Anna hatte sich aus ihren nassen Sachen geschält und sie zum Trocknen in der Nähe des Kochfeuers aufgehängt. Von Li bekam sie ein trockenes Hemd und eine Hose, die ihr viel zu weit und zu lang war. Sie schlug die Beine um und schnürte ihren Gürtel um den Bund. Die Luft in den Tunneln war feucht und kalt, sodass sie trotz der trockenen Kleidung immer noch fror. Zitternd stand sie am Feuer und rieb sich die steifen Glieder. Über dem Feuer hing ein großer Kessel aus dem würziger Dampf aufstieg. Neugierig blickte sie hinein. Ein Mädchen, das Anna nicht kannte, kam herbei und rührte mit einem langen Stock um. Sie konnte kaum über den Rand des Kessels blicken und streckte ihre Arme weit über den Kopf um den Stock im Kessel zu halten. Anna trat neben sie.
„Hier, lass mich das machen", bot sie an und griff nach dem Stock.
Dankbar überließ das Mädchen ihr die Arbeit. Der heiße Dampf an ihren Händen und die Bewegung so nah am Feuer ließen endlich das Zittern abklingen. Wohlige Wärme kroch in ihre Glieder und sie begann andere Bedürfnisse wahrzunehmen. Ihr Magen knurrte laut und als hätte sie es gehört kam das kleine Mädchen mit einer Holzschale zurück, die sie Anna lächelnd reichte. Anna nahm sie und tauchte sie in den Eintopf. Vorsichtig nippte sie an der heißen Flüssigkeit und nahm den köstlichen Duft in sich auf.
„Danke!", hauchte sie dem Mädchen zu und reichte ihr wenig später die leere Schale zurück. Dann sah sie sich in der Halle um und beobachtete das geschäftige Treiben. Überall liefen Kinder vorbei, trugen Holz und Bündel mit Decken und anderen Vorräten herbei, verschwanden in den dunklen Gängen zu allen Seiten des Sammelbeckens und tauchten genauso unerwartet wieder daraus hervor. Anna folgte ihnen mit den Augen. Viele von ihnen liefen direkt auf das goldhäutige Mädchen zu, das Li genannt wurde. Sie hörte ihnen zu, antwortete und entließ sie wieder, wahrscheinlich mit einem neuen Auftrag, in Richtung Stadt. Anna erhob sich und ging auf das Mädchen zu. Es war offensichtlich, dass Li hier eine tragende Rolle innehatte. Als sie näher kam, blickte Li fragend von ihrer Arbeit auf.
„Kann ich mich hier irgendwo nützlich machen?", fragte Anna gerade heraus.
Li nickte dankbar und warf einen Blick in die Halle während sie überlegte.
„Geh zurück zum Kochfeuer und hilf Lara mit dem Essen. Sammelt die leeren Schalen überall in der Halle ein, füllt sie und verteilt das Essen an die Leute. Bring einen kleinen Topf davon ins Krankenlager und sorgt dafür, dass die Menschen aus dem Gefängnis dort drüben versorgt sind. Lara hilft dir, dich zurechtzufinden. Wir haben nicht viele Decken, aber versucht sie so zu verteilen, dass diejenigen sie bekommen, die es am Nötigsten haben. Wir haben keinen Zugang zur Stadt und ich weiß nicht, wie lange das anhalten wird. Wir müssen die Rationen einteilen. Mach eine Bestandsaufnahme unserer Vorräte und sag mir, wie es aussieht."
Anna folgte ihrem Finger wenn sie auf die betreffenden Bereiche zeigte, die versorgt werden mussten und hörte aufmerksam zu. Dann nickte sie und eilte zurück zu dem Mädchen am Kochfeuer.
„Lara?", sprach sie sie an. „Ich bin Anna."
Sie erklärte ihr, welche Aufgabe sie von Li bekommen hatte und Lara verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln ob der bevorstehenden Aufgabe, das wenige Essen fair einzuteilen. Als Anna geendet hatte, richtete Lara sich geschäftig auf, drückte Anna den Rührstab wieder in die Hand und nahm einen Beutel vom Boden um die leeren Schüsselchen einzusammeln.
„Na dann, los!", sagte sie wie ein Krieger vor dem Gefecht und Anna musste schmunzeln, während sie dem kleinen Mädchen nachsah, das sich unter die Menschen mischte und fleißig ihrer Aufgabe nachkam. Anna war froh etwas zu tun zu haben. So blieb sie in Bewegung und konnte sich gleichzeitig einen Überblick über die Situation verschaffen. Immer wieder sah sie bekannte Gesichter und viele ihrer alten Spielkameraden winkten ihr zu oder kamen zum Feuer um sie zu begrüßen. Zum Reden schien allerdings kaum Zeit. Der Alarm hatte alle in einen wachsamen und gespannten Zustand versetzt und die Bedrohung, die von der Stadt ausging, war ihnen allen deutlich bewusst. Jeder packte mit an und war gleichzeitig stets sprungbereit wie ein gespannter Bogen. Ständig flogen unruhige Blicke in Richtung der dunklen Tunnel und man wartete unentwegt darauf, dass etwas passierte.
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Das Erbe der schwarzen Königin
FantasíaFeuer wird Erde verbrennen, Wind wird ihre Asche aufs Meer hinaus tragen, Wasser schenkt ihr neues Leben. Nichts ist ewig, doch es währt für immer... Anna lebt auf der Straße. Zusammen mit ihrem besten Freund Amon lässt sie sich treiben. Ihre einzig...