42. Kapitel

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Eine Stunde später rückte die Armee der Stadt entgegen. Die Anspannung unter den Soldaten wurde regelrecht greifbar. Anna spürte es in jedem Atemzug, den sie tat: Angst und Wut. Unsicherheit und Hoffnung. Ihr wurde ganz schwindlig von den Empfindungen, die der Wind ihr zuflüsterte.

Einen Pfeilschuss entfernt von der Mauer blieben die feindlichen Linien stehen. Anna sah fragend zu Leyla hinab, die mit sturer Miene auf der Mauer stand. Doch der Befehl zum Angriff kam nicht. Aric hatte erklärt, dass sie weder die Munition, noch das Durchhaltevermögen hatten, tatsächlich offensiv zu werden. Ihre einzige Chance in dieser Schlacht bestand in der Verteidigung. Kopf einziehen, Schilde hoch und durchhalten. Es würde lange dauern, es würde sie zermürben und viele würden in den folgenden Tagen oder Wochen dabei ihr Leben lassen. Aber was zählte, war nur eines: die Tore mussten gehalten werden.

Als die ersten feindlichen Bogenschützen ihre Position einnahmen, holte Anna tief Luft. Nun würde sich zeigen, wieviel sie selbst dazu beitragen konnte, den Traum der Freiheit dieser Menschen aufrecht zu erhalten. Das feindliche Kommando hallte über die Ebene und im selben Augenblick wurden die ersten Pfeile abgefeuert. Sie flogen auf die Stadt zu, dass der Himmel schwarz davon war.

Befehle wurden gebrüllt, Schilde in die Höhe gerissen und Anna erschrak einen Moment, als auch vor ihrem Gesicht ein solider Schild auftauchte. Sie warf dem Soldaten neben sich einen Blick zu. Er nickte verbissen und Anna wusste, wer ihm den Befehl dazu gegeben hatte, sie zu schützen. Doch das Blech versperrte ihr die Sicht und behinderte ihre Konzentration. Also lächelte sie den Mann an und schob seinen schützenden Arm zur Seite – über seinen eigenen Kopf. Der Soldat sah sie an, doch Anna hatte keine Worte um ihm zu erklären, warum sie seinen Schutz nicht brauchte. Also richtete sie ihren Blick zielsicher zurück auf die Ebene, auf ihren Schild aus Luft, der die Pfeile, kurz bevor sie die Mauer erreichten, einfach fortriss, bis sie zwischen den Armeen harmlos zur Erde fielen.

Stille senkte sich, Unglauben schlug ihr entgegen, dann wurden die ersten Schilde gesenkt. Die Soldaten starrten hinaus auf die Ebene, wo die zweite Salve an Pfeilen abgefeuert wurde – und ohne Schaden anzurichten vor der Stadt im Feld landete. Die Soldaten des Königs begannen ohne Unterlass zu feuern, doch der Schild hielt und langsam drang die Erkenntnis zu den Männern und Frauen Zenons durch. Jubel wurde laut, Hände in den Himmel gereckt und Anna lächelte in sich hinein.

Doch die Freudenrufe verstummten jäh, als in der Ebene Bewegung aufkam. Schwere Katapulte wurden durch die Schlachtreihen gezogen. Anna sah die Soldaten, deren Muskeln unter der Anspannung beinahe zerrissen. Warnungen wurden laut, neue Befehle gebrüllt, doch nichts konnte die Geschosse aufhalten, die sich wenig später der Stadt näherten. Fast nichts. Anna wusste, dass hierfür ihr Schild nicht ausreichen würde. Sie musste die Geschütze direkt abfangen und über die Stadt hinaustragen. Das würde einiges an Konzentration erfordern, vor allem, wenn sie mehrere gleichzeitig abfeuerten. Die Soldaten unter ihr auf der Mauer reckten die Hälse, als die ersten Steine aus den Katapulten den Schild durchdrangen und dann anstatt in der Mauer und den ersten Häuserreihen einzuschlagen,einer völlig unerwarteten Flugbahn über die Stadt hinaus folgten und dort ins Meer stürzten. Die Menschen unter ihr brachen in Jubel aus und Anna atmete erleichtert aus. Sie konnte es schaffen.

Der Lärm toste um sie und so überhörte sie die helle Kinderstimme hinter sich, als Koshy den Turm herauf geklettert kam und ihren Namen rief.

„Anna, nein, das darfst du nicht! Hör auf Anna, hör auf!"

Anna bemerkte ihn erst, als er schon neben ihr stand. Fragend wandte sie sich ihm zu und die Panik in seinen Augen ließ sie innehalten. Seine Lippen öffneten sich, doch Anna hörte nicht mehr, was er versuchte ihr zu sagen. Ein Ruck ging durch ihr magisches Gefüge, durch ihr Innerstes, durch ihr Herz. Die Welt blieb stehen - und dann, langsam und kraftvoll, begann sie sich in die falscheRichtung zu drehen. Die Kraft, die sie durchfloss, strömte nun aus ihr hinaus. Unaufhaltsam und unerbittlich. Anna hatte das Gefühl das Leben selbst fließe aus ihr heraus, schnell, viel zu schnell, als würde sie nur noch ausatmen, aber nicht mehr einatmen. Sie bekam keine Luft. Koshy begann an ihr zu zerren und zu schreien, doch Anna nahm ihn kaum wahr. Sie spürte, wie ihr Schild in sich zusammenbrach. Erst der Schild um die Stadt, dann der Schild um sie selbst und dann der Schild um ihre Seele, ihr ureigener Schutzschild, ihre zweite Haut, die ihre Aura schützte. Sie begann sich aufzulösen, dehnte sich, dann kam der Schmerz. Als würde jemand mit den Händen in ihre Brust greifen und ihren Kern herausreißen. Anna begann zu schreien, packte das letzte bisschen Kraft, das Leuchten, das sie ausmachte, das ihre Seele und ihre Macht beherbergte und krallte sich fest. Der Sog wurde stärker, doch Anna wollte, nein, sie konnte es nicht zulassen. Sie brüllte gegen den Sog an und etwas in ihr zeriss.

Der Sog verschwand und sie keuchte auf, rang nach Luft, wie eine Ertrinkende. Ihre Füße stießen gegen die Mauer und Anna taumelte. Irgendwo rief jemand ihren Namen. Eine Hand griff nach ihr, doch Anna verlor das Gleichgewicht. Sie stolperte, fiel. Fiel und und fiel, wartete auf den Aufprall, der nicht kam, der Schmerz ein unendliches Echo in ihren Gliedern. Über ihr öffnete sich der Himmel, als wollte er ihr eine Warnung zurufen,dann wurde alles schwarz.


Als das erste Geschoss in der Stadteinschlug, verstummte der Jubel abrupt. Aric suchte sofort nach Anna und sah sie oben auf dem Turm. Sie erstarrte, zuckte und dann begann sie zu schreien. Ihr Schrei so hell und schmerzverzerrt, klang wie eine kleine Alarmglocke über dem Lärm, der auf der Mauer um ihn herum ausbrach. Aric brüllte.

„Schilde hoch! Haltet die Stellungen!"

Er rannte über die Mauer. Pfeile folgten den ersten Geschossen, doch Aric hatte nur Augen für Anna, deren Schrei erstarb. Er sah, wie sie taumelte und dann stürzte ihr Körper über die Brüstung hinab aufs Feld. Noch während er sie fallen sah, stürzte er auf den Turm zu und begann zu brüllen. Sein Herz raste mit ihm. Die Männersprangen erschrocken zur Seite, als er wie von Sinnen alles und jeden von sich stieß, der ihm im Weg war. Er nahm kaum wahr, wie um ihn herum die Schlacht ausbrach. Mauern barsten unter dem Beschuss der Katapulte und Pfeile hagelten auf sie nieder. Kommandos wurden geschrien und übertönten nur schwer den Lärm, der von den Schreien aus der Stadt unter ihnen und den Knarren der eigenen Katapulte über ihnen ausging. Zenon erwiderte das Feuer.

Kurz bevor er den Turm erreicht hatte, sah Aric eine kleine Gestalt unten aus der Tür rennen, die in einer irrsinnigen Geschwindigkeit die Brüstung erklomm und dann von der Mauer sprang. Aric folgte ihr ohne zu zögern. Er hatte den Turm noch nicht erreicht, doch unten auf dem Feld würde er schneller vorankommen. Der Aufprall fuhr ihm scharf in die Knochen, doch er rappelte sich auf und lief weiter. Pfeile schlugen neben ihm in der Mauer ein, aber er achtete nicht darauf. Ein starker Ruck ließ ihn taumeln und kurz darauf folgte ein scharfer Schmerz. Ein Pfeil hatte ihn in der Seite getroffen. Aric biss die Zähne zusammen und brach den Schaft ab. Nur noch wenige Schritte bis zum Turm, da erkannte er die kleine Gestalt, die ihm zuwinkte, einige Meter weiter im Feld. Es war der kleine Koshy und er rief seinen Namen! Aric erreichte ihn atemlos und ließ sich zu Boden sinken.

Annas Gesicht war blass und sie war nicht bei Bewusstsein. Ihr rechter Arm stand in einem ungewöhnlichen Winkel vom Körper ab, ansonsten konnte Aric keine Verletzungen erkennen. Er sah nach oben, während er mit den Fingern nach ihrem Puls tastete. Es war ein weiter Sturz, gut möglich, dass sie innere Verletzungen hatte oder ihr Rücken gebrochen war, aber hier konnte sie nicht liegen bleiben.

„Aric!", rief eine vertraute Stimme über ihm.

Er sah sich um und sah Gorjak auf der Mauer stehen.

„Hier, wir ziehen euch hoch!", rief er und ließein starkes Seil zu ihnen herunter.

Aric reagierte sofort. Er nahm Anna auf den Arm und trug sie vorsichtig zur Mauer. Koshy folgte ihm. Da traf ihn plötzlich etwas mit Wucht im Rücken und er stolperte. Mit Anna im Arm verlor er das Gleichgewicht, fiel der Länge nach hin und begrub sie unter sich. Fluchend und unter Schmerzen rappelte er sich auf.

„Aric!", sagte da Koshys helle Stimme neben ihm verängstigt.

Er zog an seinem Ärmel und zeigte alarmiert aufs Feld hinaus. Aric drehte sich um und sah einen schwarz gekleideten Mann auf sie zukommen. Pfeile hagelten von der Stadt aus auf ihn nieder, doch anstatt ihn zu verletzten verschwanden sie urplötzlich kurz vor dem Aufschlag. Aric blinzelte. Das war doch nicht möglich! Der Mann kam bedrohlich näher und hob die Hand. Sein Blick fixierte Aric, als dieser sein Schwert zog und dem Mann entgegentrat.

Es war ein kurzer Kampf, denn als Aric zum ersten Schlag ausholen wollte, schwand ihm plötzlich und im Bruchteil einer Sekunde alle Kraft. Seine Knie gaben unter ihm nach und die Waffe glitt ihm aus den Händen. Als er fiel, erhaschte er gerade noch einen kurzen Blick auf Koshy, der sich schützend über Anna beugte, dann verlor er das Bewusstsein.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt