100. Kapitel

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Ein sanfter Wind strich über seine Wange und die Erde unter ihm begann sich zu rühren.

Aric schlug die Augen auf. Dunkelheit war alles, was er sah. Seit Monaten. Er hatte sich längst damit abgefunden. Seine innere Uhr tickte nach den Wachwechseln vor seiner Tür. Mit dem ersten Wechsel stand er auf, mit dem dritten ging er schlafen. Zum zweiten kam sein Essen.

Doch heute war etwas anders. Die Unruhe, die ihn umgab, war beinahe greifbar. Aric richtete sich auf. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch vor seiner Tür regte sich noch nichts. Also noch die Nachtwache, schlussfolgerte er und tastete nach dem kleinen Tonkrug, in dem er sein Wasser bekam.

„Was ist los?", fragte er verschlafen in die Dunkelheit, während er sich zwei Schluck Wasser gönnte. Die nächste Ration war noch Stunden entfernt. Er musste es sich einteilen.

Der Wind wurde heftiger, Panik schwang darin mit.

„Anna?", flüsterte er alarmiert. „Was ist passiert?"

Im selben Moment gab die Wache vor seiner Tür einen Warnruf von sich, gefolgt von Kampfgeräuschen, die so schnell vorbei waren, wie sie begonnen hatten. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen.

Aric sprang auf.


„Anna! Atme! Du hast es bald geschafft!"

„Du bist ein verdammter alter Waldschrat! Was weißt du schon vom Kinderkriegen! Bleib mir mit deinen Ratschlägen vom Leib. Sie sind nicht hilf... Ahhh, verflucht noch mal!"

Anna fluchte sich die Seele aus dem Leib, während Saronn sie nur stirnrunzelnd betrachtete, als wäre sie ein ungelüftetes Geheimnis, zu dem er keinen Zugang fand.

„Ach ja? Willst du damit sagen, du hast hierbei Erfahrung?", zog er sie auf. Anna starrte ihn nieder. Es war ein Wunder, dass er dabei nicht in Flammen aufging. Sie grunzte und atmete um den Schmerz herum. Die nächste Wehe bahnte sich bereits an.

„Ich bin eine Frau! Und ich bin die Reinkarnation ganzer Generationen von Müttern! Ich weiß, was ich tue!", schnauzte sie zurück. Saronn zuckte nur die Schultern.

„Wie du meinst."

„Saronn!"

„Ja?"

„Komm her und..."

„Und was?"

„Was zur Hölle...?"

Sie starrte ins Leere. Auf ihrem Gesicht zeichneten sich Unglauben und Wut ab.

„Seit Tagen schleichen sie um ihn herum und ausgerechnet jetzt beschließen sie, zu handeln? Verfluchte Ibnesen!"

Saronn kam näher. Sorgsam tupfte er ihr den Schweiß von der Stirn, doch sie schob ihn weg. Die Männer hatten fast das Verlies erreicht. Sie musste Aric wecken.

Im dem Moment überfiel sie die nächste Wehe. Schmerz durchzuckte sie, raubte ihr für einen Moment den Atem und den Fokus.

„Sie greifen Aric an", stöhnte sie und Panik mischte sich in ihre Stimme. Sofort war Saronn bei ihr. Er stützte sie, hielt sie fest.

„Konzentriere dich, Anna!"

„Ich..."


Die Tür flog auf und Aric blinzelte in den hellen Fackelschein. Das Licht stach in seinen empfindlichen Augen, machte ihn für mehrere Atemzüge blind. Wertvolle Augenblicke, die er verlor, während er sein Gegenüber näher kommen hörte. Er sah die Bewegung, wehrte sie ab, doch schon war jemand an seiner anderen Seite, ein Schwert zischte durch die Luft. Aric duckte sich instinktiv darunter hinweg. Es waren mindestens zwei, wahrscheinlich mehr, doch noch immer sah er nur verschwommene Schemen. Er stolperte zurück und erstarrte, als er mit einem Körper kollidierte.

„Wohin so eilig?", zischte der Mann und ein gezielter Schlag im Nacken ließ Aric stöhnend in die Knie gehen. Einen Herzschlag später lag eine Klinge an seinem Hals. Aric schluckte.


„Nein!", schluchzte Anna und riss die Augen auf. „Nein, nein, nein, nein, nein, diese Hundsfötte!"

Sie holte tief Luft. Eine Wache eilte den Gang hinunter. Zu spät. Er hatte kaum die Tür erreicht, da fuhr die Klinge über Arics Kehle.

Anna schrie. Blind warf sie ihre Macht aus, Zorn, brodelnd und heiß, folgten ihr auf dem Weg. Gleichzeitig schien sie selbst fast zu zerreißen. Das kleine Leben in ihr hatte es ebenso eilig.

Anna verlor jedes Gefühl für Zeit und Wirklichkeit. Ihr Blut kochte, ihr Körper schrie und ihr Geist schnitt wie ein Messer durch die Welt.


Das Schwert schmolz im Bruchteil einer Sekunde zu flüssigem Erz, der Griff so glühend, dass sein Besitzer es erschrocken fallen ließ. Arics Haut zischte, er keuchte auf, der Schmerz raubte ihm beinahe den Verstand. Doch es war kein Blut, das seinen Hals hinabrann, es war eine geschmolzene Klinge. Aric ging in die Knie, spürte sein Bewusstsein schwinden, doch er klammerte sich mit Gewalt daran fest. Dann sackte er in sich zusammen.

Die Wache kam schlitternd vor ihm zum Stehen. Ein Fluch ertönte. Doch noch ehe der Wärter sich zu ihm hinabbeugen konnte, fegte ein Sturm durch die Zelle, der ihn regelrecht von den Füßen riss. Er schob den Mann hinaus, die Erde begann zu beben. Aric nahm kaum wahr, was um ihn herum passierte. Wut, so unkontrolliert, so lebendig, erfüllte die Zelle, erfüllte seinen Kopf, sein Herz. Der Wind hob ihn auf, kühlte seine Wunden, die bereits anfingen zu heilen. Aric stöhnte, als die Magie an seinen Kräften zehrte, sein Blut zwang zu den Stellen zu fließen, die zerstört waren, sie zu erneuern. Er schauderte, doch die Magie bleib unerbittlich, heilte jeden noch so kleinen Kratzer und Brandfleck, bis nichts mehr übrigblieb als reine unversehrte Haut. Aric sah auf. Vor sich bewegte sich ein Schemen in der Tür. Der Wärter, der zum Schichtwechsel gekommen war. Aric erkannte ihn an seiner Statur, seinem Schritt, seinem Atem. Sein Name war Finja, so viel wusste er.

Finja räusperte sich, schien nach Worten zu suchen, doch im selben Moment krachte die Tür vor seiner Nase zu. Das Metall um das Schloss herum begann zu glühen, dann zu schmelzen, warf einen glühenden Schein in die Zelle und Aric konnte nur den Kopf schütteln. Er war wieder allein.


Ein heller Kinderschrei riss sie aus ihrer Trance. Schweiß vermischte sich mit Tränen und ihrer Kehle entrang sich ein raues Schluchzen.

Mit einem Lächeln legte Saronn ihr das Mädchen in die Arme und Anna konnte nicht anders als dieses Wunder zu bestaunen. Sie war perfekt. Sie begann die kleinen Finger zu zählen, drückte einen Kuss auf die warme weiche Stirn ihrer Tochter, während sie ihr Feuer rief und die Tür zu Arics Zelle versiegelte.

„Soll noch einmal jemand auf die Idee kommen, deinem Vater wehzutun. Er wird erfahren, dass auch der Serafin nur ein Mensch ist. Und meine Liebe lasse ich mir nicht nehmen", erklärte sie ruhig.

Im selben Moment ging das Kind in ihren Armen in Flammen auf.

Anna zuckte zusammen. Was...?

„Sie trägt Feuer in sich", kommentierte Saronn erfreut. Anna blinzelte und strich beruhigend über die brennenden Wangen. Ihre Magie besänftigte die Flammen und das Mädchen schälte sich wieder daraus hervor.

„Du bist etwas ganz besonderes, mein Kind, meine kleine Flamme, mein Sonnenschein, Aurora."

„Aurora? Ist das dein Ernst?"

„Wage es nicht meine Namenwahl zu kritisieren. Sie ist ein Symbol für Neubeginn, sie ist frei, ohne Schicksal, ihre Zukunft noch nicht geschrieben, sie ist wie ein Sonnenaufgang nach einer kalten langen Nacht."

„Aurora also. Willkommen im Leben."

Anna sah auf und begegnete Saronns Blick. Wärme lag darin und ein Lächeln wanderte über seine Lippen. Anna erwiderte es erschöpft. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit in die Ferne. In eine Zelle auf der anderen Seite des Meeres. Sie schickte ein Bild dorthin. Ein Bild aus Licht, aus Flammen und Erde, Wind und Wasser. Ein Bild ihrer gemeinsamen Tochter.

Arics Tränen waren Salz auf ihrer Zunge und ihr Wind strich ihm liebevoll durchs Haar. Er lächelte in die Dunkelheit. Anna drückte das kleine Wunder in ihren Armen fester an sich. Die beiden würden sie mit Sicherheit in Atem halten. Ihre Familie, ihr Leben, ihre Zukunft.

Ihr Lächeln wurde breiter und die Welt lachte mit ihr.


Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt