59. Kapitel

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Anna war am Abend nicht mehr in die Bibliothek gegangen. Sie war zu müde zum Essen und erst recht zu müde zum Reden. Hin und Wieder konnte sie jemanden am Ende des Ganges lachen hören, die Männer schienen sich also zu amüsieren. Sie fragte sich, woher Gorjak die Energie nahm nach dem anstrengenden Ritt noch die halbe Nacht am Feuer zu sitzen und zu reden. Anna hatte eine Weile ihren Stimmen gelauscht und war dann erschöpft in den Schlaf geglitten.

Als sie früh am darauffolgenden Morgen aufwachte, knurrte ihr Magen so laut, dass sie sich fragte, ob es dieses Geräusch gewesen war, das sie geweckt hatte. Gähnend kletterte sie aus dem Bett, wusch sich den Schlaf aus den Augen und schlüpfte in Hemd und Hose. Dann ging sie leise hinaus auf den Flur und hinüber zur Bibliothek.

Das Feuer im Kamin brannte, wie immer, und verströmte wohlige Wärme, die ihr in die müden Glieder kroch. Anna schloss leise die Tür hinter sich und ging hinüber zum Tisch. Die Reste des Abendessens standen noch da und sie nahm sich ein Stück Brot und etwas Obst und setzte sich dann damit hinüber ans Feuer.

„Guten Morgen!", sagte eine tiefe Stimme neben ihr und Anna zuckte erschrocken zusammen.

Sie wandte sich um und sah den rothaarigen Fremden in einem der Sessel sitzen. Anna ließ sich seufzend ihm gegenüber in den zweiten Sessel fallen und sah ihn an.

„Ihr habt mich erschreckt", sagte sie steif.

„Tut mir leid, ich habe Euch erst nicht kommen hören", erwiderte der Fremde freundlich und lächelte sie offen an.

Es traf Anna wie ein Blitz. Sie starrte den Mann an, doch vor ihren Augen sah sie ein anderes Gesicht. Ein jüngeres Gesicht, um genau zu sein. Der Mann ihr gegenüber hatte härtere kantigere Züge und war viel blasser, aber er hatte eindeutig dasselbe Lächeln, wie der Mann vor ihrem geistigen Auge, der Mann aus ihrem Traum. Hinter dem Bild fühlte sie die ihr nun vertraute Präsenz ihrer Mutter immer stärker werden. Gefühle stiegen in ihr auf, Freude, Wärme, Begehren und Anna schüttelte verwirrt den Kopf. Sie verbannte diese Gefühle, die nicht ihre eigenen waren, dorthin, wo auch ihre Mutter ihren Platz hatte. Außerhalb ihres Geistes. Saronn hatte nach einigen Versuchen verstanden, was es mit der Bindung zu ihrer Mutter auf sich hatte und er hatte sie gelehrt sich davon nicht kontrollieren zu lassen, sondern selbst darüber zu bestimmen, ob und wann sie sich damit auseinandersetzten wollte. Doch es gelang ihr nicht immer, sie ganz aus ihrem Geist zu verbannen. So wie jetzt, als das Bild ihres jungen Vaters sie im Geist anlächelte, der dem Mann ihr gegenüber so unglaublich ähnlich sah. Ihr Verstand wehrte sich dagegen, aber die Gefühle ihrer Mutter vermittelten ihr eine eindeutige Antwort.

Ihr gegenüber beobachtete Taos überrascht wie Annas Äußeres sich immer mehr veränderte. Das rote Haar wurde dunkel, ihre Züge sanfter und die Sommersprossen verschwanden. Für einen Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit erschien, nahm seine Tochter die Gestalt Estells an und Taos stiegen Tränen in die Augen. Dann war der Augenblick vorbei und vor ihm saß wieder Anna, das faszinierende rothaarige Mädchen, das er so gerne in die Arme schließen wollte.

Sie starrte ihn an, völlig bewegungslos und als sie endlich sprach, klang ihre Stimme fest.

„Ich weiß, wer Ihr seid", sagte sie nur und der starre Blick veränderte sich. Ihre Augen musterten ihn neugierig.

Taos war verblüfft.

„Tatsächlich?", fragte er vorsichtig.

„Ja", sagte sie schlicht. „Ihr seid Taos, Sohn von König Maar, der Thronerbe dieses Landes. Alle denken, Ihr wäret tot", fügte sie fragend hinzu, doch bevor er etwas erwidern konnte, redete sie schon weiter.
„Wisst ihr denn, wer ich bin?", fragte sie neugierig.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt