Es war bereits dunkel, als Aric ins Lager zurückkehrte. Lautlos schlüpfte seine hohe schlanke Gestalt durch die Büsche. Anna hatte ihn nicht kommen sehen und zuckte erschrocken zusammen als er, ganz in seinen weiten Mantel gehüllt, plötzlich vor ihr auftauchte.
Sogo schien völlig ungerührt. Ihn hatte aber offenbar auch das lange Warten nicht unruhig gemacht. Anna beobachtete wie die beiden nur ein Kopfnicken zur Begrüßung austauschten und Aric sich dann in der Runde niederließ. Er zog einen Laib Brot aus seinem Beutel, brach ein Stück ab und biss herzhaft hinein während er es an Sogo weiterreichte.
Anna beschloss ihre Fragen zurückzuhalten und abzuwarten. Sie war ungeduldig und brannte darauf, was Aric gesehen hatte, ob er Amon getroffen hatte, oder Sahir und warum er so lange gebraucht hatte. Sie nahm das Brot entgegen und brach sich ebenfalls ein Stück davon ab. Kauend wartete sie darauf, dass Aric etwas sagte. Ihre Geduld wurde schon bald belohnt.
Aric schluckte die ersten Bissen hinunter und begann:
„Zenon ist wie verwandelt. Auf den ersten Blick scheint alles normal. Das Leben auf den Straßen ist in vollem Gang, munteres Treiben auf dem Markt und so weiter. Es hat eine Weile gedauert bis ich dahinter kam, was fehlte: Es ist zu geordnet. Nirgendwo Bettler und Säufer, keine Kinder, die zwischen den Ständen am Markt und am Hafen herumlungern. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt. Etwas hat sie vertrieben."
„Oder verschwinden lassen", warf Sogo ein und Aric nickte zustimmend.
„Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen, aber eine Sache passt weder ins eine noch ins andere Bild: Es war zwar nicht unbedingt leicht die Stadt zu betreten, dagegen aber beinahe unmöglich sie wieder zu verlassen."
„Die Berichte zeugten von Aufständen in der Stadt. Glaubt ihr, sie wurden niedergeschlagen und diese Ordnung folgte darauf?"
„Ich weiß es nicht. Es sieht eher aus als wartete der Herzog auf einen Aufstand. Überall patrouilliert die Stadtwache. Die Garde ist präsenter als ich es jemals zuvor erlebt habe. Es liegt Spannung in der Luft. Schwer zu beschreiben, woher ich dieses Gefühl habe, aber es ist als sei die ganze Stadt auf der Hut. Nicht nur die Wachen, sondern jeder einzelne Bewohner."
„Also müssen die Aufständischen sich irgendwo versteckt halten. Wären die Aufstände bereits niedergeschlagen worden, wäre die Lage entspannter und das Gerede darüber lauter."
Aric nickte.
„Ja, es ist als warteten beide Seiten auf etwas. Das Problem ist, unsere Berichte stützen sich nur auf Gerüchte. Wo ist der Aufstand, von dem die Rede war, wo sind die Leute von der Straße? Es ergibt keinen Sinn."
Stille senkte sich über das Lager als beide Männer ins Grübeln verfielen. Anna war aufmerksam ihrem Gespräch gefolgt. Jetzt hielt sie es nicht länger aus.
„Hast du Amon gesehen?", fragte sie vorsichtig.
Aric sah sie an. Etwas in seinem Blickließ sie erschauern. War das Mitleid?
„Das Haus ist verlassen, keine Spur von deinen Freunden. Es scheint schon seit Wochen leer zu stehen. Tut mir leid."
Anna nickte. Im Gegensatz zu Aric war ihr die Geschichte kein Rätsel mehr. Das flaue Gefühl, das sie bei Arics Blick überkommen hatte, war so schnell verflogen, wie es gekommen war. Sie zögerte, dann räusperte sie sich und sah die Männer an.
„Ich weiß, wo sie stecken. Alle."
Zwei Augenpaare fixierten sie, doch Anna ließ sich nicht verunsichern.
„Ja. Sie sind nicht weg. Sie können nicht weg sein."
„Anna...", setzte Aric an.
„Doch! Wenn sie nicht in der Stadt sind, dann sind sie darunter."
„Wie meinst du das?", fragte Sogo.
„Die Stadt ist unterkellert. Man kann unter ihr durch, durch die Kanalisation."
„Kanalisationsrohre sollen so viele Menschen aufnehmen können? Das lässt sich doch auf die Dauer nicht halten."
„Das Kanalisationssystem Zenons ist sehr alt. Dort verlaufen keine Rohre. DIe Stadt ist untertunnelt. Man kann aufrecht darin gehen. Es gibt auch ein großes Sammelbecken da unten. Früher haben wir dort immer gespielt."
„Wie ist es möglich, dass sie sich dort unten halten können? Die Stadtwache muss doch darüber Bescheid wissen."
„Das schon, aber die Tunnel sind sehr unwegsam, das Wasser darin tückisch und die Zustiege sehr eng. Außerdem ist es ein verwirrendes Labyrinth. Wenn man sich auskennt, sind einzelne Männer sicher leicht zu überwältigen und ein ganzer Trupp hat nicht genug Platz."
„Das heißt, es ist möglich, dass die Soldaten wissen, wo die Aufständischen stecken, aber solange sie nicht rauskommen, kommen sie nicht an sie ran", schlussfolgerte Aric.
„Raffiniert", kicherte Sogo.
Anna lächelte. Ihre Kenntnisse waren den Männern tatsächlich nützlich und sie las die Anerkennung in ihren Blicken, was bei Aric zwar schwer erkennbar, aber doch sichtbar war. Sogo machte keinen Hehl aus seiner Begeisterung.
„Wie gehen wir also vor?", fragte er und lehnte sich etwas weiter vor.
„Du warst schon dort unten?", fragte Aric nun an Anna gewandt. „Kannst du uns hinbringen?"
„Ja", erwiderte Anna überzeugt.
Sie kannte das Labyrinth wie ihre eigene Westentasche. Wie oft hatte sie mit Amon Streifzüge unternommen und mit anderen Kindern gefährliche Abenteuer bestanden. Sie lächelte bei der Erinnerung an diese aufregenden Spiele im Dunkeln.
„Dann ist es beschlossen. Morgen früh brechen wir auf", sagte Aric und Sogo nickte bestätigend.
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Das Erbe der schwarzen Königin
FantasyFeuer wird Erde verbrennen, Wind wird ihre Asche aufs Meer hinaus tragen, Wasser schenkt ihr neues Leben. Nichts ist ewig, doch es währt für immer... Anna lebt auf der Straße. Zusammen mit ihrem besten Freund Amon lässt sie sich treiben. Ihre einzig...