92.Kapitel

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Als Oliver den Wachen seine Tasche zeigte und ihnen erklärte, dass er Arzt sei, ließen sie ihn erleichtert zu Aric in die Zelle. Aric saß auf einer wackligen Pritsche und sah den Magier mit glasigen Augen an. Oliver ging zu ihm, zog ihm das zerschnittene Hemd über die Schultern und ließ einen Moment nur schweigend den Blick auf Arics Haut ruhen. Die Schnitte waren nicht tief und auch nie besonders lang, aber es waren viele. Aric war über und über damit bedeckt.

Oliver kannte den Brauch der Krieger: Hatte einer von ihnen großes Leid ertragen, einen schlimmen Verlust erlitten, oder eben eine große Schuld auf sich geladen, so war das eine Art Beistand, eine stumme Zusage, dass man den Schmerz nicht alleine trug. Oliver kannte die rituellen Worte: Dein Blut auf meiner Klinge, deine Last auf meinen Schultern. Normalerweise kam es nicht oft vor, dass Krieger zu diesem Ritual griffen und meistens war es etwas sehr Privates und Intimes, das unter Waffenbrüdern oder sehr guten Freunden ausgetauscht wurde. Üblicherweise waren die Schnitte kurz, aber tief genug um eine Narbe zu hinterlassen, die immer an diese Freundschaft und die geteilte Last erinnern sollte. Noch nie hatte Oliver das Ritual in diesem Ausmaß erlebt und ein Blick in Arics Augen sagte ihm, dass auch er völlig überwältigt war.

Oliver seufzte.

„Sie sind deine Familie, Aric. Sie werden dich niemals im Stich lassen", sagte er und Aric nickte nur stumm.

Oliver begann schweigend die Wunden auszuwaschen und nutzte dann seine Magie um die Schnitte zu schließen. Irgendwann hob Aric den Kopf.

„Sie werden mich nach Ibna bringen, Oliver. Auf Königsmord steht der Tod", erklärte er sachlich und Oliver nickte, ohne von seiner Arbeit abzulassen.

„Aber das wusstest du schon, bevor du den Pfeil abgeschossen hast", erwiderte er leise.

Aric grunzte nur bestätigend. Als Oliver sich dem Schnitt an seiner Wange zuwenden wollte, hielt Aric ihn auf.

„Ich weiß nicht ob ich noch einmal die Gelegenheit haben werde, ein privates Gespräch zu führen. Oliver, du musst zwei Dinge für mich tun", begann er ernst und sah ihn durchdringend an. „Taos darf auf keinen Fall einknicken. Er hat hervorragend reagiert da draußen, hat sich betroffen gezeigt, ob des Todes seines Vaters und mich in Ketten legen und abführen lassen. Ich weiß nicht, ob ihm bewusst ist, wie gut er das gespielt hat, aber er muss diese Fassade aufrecht erhalten, wenn er jemals den Thron besteigen will. Und dieses Land braucht Taos auf dem Thron, Oliver. Wenn auch nur der leiseste Verdacht aufkommt, er könnte irgendwie mit dem Mord an seinem Vater zu tun haben oder auch nur im entferntesten versuchen wollen, mir zu helfen, wird er die Krone niemals tragen. Du musst ihn von mir fernhalten. Mach ihm klar, was auf dem Spiel steht. Ich würde ihm nie verzeihen, wenn ich umsonst in den Tod gehe, nur weil er sentimental wird. Sag ihm das!", erklärte er leise und Oliver musterte ihn ernst.

„Und was ist das Zweite, das ich tun soll?", fragte er nach einer Weile wachsam und beobachtete besorgt wie Aric in sich zusammensackte.

„Sag Anna, dass es mir leidtut. Ich werde meine Versprechen nicht halten können", flüsterte er.

Ein sanftes Grollen fuhr durch die Erde und ließ die Luft um sie herum vibrieren. Oliver richtete sich überrascht auf. Er spürte die Präsenz, die mit dem Beben gekommen war. Dem Krieger neben ihm stockte der Atem. Sanft legte er ihm eine Hand auf die zitternden Schultern.

„Ich denke, sie hat deine Worte gehört. Sie wird sie immer hören. Überall", sagte er.

Aric schien ihn kaum wahrzunehmen. Er bebte noch immer und plötzlich wurde Oliver klar, dass er weinte. Ein unterdrückter Schluchzer brach sich schließlich Bahn und Oliver spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten, als der Ton von den Wänden zurückgeworfen wurde, als der Wind wütend auffrischte und dann völlig unvermittelt innehielt. Eine sanfte Brise folgte, fuhr dem Krieger durch die schweißnassen Haare und trocknete seine Tränen. Aric blinzelte und richtete sich auf.

„Du bist nicht allein", flüsterte Oliver rau und Aric nickte mit großen Augen. Oliver fragte sich, was er sah. Ob er Annas Angst, die grenzenlose Erschöpfung und die unerschütterliche Liebe wahrnehmen konnte, die den Raum erfüllten und das Atmen schwer machten. Er schüttelte das Gefühl von Ehrfurcht ab, das ihn zu überwältigen drohte und wandte sich zur Tür. Die Beziehungen des Serafin gingen ihn nun wirklich nichts an. Seine Aufgabe hier war erledigt.

Doch kurz bevor er die Zelle verließ, hielt er noch einmal inne.

„Sag mir eins: Wusste Taos, was du vorhattest?", fragte er teils aus Neugierde, teils aus Sorge. Aric schnaubte ungläubig.

„Bist du verrückt? Er hätte das niemals zugelassen!", erwiderte er und Oliver konnte seine Erleichterung kaum verbergen. Schweren Herzens trat er durch die Zellentür und ließ Aric allein in der Dunkelheit zurück.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt