31. Kapitel

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Der Morgen war angebrochen, als Aric, Anna und Sogo die Stadt erreichten. Vor den Toren sammelten sich die ersten Händler und Bauern um ihre Ware auf den Markt zu bringen. Die drei gesellten sich zu der wartenden Menge und Aric sprach einen der Händler an.

„Warum öffnen sie die Tore nicht? Sie müssten schon seit gut einer Stunde offen sein."

Der Händler nickte und folgte Arics fragendem Blick hinauf zu den Wachen über den Toren.

„Es muss etwas vorgefallen sein in der Stadt. Alle Tore sind dicht. Ich war heute Morgen bereits am Nordtor, nahe der Burg, dort stehen fast doppelt so viele Wachen wie sonst auf der Mauer."

Aric bedankte sich bei dem Händler und zog Anna und Sogo etwas abseits.

„Das hört sich nicht gut an. Wenn der Herzog die Einnahmen eines ganzen Markttages aufs Spiel setzt, hat er entweder keine andere Wahl oder noch einen Trumpf im Ärmel."

Sogo nickte bedächtig.

„Wenn er von heute auf morgen die Tore schließen lässt, muss etwas vorgefallen sein. Wäre es eine Seuche oder ein ähnliches Unglück, hätte es gestern schon Anzeichen dafür gegeben. Daher tippe ich eher auf einen Aufstand, zumindest hat es wahrscheinlich mit den Rebellen in der Stadt zu tun."

Aric stimmte ihm zu.

„Unter diesen Bedingungen kommen wir niemals in die Stadt hinein."

„Ja aber von hier draußen erfahren wir sicher keine weiteren Einzelheiten."

Aric blickte zurück zum Tor, dann wandte er sich an Anna.

„Anna, gibt es irgendeinen Weg in die Stadt, der nicht über die Mauer führt?"

Anna wollte schon verneinen, als ihr eine Idee kam.
„Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht ist es einer."

Aric zog sie noch weiter von der Menge weg und Sogo folgte ihnen, während Anna ihre Idee erklärte.

„Die Kanalisation wird ununterbrochen mit Wasser geflutet, sodass der Schmutz mitgerissen und ins Meergespült wird. Das Wasser dafür kommt aus dem Fluss. Vor der Westmauer wird ein Teil des Wassers über einen Kanal umgeleitet, der scheinbar in der Erde versickert. Tatsächlich verschwindet das Wasser unter der Erde und fließt direkt in das Kanalisationssystem der Stadt. Ich bin mir nicht sicher ob der Zugang außerhalb der Stadt groß genug ist, aber ich kenne den Zufluss von innen. Dort fließt das Wasser ein steiles Rohr hinab und nimmt dadurch etwas an Geschwindigkeit auf bevor es in die Tunnel fließt."

„Das heißt wir werden nass", sagte Sogo wenig begeistert, „aber einen Versuch ist es auf jeden Fall Wert."

Sie folgten dem Fluss stromaufwärts bis sie die Abzweigung des Kanals fanden und liefen dann diesen entlang bis das Wasser im Boden verschwand. Um den Kanal wuchs dichtes Gestrüpp, das sie zwar daran hinderte direkt am Wasser entlang zu gehen, sie aber auch vor den Augen der Soldaten auf der Westmauer schützte. Sie schlugen sich durch das Dickicht um die Stelle zu untersuchen und fanden unter dem Wurzelwerk eines großen Busches das Rohr von dem Anna gesprochen hatte.

„Da willst du durch?", fragte Sogo ungläubig. „Das Rohr ist keinen Meter breit und wir sind fast eine halbe Meile von der Stadt entfernt."

„Ich denke, ich würde da gut reinpassen, aber bei dir und Aric bin ich mir nicht sicher. Es ist wirklich sehr weit und es ist bestimmt kein Spaß, wenn ihr darin stecken bleibt."

„Bestimmt nicht", kicherte Aric, doch Sogo schnaubte ungehalten. Während Aric trotz seiner Größe sehr schmal war, war Sogo eher breit und untersetzt. Er würde tatsächlich Schwierigkeiten haben, dachte Anna.

„Sogo, ich werde es mit Anna durch das Rohr wagen. Geh du zurück zu den Pferden und warte bis Gorjak von der Festung zurückkehrt. Er bringt sicher Neuigkeiten und wenn die Tore längere Zeit geschlossen bleiben, brauchen wir einen Kontakt nach außen", sagte Aric zu seinem Gefährten.

Sogo nickte dankbar und meinte dann mit einem Blick auf das schmale Rohr:

„Hoffen wir, dass die Tore bis dahin wieder offen sind. Ich könnte mich da ja vielleicht durchpressen, aber bei Gorjak mach ich mir keine Illusionen."

Aric grinste.

„Er würde das Rohr sprengen."

Anna hatte den Eindruck, dass damit alles besprochen war und ging vor der Rohröffnung auf die Knie. Das Rohr lag bis zur Hälfte im Wasser und Anna wurde es mulmig bei dem Gedanken, dass wahrscheinlich eher das Atmen ein Problem sein würde als die Enge. Aric beugte sich über sie und folgte ihrem Blick.

„Was denkst du? Wollen wir es wagen?"

„Eine andere Möglichkeit haben wir nicht", erwiderte Anna und kroch vorsichtig hinein.

Schon nach wenigen Metern war es um sie herum stockfinster. Auf dem Bauch zog sie sich Stück für Stück voran, tastete nach Unebenheiten und versuchte nicht daran zu denken, wie viel Weg noch vor ihr lag.

Das Rohr schien endlos. Anna musste sich zusammen reißen um keine Panik zu bekommen. Sie achtete sorgsam darauf ihren Kopf immer über Wasser zu halten. Hinter sich konnte sie Aric scharren und prusten hören. Irgendwann griff ihre Hand vor sich plötzlich ins Leere. Sie hielt inne und tastete nach dem Boden des Rohres.

„Aric!"

„Ja?", kam es angestrengt von Aric zurück.

„Hier geht es steil bergab. Ich glaube wir sind kurz vor dem Ziel!"

Sie hatten keine Chance das letzte Stück langsam und vorsichtig zurückzulegen. Die Steigung und die Strömung zogen sie nach unten und das Rohr war an vielen Stellen so glitschig, dass man keinen Halt fand. Nachdem Anna einige Male vergeblich versucht hatte sich voranzutasten, holte sie tief Luft, schloss die Augen und ließ sich hinabrutschen, wobei sie die Arme schützend um den Kopf gelegt hatte. Der Aufprall kam abrupt und war ziemlich schmerzhaft. Sie rammte mit Ellbogen und Knien am steinernen Grund des Tunnels entlang und beim Versuch ihren Sturz abzubremsen knallte sie mit dem Gesicht gegen die Wand. Zitternd setzte sie sich auf und sah hinter sich, wo gerade Aric aus dem Rohr geschossen kam. Nach einer ähnlich spektakulären Landung richtete er sich fluchend auf und sah sich nach Anna um.

„Das war das erste und letzte Mal, dass wir diesen Weg genommen haben", sagte er bestimmt und ließ seinen Blick durch den Tunnel schweifen. Man sah nur schwache Umrisse, doch die spiegelnde dunkle Wasseroberfläche hob sich von den steinernen Wänden ab. Anna stand auf. Sie fror und ihre Glieder schmerzten.

„Weißt du, wo wir sind?", hörte sie Aric fragen.

Sie nickte bis ihr einfiel, dass er das vermutlich nicht sehen konnte.

„Ja", sagte sie stattdessen, „komm hier entlang", und wandte sich dem Tunnel folgend in Richtung Stadt.

Sie waren noch nicht weit gekommen, als Anna sich plötzlich hellem Fackellicht gegenübersah. Sie brauchte einige Augenblicke, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatte und sah sich von sechs dunklen Gestalten umringt. Ihr Verstand überschlug sich, als sie versuchte zu entscheiden, wie sie reagieren sollte. Da hörte sie den hellen Klang von Arics Schwert, das aus seiner Scheide gezogen wurde.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt