10.Kapitel

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Als sie die Augen das nächste Mal aufschlug war die Sonne bereits untergegangen. Aric saß bewegungslos am Kamin. Anna beobachtete, wie er in die Flammen starrte ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Anna kannte es von den vielen Treffen in dem kahlen Zimmer überm Marktplatz. Es verriet nie viel. Arics Züge waren meist eine Maske aus Stein. Nur selten zuckte ein Lächeln darüber oder etwas blitze in seinen Augen. Anna war fasziniert von diesem Gesicht, denn sie wusste, dass man ihr selbst jeden Gedanken von den Augen ablesen konnte. Sie hatte keine Kontrolle darüber. Umso spannender fand sie Arics Bewegungs- und Gefühllosigkeit. Seine raue ruhige Stimme unterstrich das noch zusätzlich.

Anna fragte sich, woran er wohl gerade dachte und suchte in seinen Zügen nach einem Zeichen.

Sie fand rein gar nichts. Trotzdem hatte sie das seltsame Gefühl zu wissen, dass er im Begriff war eine Entscheidung zu fällen, eine Entscheidung, die sie selbst entweder mit einschließen oder komplett ausschließen würde.

Anna schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihr Innerstes. Als sie ihren Ziehvater Saronn verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, diese Kunst nicht mehr anzuwenden. Aber sie wusste auch, dass einiges dazugehören würde,  Aric von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Langsam sandte sie einen Strom ihrer Magie aus, der sich freudig mit der sie umgebenden Luft verband. Sanfte Wirbel krochen über ihre Haut als begrüßten sie eine lang vermisste Freundin. In ihren Gedanken formte Anna ein Bild ihres Körpers mit schon recht fortgeschritten verheilten Schrammen und Prellungen. Sie sandte dieses Bild an den Wind, der sie umfloss, und schuf so eine täuschend echte Illusion ihrer selbst. Wie eine zweite Haut legte sich das Bild in Form von wirbelnder Luft auf ihren Körper. Anna atmete tief durch und öffnete ihre Augen wieder. Die Illusion blieb erhalten. Dann fixierte sie Aric.

„Bitte, nimm mich mit!", platzte sie in die Stille. Er zuckte nicht einmal zusammen. Langsam wandte er den Kopf und sah sie an.

„Wohin mit?"

„Dahin, wo du hin gehst."

Langsam schüttelte er den Kopf.

„Anna, das geht nicht. Du bist verletzt. Du solltest erst einmal wieder auf die Beine kommen. Solange kann ich nicht warten."

„Es geht mir gut. Ich kann aufstehen. Willst du mich etwa hier zurücklassen?"

„In einer Woche komme ich wieder und bringe dich zurück nach Zenon. Die Bäuerin wird solange für dich sorgen."

„Ich sagte, es geht mir gut", beharrte Anna aufgebracht und riss sich die Verbände von den Armen, „und ich will nicht zurück nach Zenon!"

Aric erwiderte nichts. Er stand einfach nur auf und griff nach ihrem Arm. Vorsichtig strich er über die junge rosa Haut, die sich über die Schnitte gezogen hatte, doch Anna riss ihren Arm fort, bevor er erkennen konnte, welche Wunden unter ihrer Illusion verborgen lagen.

Aric blickte von Annas Arm auf und sah sie an.

„Du heilst schnell", sagte er trocken. War das eine Spur von Überraschung, die sich in seine Stimme schlich?

„Ich sagte bereits, es geht mir gut", erwiderte sie trotzig.

„Warum hast du Zenon verlassen, Anna?", fragte Aric nach einer Weile, während er vorsichtig die restlichen Verbände von ihrem Rumpf und den Beinen löste.

„Zenon ist nicht mein Zuhause. Ich habe dort einige Jahre verbracht, aber es ist nicht, woher ich komme. Ich bin in den Bergen aufgewachsen. Aber wo ich wirklich herkomme, weiß ich nicht. Von meiner Mutter trage ich nur wage Erinnerungen, die wahrscheinlich nicht einmal meine eigenen sind, sondern entstanden durch die Erzählungen meiner Amme. Ich kenne sie nicht und noch weniger weiß ich über meinen Vater. Wer war er? Ich weißes nicht. Das einzige, was ich von ihm besitze..."

Erschrocken hielt Anna in ihrer Erzählung inne.

„Ja?" ermunterte Aric sie.

„Mein Schwert! Ich muss es verloren haben, als ich überfallen wurde. Nein! Es ist alles, alles was ich habe!"

„Dein Schwert?"

„Es gehörte meinem Vater, ja. Es muss noch immer auf der Lichtung liegen."

Aric stand auf und griff unter sein Bündel.

„Ist es vielleicht das hier?"

Anna nickte stumm und blinzelte ihre Tränen weg.

„Ich habe mich schon gefragt, woher dieser Kerl solch eine Klinge bekommen hat. Dies ist ein gutes Schwert. Es ist sehr alt und wenn ich mich nicht täusche, wurde es noch von einem alten Schmiedemeister des Erdvolkes geschaffen. Dein Vater muss ein guter Kämpfer gewesen sein."

„Danke", hauchte Anna, als sie die kostbare Waffe an sich nahm. „Das bedeutet mir sehr viel."

Aric musterte sie schweigend.

„Anna, ich würde dich mitnehmen, aber ich kann nicht. Ich würde dich in Dinge hineinziehen, die zu groß für dich sind. Allein das Wissen darüber könnte dich den Kopf kosten."

„Mein Kopf steckt auch so schon in der Schlinge. Außerdem weiß ich, dass du ein Krieger bist. Das ist es doch, was du von mir fernhalten willst, oder?"

Während sie sprach beobachtete sie, wie Aric blass wurde. Es machte sie stolz und gleichzeitig hatte sie Angst, eine sichtbare Reaktion allein mit Worten auf sein Gesicht gezaubert zu haben.

„Woher weißt du das?" zischte er nun.

„Ist das relevant?"

„Ja!"

Sie zuckte bei seiner wütenden Stimme zusammen.

„Ich habe gehört, wie Sahir dich so genannt hat. Nachdem du ihn vor dem Sturm gerettet hattest."

Aric saß plötzlich ganz dicht vor ihr. Seine schwarzen Augen bohrten sich in ihre und sie hatte keine Chance ihnen zu entkommen. Ihre Tiefe zog sie unwiderstehlich an, wie damals, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte.

„Hast du mit irgendjemandem darübergesprochen?", drängte er.

„Nur mit Sahir. Er sagte, wir dürfen niemals etwas sagen. Amon weiß es auch."

Der Abgrund verschwand und ließ sie wieder frei, als Aric sich entfernte. Langsam lief er im Zimmer auf und ab.

„Du machst mir diese Entscheidung nicht leicht. Du bist nicht mehr nur eine Gefahr für dich selbst, sondern eine Gefahr für meinen ganzen Orden."

„Dann nimm mich dorthin mit. Da ich das Geheimnis kenne, ist das doch für mich und euch die sicherste Lösung."

„Zu wissen, dass ich ein Krieger bin, ist eine Sache, Anna. Unser Reich zu betreten eine andere. So gefährdest du erst einmal nur mich. Wenn du unser aller Aufenthaltsort kennst, dann gefährdet das unsere Existenz."

„Aber das ist nicht wahr. Du vergisst, dass ich durchaus im Stande bin zu schweigen. Ich bin nicht dumm. Ich begreife die Tragweite, die die Offenbarung dieses Wissens mit sich bringt."

„Tatsächlich?"

„Es ist nicht so, dass ich nicht wüsste, wer die Krieger sind und woher sie kommen..."

„Wir führen Krieg..."

„Ich weiß."

„Das meine ich nicht. Nicht der stetige Kampf in dem wir uns seit jeher befinden. Krieg mit dem Thron. Blutigen Krieg. Zumindest wird es genau dahin führen."

„Nimm mich mit, ich bitte dich!", flehte sie und legte all ihre Kraft und ihren Willen in die Worte.

Ein Windstoß fuhr durch den Raum und Anna registrierte erschrocken, dass ihr Täuschungszauber die so mühsam errichtete Feste gegen die sie umgebenden Mächte eingerissen hatte. Der Wind reagierte auf ihre Gefühle mit dem Eifer eines sorgenden Freundes. Sie atmete langsam ein und wieder aus und mit ihrer Ruhe legte sich auch der warme Luftzug im Zimmer. Anna versuchte dabei ein sorgloses Gesicht zu machen. Sie blickte Aric geradeaus an und in dem Moment rastete in Arics Gesicht etwas ein. Sie konnte nicht sehen, was sich verändert hatte, aber sie wusste, seine Entscheidung war gefallen.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt