69. Kapitel

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Anna erwachte als die ersten Sonnenstrahlen über den Gipfel krochen und ihr das Gesicht wärmten. Verwirrt schlug sie die Augen auf und sah sich um. Sie lag am Ufer eines kleinen Baches mitten in den Bergen. Sie war nass bis auf die Haut, ihr Haar klebte ihr im Gesicht und ihre Augen waren ganz geschwollen vom Weinen. Nur langsam kam die Erinnerung an die letzte Nacht zurück. Anna starrte ins Wasser während sie in Gedanken die Ereignisse der Nacht rekonstruierte. Vieles verschwamm im Gewirr der Gefühle und über allem vorherrschend war grenzenlose Wut. Anna erinnerte sich auch an den Schmerz, der dieser Wut gefolgt war und am Ende an die eigene Kapitulation vor ihrem Schicksal. Die Trauer, die Hilflosigkeit und dann die Erschöpfung, die sie in den Schlaf gezwungen hatte.

Jetzt saß sie da und die Strömung des Bachlaufes, der über Nacht stark angeschwollen war, hielt ihren Blick gefangen. Doch sie sah das Wasser nicht nur, sie konnte es auch fühlen. Sie spürte das Leben, von dem es erfüllt war und die pure Kraft, die es in sich trug. Sie fand viele Wesenszüge von Oliver hier in diesem Element wieder und fasziniert bemerkte sie, dass von dem Bach eine Vibration ausging, die in ihrem eigenen Körper widerhallte. Sie erinnerte sich an Olivers Worte, es kam ihr vor, als wäre es schon eine Ewigkeit her, als er ihr erklärt hatte, warum Wassermagie heilen konnte. Der Körper eines Menschen bestehe zu einem großen Teil aus Wasser, hatte Oliver gesagt, deshalb konnte er ihn als Wassermagier beeinflussen. Anna horchte in sich hinein und sie spürte sich nun um ein Vielfaches intensiver. Sie konnte fühlen, wie das Wasser in ihr die Harmonie zwischen den Elementen hergestellt hatte und war in völligem Gleichgewicht mit sich selbst. Das Wasser kühlte das Feuer und bändigte den Wind und es tränkte die Erde, sodass ihr Lied nun lauter und deutlicher in ihrem Kopf widerhallte.

Nach einer Weile ließ Anna ihre Sinne wandern und weitete ihren Geist für ihre Umgebung. Die Fülle an Eindrücken und Informationen, die dabei auf sie einstürzten, war überwältigend und sofort zog sie sich wieder in sich selbst zurück und errichtete eine schützende Mauer vor der Außenwelt. Langsam und schrittweise öffnete sie sich nun den Elementen, eines nach dem anderen, ließ ihren Geist in den Wind hinauswandern und durch die Erde zurückkehren, verband ihren Herzschlag mit dem Pulsieren des Wassers und ließ sich von dem Feuer der Sonne wärmen. Langsam gewann sie so einen Eindruck von dem Ausmaß ihrer Macht und trotz all ihrer Wut und Trauer der letzten Nacht fühlte sie sich geborgen in dieser Verbindung. Sie wurde getragen, die Kraft der Elemente durchströmte sie, reagierte auf sie, es war ein unbeschreibliches Gefühl.

Anna vergaß jedes Gefühl für Zeit und erst als ein großer Vogel vor ihren Füßen landete und ihr in die Hände pickte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre unmittelbare Umgebung. Sie betrachtete das Tier und wusste sofort, dass dies der Vogel war, den sie auf dem Weg zur Festung nach Zenon geschickt hatte. „Du warst schnell", sagte sie und verband dann sanft ihren Geist mit dem des Tieres. Sie sah Zenon von oben, sah die vielen zerstörten Häuser, vor allem in Nähe der Mauer, sah die Menschen durch die Straßen eilen, Trümmer beiseite räumen und Befestigungen errichten. Vor der Stadt lag die Armee des Königs und in erster Reihe standen fünf große Katapulte, die Geschosse auf die Stadt abfeuerten. Der Vogel landete auf einem Dach in der Nähe des Marktes und beobachtet eine Zeit lang das Treiben auf dem Platz. Anna sah einige bekannte Gesichter. Emma kam mehrere Male vorbei und auch Li sah sie durch die Menge gehen. Erst als sie Amons Gesicht erkannte, ließ sie das Tier in seinen Gedanken fortfahren. Erleichtert folgte sie seinem Flug zurück zur Festung und konnte dabei die Truppenbewegungen in der Ebene erkennen. Die Soldaten, die ausgeschickt worden waren um das Land zu durchstreifen, hatten sich wieder zusammengeschlossen und befanden sich auf dem Rückweg nach Zenon um sich der Armee anzuschließen. Hatten sie gefunden, wonach sie gesucht hatten, fragte sich Anna und entfernte sich aus dem Geist des Tieres. Sie hatte gesehen, was sie sehen wollte. Amon war am Leben, das war im Moment das einzig Wichtige.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt