Es war ein kühler Morgen. Anna hatte sich einen warmen Wollmantel über ihre lederne Rüstung geworfen. Nun saß sie verborgen hinter den schützenden Büschen des Waldrandes und schaukelte unruhig auf den Ballen auf und ab. Durch die Zweige hindurch konnte sie die Stadtmauer Zenons erkennen. Mit dem ersten Licht des Tages war auch die Stadt zum Leben erwacht. Händler und Bauern verkehrten durch die Tore, mit vollen Wagen waren sie unterwegs zum Markt oder sie brachen auf ins Landesinnere um dort Waren von Übersee zu verkaufen. Aric war schon vor Sonnenaufgang losgezogen um die Lage einzuschätzen. Da es anscheinend Unruhen in der Stadt gab, war es klug auf alles Mögliche vorbereitet zu sein.
Anna wäre gerne mitgegangen. Nun saß sie hier und starrte in die Richtung in die Aric davon gegangen war. Zenon lag dort so vertraut wie eh und je. Nichts schien sich verändert zu haben. Anna zählte im Kopf die Monate, die sie fort gewesen war. Vier oder Fünf? Sie war sich nicht ganz sicher. Sicher war, dass hier der Frühling schon fleißig den Winter ablöste. Überall um sie herum sprossen junge Frühlingsblumen durch das alte braune Gras. Der Winter hatte sich lange nicht verabschieden wollen, doch nun sah es aus als hätte die Sonne endgültig die Oberhand behalten. Überall im Gebüsch raschelte es und in den Baumwipfeln zwitscherten die Vögel ihr Frühlingslied. Eine friedliche, fröhliche Stimmung lag über dem Wald. Doch Anna konnte sich der Ausgelassenheit nicht anschließen. Etwas zog unangenehm in ihrem Bauch. Die vertrauten Mauern von Zenon kamen ihr plötzlich bedrohlich vor.
Sie hatte Zenon verlassen um Aric zu finden aber auch um ihrer Vergangenheit nachzugehen, um herauszufinden, wer sie war und wer sie sein wollte. Ihr Leben hatte sich in kurzer Zeit drastisch verändert, aber ihre Fragen waren nicht alle beantwortet. Es waren sogar noch mehr geworden.
Die Rückkehr nach Zenon erschien wie eine Bestätigung dafür, dass sie in ihrem Vorhaben gescheitert war. Sie war wieder am Anfang und nun machte sich ein ungewisses Gefühl der Angst in ihr breit, dass sie es kein zweites Mal schaffen würde von hier aufzubrechen.
Die Arme um den Leib gewunden, erhob sie sich und kehrte zurück zum Lager, wo Sogo saß und sein Schwert polierte. Mit einem Seufzer ließ sie sich neben ihm nieder und folgte seinem Beispiel. Aric hatte ihr eingeschärft ihre Waffe immer sauber und bereit zu halten, aber sie hatte es in den letzten Tagen ziemlich vernachlässigt.
„Das ist ein schönes Schwert", bemerkte Sogo mit einem Nicken in Richtung ihrer Waffe.
„Danke", antwortete Anna zögerlich.
„Woher stammt es? Es scheint sehr alt zu sein."
„Ja, ein Familienerbstück."
„Aric meinte, du hast in Zenon gelebt. Kommen deine Eltern von dort?"
Anna schwieg. Die Fragerei war ihr unangenehm, sie wollte aber auch nicht unhöflich erscheinen.
„Tut mir leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich hatte gehofft, du hast noch etwas von deiner Unbeschwertheit behalten, die vielen Kriegern irgendwann verloren geht. Aber Aric ist dafür wohl kein gutes Vorbild..."
„Nein ist schon gut. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht woher meine Eltern kommen. Ich kenne nicht viel mehr als ihre Namen", lenkte Anna ein und ihr wurde bewusst, das diese Antwort, die sie sich für die Frage nach ihren Eltern zurechtgelegt hatte, nun nicht mehr stimmte. Sie wusste jetzt, wer ihr Vater gewesen war und auch woher er kam. Doch sie korrigierte sich nicht. Das eine wie das andere Thema waren heikel. Ihre Verschwiegenheit war für sie der einzige Schutz ihre Magie ausreichend zu verheimlichen und über ihre Eltern redete sie so oder so nicht gerne. Besser sie ließ Sogo nur wenige Anhaltspunkte um weitere Fragen zu stellen.
„Das tut mir leid. Es muss hart sein in diesen Zeiten als Waise aufzuwachsen."
„Ja. Aber ich hatte Glück, denn ich hatte gute Freunde."
„Hier in Zenon?"
„Ja."
„Das ist gut", erwiderte Sogo und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er schien bemerkt zu haben, dass Anna nicht reden wollte, also ließ er es dabei bewenden. Anna widmete ihre Aufmerksamkeit erleichtert wieder ihrem Schwert und für einige Zeit herrschte Stille auf dem kleinen Lagerplatz.
„Wir sind in den Abwasserkanälenunter der Stadt", sagte Lucius und reichte Sahir einen Becher Tee während er sich neben ihm niederließ. „Irgendwo ganz in der Nähe muss sich ein großes Sammelbecken befinden, ich kann die Feuchtigkeit in der Luft spüren."
Sahir nickte und nippte am Tee. Sie befanden sich wieder in einer Art Höhle. Größer und geräumiger als die, in der sie angekommen waren. Hier waren in regelmäßigen Abständen Fackeln an den Wänden angebracht und es war mit Tischen und verschiedenen Sitzgelegenheiten eingerichtet. Natürlich war der Raum im Moment hoffnungslos überfüllt und die meisten saßen am Boden oder lagen auf Decken, wenn sie zu schwach waren. Sahir war aufgefallen, dass sich viele hier untereinander kannten. Es hatten sich Grüppchen gebildet und immer wieder lief jemand von der einen zur anderen Gruppe um sich dort mit den Leuten auszutauschen. Die vielen Gespräche füllten den Raum und Sahir war froh um den einigermaßen einsamen Platz an der Wand ganz in der Nähe der Tür. In der letzten Stunde hatten immer mehr Menschen den Raum verlassen. Hauptsächlich Kinder, soweit Sahir das beobachten konnte. Sie waren ohne erkennbare Aufforderung irgendwann aufgestanden, hatten einige Worte mit dem Posten an der Tür gewechselt und waren dann verschwunden. Sahir und Lucius hatten sich gefragt, wie es wohl weitergehen würde und ob irgendwann einfach alle ihrer Wege gehen würden. Dazu sah er aber unter den im Raum Verbliebenen zu viele ratlose und ängstliche Gesichter.
Doch Sahir machte sich keine Sorgen. Amon war hier und er hatte anscheinend einiges mit dieser Aktion zu tun. Insofern war er genau da, wo er sein wollte. Ihm blieb nur übrig zu warten, bis sich hier etwas tat.
Zwei schwarze Stiefel tauchten vor ihm auf. Er blickte hinauf und direkt in Amons grinsendes Gesicht.
„Nun sag mir, Sahir, wie kommt es, dass ich dich aus dem Gefängnis holen musste?"
Sahir lächelte.
„Du weißt doch, ich bin ein alter Mann. Ich bin nicht mehr schnell genug mich durchs Stadttor zu schmuggeln."
Amon setzte sich ihm gegenüber auf den Boden und nickte wissend.
„Ah ja..."
Sahir unterbrach ihn.
„Sehe ich das richtig? Du bist für dieses ganze Chaos hier verantwortlich?"
„So ist es. Wurde Zeit, dass hier mal jemand die Zügel in die Hand nimmt", erwiderte Amon und er platzte fast vor Stolz.
Sahir grinste halb amüsiert, halb ungläubig. Er erinnerte sich wie Anna ihren Freund gerne genannt hatte:
„Herrscher über Zenon...", murmelte er.
Amon strahlte.
„Nur der Herzog ist mir noch im Weg", lachte er. Lucius beugte sich fragend vor und sogleich stellte Sahir ihn vor.
„Das ist Lucius, mein Zellengenosse. Lucius, vor dir steht unser Retter, mein Freund Amon."
„Sehr erfreut."
„Hallo. Also dann, bevor wir hier unten Schimmel ansetzen, folgt mir", erwiderte Amon und sprang auf die Beine.
An der Tür blieben sie stehen und Amon wandte sich an den Jungen, der dort Posten bezogen hatte.
„Sag ihnen, sie sollen hier verschwinden", sagte er mit einer Kopfbewegung in Richtung der tratschenden Gruppen im Raum. „Ich will einen Überblick bekommen."
Sahir und Lucius stolperten hinter ihm her in die Dunkelheit. Amon griff nach einer Fackel an der Wand und beleuchtete den Weg.
Lucius hatte Recht gehabt. Vor ihnen erstreckte sich ein enger Gang. Es roch feuchtmodrig und als Sahir weiterlief, drang Nässe durch seine Kleider. Er stand bis zu den Knöcheln im Wasser.
„Haltet euch am Rand, da bleibt ihr trocken", informierte Amon vergnügt.
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Das Erbe der schwarzen Königin
FantasyFeuer wird Erde verbrennen, Wind wird ihre Asche aufs Meer hinaus tragen, Wasser schenkt ihr neues Leben. Nichts ist ewig, doch es währt für immer... Anna lebt auf der Straße. Zusammen mit ihrem besten Freund Amon lässt sie sich treiben. Ihre einzig...