63. Kapitel

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Während der Tage in Saronns Burg fühlte Anna sich wie in einem Traum. Nach dem ersten Abend kam ihr die plötzliche Auferstehung ihres Vaters unwirklich vor und obwohl sie bei ihrem ersten Gespräch mit ihm überhaupt keine Hemmungen gehabt hatte, ihn zu umarmen und sich von ihm trösten zu lassen, wurde ihr zunehmend bewusst, dass er ein Fremder für sie war. Immer mehr zog sie sich zurück und baute eine sichere Distanz auf, die ihn in der Reihe ihrer jüngst gewonnenen Verbündeten einreihte, nicht mehr und nicht weniger. Doch die Wärme seiner starken Arme, die sie gehalten und getröstet hatten, blieb in ihrer Erinnerung lebendig und sie fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Sehnsucht nach diesem Gefühl und ihrem natürlichen Misstrauen alles und jedem gegenüber, das ihr fremd war.

Auch das Gespräch mit Aric schob sie vor sich her. Er erholte sich nur langsam von den Strapazen der Gefangenschaft und der darauffolgenden Flucht. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen und Anna brachte es einfach nicht über sich, ihn mit dem zu konfrontieren, was ihr auf der Seele brannte. Das Chaos der Elemente, ihre Angst die Kontrolle zu verlieren und sein seltsam hypnotisierender Blick, der ihr helfen konnte...

Aric schien allerdings trotz aller Erschöpfung aufzufallen, dass etwas nicht stimmte. Als sie abends auf dem Weg zu ihrem Zimmer an seiner offenen Tür vorbeikam, rief er sie zu sich. Er stand am Kamin, die Flammen beleuchteten sein blasses Gesicht.

„Schließ die Tür", bat er sie und Anna gehorchte.

Etwas unentschlossen stand sie in dem geräumigen Zimmer und starrte auf Arics Rücken. Der drehte sich zu ihr um und musterte sie nachdenklich.

„Was bedrückt dich?", fragte er und Anna schloss ertappt die Augen. Natürlich war es ihm nicht entgangen. Sie suchte nach Worten und begann schließlich mit dem naheliegendsten: Ihrem Vater.
Es sprudelte nur so aus ihr heraus und ehe sie es sich versah, begannen die Tränen zu fließen.

„Lass dir soviel Zeit, wie du brauchst, Anna", sagte Aric ruhig. „Aber lass zu, dass er an deinem Leben teilhat. Wenn du ihn besser kennenlernst, wirst du sehen, dass er ein außergewöhnlicher Mensch ist. Ich bin sicher, ihr werdet euch verstehen. Du musst es nicht überstürzen, aber bau keine Mauer gegen ihn, wie du es sonst immer tust, Anna. Er liebt dich. Ich weiß es."

Anna sah ihn an und dachte daran, dass Aric mit ihrem Vater zusammen im Kerker gesessen hatte, dass er gefoltert worden war und fast gestorben und dass Taos der Einzige gewesen war, der diese dunklen Stunden mit ihm geteilt hatte. Etwas biss sich in ihrem Innern fest – Schmerz und... ein Stich der Eifersucht. Anna holte tief Luft, doch sie spürte, wie ihre Gefüle bereits die Oberhand gewannen.

„Anna?", fragte Aric beunruhigt und trat näher. Zögernd hob er eine Hand. „Beruhige dich."

Anna schluchzte auf.

„Es tut mir leid!", stieß sie hervor. „Ich wollte das nicht. Nichts davon. Er hat dir wehgetan und mein Vater, er..."

Sie schlug die Hände vors Gesicht und sank in die Knie. 18 Jahre! Ihr ganzes Leben hatte Taos in diesem Kerker festgesessen und geglaubt, er wäre Schuld am Tod ihrer Mutter. Er hatte nicht einmal gewusst, dass sie existierte! Nicht gewusst, dass da draußen jemand auf ihn wartete... Hilflosigkeit gegenüber seinem Schicksal packte sie und zog sie noch weiter in den Abgrund. Sie verlor die Kontrolle.

Aus Verzweiflung wurde Panik und Anna spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Die Welt begann sich zu drehen und sie zitterte am ganzen Körper. Wie unter Wasser hörte sie Aric schreien. Er schüttelte sie und ihr Blick suchte seinen, suchte nach diesem Anker...

Ganz langsam tauchte sie aus ihrer Panik auf und konzentrierte sich auf seine Augen, das einzige, das in ihrer sich drehenden Umgebung fest an einem Punkt verharrte. Neben seinen Augen tauchte bald auch wieder sein Gesicht auf und nach und nach kam die Welt um sie herum zur Ruhe. Als Anna begriff, dass sie dabei gewesen war, völlig die Fassung zu verlieren, versuchte sie ihre Angst zu unterdrücken. Sie merkte, dass sie viel zu schnell atmete und konzentrierte sich zuerst darauf. Arics Griff ließ von ihr ab, als sie ruhiger wurde, doch sein Blick hielt sie weiter gefangen. Was war das nur mit seinen Augen, dass sie sie so fesselten?

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt