Amon war Leyla noch nie persönlich begegnet. Er hatte sie einige wenige Male bei offiziellen Anlässen von Weitem gesehen und ab und zu einen Blick auf ihren Wagen werfen können, wenn sie die Stadt verließ um Verwandte zu besuchen. Es ziemte sich nicht für eine Frau ihres Standes auf den Markt zu gehen oder durch die Straßen der Stadt zu spazieren. Leyla lebte innerhalb der Burgmauern und reiste nur in der Kutsche, nie zu Pferd und erst recht nicht zu Fuß. Umso erstaunlicher waren ihre weitreichenden Verbindungen und ihr starker Einfluss in der Stadt. Sie musste eine sehr geschickte und kluge Frau sein, denn obwohl sie im städtischen Alltag überhaupt nicht präsent war, hatte sie überall ihre Finger im Spiel.
Als sich nun die schweren Burgtore vor ihm öffneten, fühlte Amon einen Knoten im Bauch. Plötzlich war er von einem rebellischen Straßenkind zu einer offiziellen Instanz geworden. Er würde für seine Leute sprechen und mit Leyla die Bedingungen für ihre Zusammenarbeit und ihr Zusammenleben in der Stadt aushandeln. Er spürte die Last der Verantwortung, die ihm dadurch auferlegt war. Als er seine kleine Rebellion begonnen hatte, war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, er könnte tatsächlich die Regierung des Herzogs gefährden. Nun war es so weit und er fand sich in einer völlig unerwarteten und unbekannten Rolle wieder. Zwar hatte er mit Aric und Sahir darüber gesprochen, was nach dem Putsch auf sie zukommen würde, aber erst jetzt wurde ihm die Realität wirklich bewusst. Aric hatte ihm einige Tipps für das Gespräch und die Verhandlungen mit Leyla gegeben und ihm vor allem zur Vorsicht geraten. Amon hielt viel von seiner Meinung und obwohl er den Mann erst so kurz kannte, wünschte er ihn sich jetzt an seiner Seite. Doch Aric hatte noch Wache am Westtor. Er würde in die Burg kommen, sobald er bei Sonnenaufgang abgelöst wurde. Die Unterstützung der Krieger war ein wichtiger politischer Pfeiler, jetzt da das Halten und die Verteidigung der Stadt im Vordergrund standen. Aric musste dringend als Vertreter für die Belange seines Ordens einstehen.
Der Burghof war hell erleuchtet und Amon sah sich einem Kreis von bewaffneten Männern gegenüber, die rings um den Hof postiert standen. Zwei der Wachen nahmen ihn direkt vor dem Tor in Empfang und flankierten ihn, als er nun die Burg betrat. Er war schon mehr als einmal hier gewesen. Das letzte Mal mit Anna an jenem Herbsttag, als sie von der Palastwache erwischt worden waren und Anna auf der Flucht Aric begegnet war. Damals war die Burg für den Herbstball festlich geschmückt gewesen und überall hatten Kutschen gestanden. Diener waren über den Hof und durch die Gänge geeilt und es hatte so ein Durcheinander geherrscht, dass Anna und Amon unbemerkt bis zum Bankett hatten schleichen können.
Als Amon sich jetzt umsah, sah er nur den leeren Hof von hohen dunklen Mauern umschlossen. Vor ihm ragte der große Wohnturm in die Höhe und von dort zog sich ein breites Gebäude an der Mauer entlang. Dort war der Festsaal, doch im Moment lag er völlig im Dunkeln. Nur im Turm waren zwei Fenster schwach beleuchtet. Amon trat auf die hölzerne Tür zu und die Wachen ließen ihn ein.
Im Turm ging es eine breite gewundene Treppe an der äußeren Wand entlang nach oben, während alle davon abgehenden Türen nach innen führten. Im zweiten Stock blieb die Wache, die ihn nach oben begleitet hatte, vor einer Tür stehen, die wiederum von zwei Männern bewacht war. Amon fragte sich kurz, woher die vielen Männer kamen. Theoretisch war die Garde des Herzogs etwa 100 Mann stark, aber schon allein zum Sichern der Burg musste Leyla über 50 Soldaten zur Verfügung zu haben. Amon staunte erneut über ihren Einfluss, als nun die Tür geöffnet wurde und er seine Aufmerksamkeit auf das Bild vor sich richtete.
Leyla war eine große schlanke Frau mit aristokratischer Ausstrahlung. Sie trug Hosen und ein ledernes Wams über ihrer Bluse. Ihr braunes Haar hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt und in ihrem ebenmäßigen Gesicht leuchteten zwei dunkle feurige Augen. Sie passten nicht ganz zu dem strengen aufrechten Äußeren, das sie prägte. Amon erkannte eine tiefe Leidenschaft in ihrem Blick, die ihm diese Frau sofort sympathisch machte. Er glaubte zu wissen, was sie antrieb. Ein Feuer, das auch in seiner Seele brannte.
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Das Erbe der schwarzen Königin
FantasíaFeuer wird Erde verbrennen, Wind wird ihre Asche aufs Meer hinaus tragen, Wasser schenkt ihr neues Leben. Nichts ist ewig, doch es währt für immer... Anna lebt auf der Straße. Zusammen mit ihrem besten Freund Amon lässt sie sich treiben. Ihre einzig...