete darauf, dass ihr Puls sich beruhigte. Irgendwann sank sie in einen ruhelosen Schlaf.
Dieses Mal waren die Bilder in ihren Träumen klarer:
Ein Soldat, gekleidet ganz in rot und gold stand auf einer Anhöhe und blickte hinab ins Tal. Anna sah ihn an. Ein Ausdruck von Ungeduld und Selbstsicherheit lag in seinen Zügen, den sie nicht zu deuten vermochte. Sie folgte seinem Blick und sah ein riesiges Feld von Zelten, das sich über die ganze Ebene unter ihr erstreckte. Reges Treiben herrschte im Lager und in der Ferne konnte sie Reiter erkennen, die sich dem Fort näherten. Der Soldat neben ihr wurde unruhig und machte sich auf den Weg ins Tal.
Das Bild veränderte sich und sie fand sich in einem dunklen Zelt wieder. Ein Mann ganz in schwarz beugte sich über eine Bahre. Es war ein Priester, wie sie erkannte. Auf der Bahre lag ein junger Mann mit dunklem Haar. Seine Augen waren geschlossen und seine Atmung ging flach. Anna dachte erst, der Priester versuche ihm Heilung zu geben, als sie das Messer in seiner Hand entdeckte. Es hatte eine seltsame Form. Schmal, fast wie eine lange Nadel und gebogen. An der Spitze teilte sich die Klinge. Da holte der Priester aus und stieß dem Mann das Messer tief in die Brust. Ein markerschütternder Schrei drang aus der Kehle des Erstochenen und...
Das Bild verschwamm, doch der Schrei hallte in ihren Ohren wieder. Sie öffnete die Augen. Gerade weit genug um zu registrieren, dass sie wieder unterwegs waren. Die Schatten waren kurz, also musste es gerade Mittag sein. Wie lange hatte sie geschlafen? Doch sie hatte keine Zeit den Gedanken zu Ende zu denken, denn jemand stieß sie plötzlich und mit Wucht vom Pferd und sie schlug hart auf dem schneebedeckten Boden auf. Neben sich hörte sie Hufschläge und das Klingen von Schwertern. Reglos und ängstlich blieb sie liegen, das Gesicht in den Schnee gedrückt und lauschte auf die Kampfgeräusche, die sie umgaben. Kurz wunderte sie sich, dass der Schnee auf ihrer Haut sich nicht kalt anfühlte, dann war es plötzlich still und sie hielt gespannt den Atem an. Jemand drehte sie um, doch sie wagte nicht die Augen zu öffnen. Sie spürte, wie ihre Glieder schlaff zu Boden fielen als ihre Fesseln gelöst wurden, dann hörte sie eine raue Stimme Eine Stimme, die ihr nur allzu bekannt war und sie war klar und sehr real.
„Anna?" Heiße Finger berührten ihren Hals. „Anna, bitte! Anna hörst du mich? Sieh mich an Anna!"
Müde schlug sie die Augen auf und blickte in die schwarzen Abgründe von Arics Augen. Ein erleichterter Seufzer glitt über ihre Lippen. Arics Mundwinkel zuckten.
„Komm, ich bring dich hier weg. Keine Angst, es ist vorbei", sagte er sanft und strich ihr über die Wange. Dann wickelte er sie in einen Wollmantel und nahm sie wie ein Baby in seine starken Arme.
DU LIEST GERADE
Das Erbe der schwarzen Königin
FantastikFeuer wird Erde verbrennen, Wind wird ihre Asche aufs Meer hinaus tragen, Wasser schenkt ihr neues Leben. Nichts ist ewig, doch es währt für immer... Anna lebt auf der Straße. Zusammen mit ihrem besten Freund Amon lässt sie sich treiben. Ihre einzig...