46. Kapitel

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Anna beobachtete wie Koshy vor ihr herüber die Ebene marschierte. Er hüpfte vergnügt über Steine und Unebenheiten, rannte den Vögeln hinterher, die über ihren Köpfen dahinzogen und winkte ihnen fröhlich zu. Als er einen Schmetterling aufscheuchte, der auf einer Blume vor ihnen gesessen hatte, blieb er abrupt stehen und ein seliges Lächeln ging über sein Gesicht. Er streckte die Hand aus und als hätte er ihn gerufen, landete der Schmetterling auf seinem kleinen Handrücken. Koshy sah ihn an, dann lief er weiter, den Schmetterling auf der Hand und begann ein ausgiebiges Gespräch mit dem Insekt. Anna lächelte. Koshy war kein Magier, aber auch er stand in Verbindung zu einem Element. Die Natur war sein Element, dachte sie, während sie ihm zusah. Die ernsthafte Weisheit, die in so skurrilem Gegensatz zu seinem kindlichen Äußeren stand, verschwamm und hervor kam der Übermut und die Freude eines Kindes, wie man es erwartete.

Als sie am Abend unter einer kleinen Baumgruppe Rast machten, rollte Koshy sich erschöpft und zufrieden lächelnd im hohen Gras ein und war Augenblicke später eingeschlafen. Anna sah fasziniert zu, wie der kleine Körper langsam die Farben und Muster seiner Umgebung annahm. Seine Haut überzog sich mit der groben braunen Rinde der Eiche, unter der er lag und seine blonden Locken wurden zu einem Teppich aus grünem Moos, das sich über seinen Kopf zog. Die langen Grashalme der Wiese neigten sich herab und deckten ihn zu, sodass der Junge kaum zu erkennen war. Anna konnte seine Umrisse nur erahnen, weil sie sehen konnte, wie sich seine Brust mit jedem Atemzug hob und senkte. Die Natur begrüßte den Heimkehrer in ihren Armen. Hier war er wirklich zuhause.

Sie seufzte und suchte sich selbst eine bequeme Stelle um sich hinzulegen. Im Gegensatz zu Koshy fühlte sie sich überhaupt nicht wohl. Die Magie des Windes war zwar vertraut, aber sie spürte, dass die Auseinandersetzung mit dem Priester ihre Verbindung zum Element beeinträchtigt hatte. Sie fühlte sich schwach und unsicher. Die seltsame Wärme, die sich am Vormittag in ihrem Körper ausgebreitet hatte, war verschwunden.Nur noch das Zentrum, wovon sie ausgegangen war, blieb als pulsierende Hitzequelle in ihrer Körpermitte zurück. Sie erschien ihr fremd und vertraut zugleich. Erde, hatte Koshy gesagt, als er es gespürt hatte, doch Anna fürchtete sich davor, was in ihrem Innern geschah. Es fühlte sich unnatürlich an.

In dieser Nacht störten lebhafte Träume ihren Schlaf. Verschwommene Bilder von Menschen und Orten und starke Gefühle überschwemmten sie, die nicht ihre eigenen waren. Schmerz und Furcht und dann eine tiefe Glückseligkeit, die alles andere verdrängte. Sie hörte eine Stimme ihren Namen flüstern, immer und immer wieder, da schrak sie auf. Die Stimme klang noch in ihren Ohren, als sie schwer atmend und mit klopfendem Herzen in die dunklen Baumkronen über sich starrte und versuchte zu sich selbst zurückzufinden. Sie erinnerte sich an diese Stimme, aber woher? Konzentriert schloss sie die Augen und rief sich den Traum wieder ins Gedächtnis, doch die Erinnerung verschwamm bereits. Noch während sie darüber grübelte, driftete sie wieder zurück in den Schlaf und die Stimme begleitete sie durch viele Abenteuer, die sie nun im Traum durchlebte.

In dem seltsamen Zustand, in dem man träumt, sich gleichzeitig aber dessen bewusst ist, erkannte sie Saronn. Er sah anders aus als sie ihn in Erinnerung hatte, aufrechter, jünger auf eine Art, dachte sie und ein Gefühl derZuneigung stieg in ihr auf, das nicht das ihre war. Verstört schob sie das Bild von sich. Der Traum veränderte sich und sie sah sich einem jungen attraktiven Mann gegenüber. Er hatte flammend rotes Haar und um seine ernsten blauen Augen sprossen zahlreiche kleine Lachfalten, als er sie begrüßte. Im Traum fiel sie ihm in die Arme und heiße Erregung durchflutete sie, als er sie stürmisch küsste. „Taos", hauchte sie sanft in sein Ohr und seine starken Arme umschlossen sie in wohliger Geborgenheit.

Anna wachte auf. Es dämmerte bereits und verwirrt richtete sie sich auf. Sie kannte diese Art von Träumen, die nicht die ihren waren. Sie erinnerte sich lebhaft an ihren Ritt mit Aric, als der Wind ihr mit solchen Bildern zugesetzt hatte. Doch bisher war sie in solchen Träumen stets Beobachter gewesen, niemals selbst die Handelnde. Noch stärker verwirrte sie der Inhalt ihres letzten Traumes. Der Name Taos lag ihr noch auf den Lippen und sie fragte sich, weshalb sie von ihrem Vater träumte, den sie doch noch nie gesehen hatte und woher sie gleichzeitig die Gewissheit nahm, dass dies nicht einfach nur ein Traum gewesen war. Sie schüttelte sich um die Bilder loszuwerden und zuckte dann zusammen, als der Schmerz sie an ihren gebrochenen Arm erinnerte. Mit einem Stöhnen stand sie auf und ging hinüber zu Koshy um ihn zu wecken. Die Grashalme, die den Jungen zudeckten, reckten sich ihr neugierig entgegen und verwundert griff sie hindurch um das schlafende Kind zu berühren.

„Koshy, wach auf. Es ist Zeit aufzubrechen."

Der Junge regte sich und gähnte herzhaft, dann schlug er lächelnd die Augen auf.
„Guten Morgen", sagte Anna und lächelte zurück. Koshy stand auf und rieb sich die verschlafenen Augen, dann sah er sie an und stutzte.

„Du siehst anders aus. Geht es dir gut?", fragte er skeptisch.

„Ich habe nur schlecht geträumt, Koshy. Und ich habe schrecklichen Hunger", erwiderte sie. Koshy rieb sich seinen knurrenden Bauch.
„Ja, ich auch", sagte er und sie beschlossen sich auf den Weg zu machen und die Augen nach etwas Essbarem offenzuhalten.


Gegen Mittag löschten sie ihren Durst an einem Bachlauf und rasteten dann am Rande eines kleinen Wäldchens, wo sie frische reife Beeren fanden. Stumm genossen sie die Früchte und ließen sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Koshy musterte sie.

„Dein Haar", sagte er dann plötzlich. „Das ist es. Dein Haar ist dunkler. Deshalb siehst du anders aus", erklärte er wie ein Wissenschaftler, der gerade ein schwieriges Problem gelöst hat.

„Das bildest du dir ein", sagte Anna lächelnd und stopfte sich eine weitere Beere in den Mund.

Doch Koshy ließ sich nicht davon abbringen, stand auf und nahm ihren Zopf in die Hände. „Nein, sieh doch, es ist richtig braun", beharrte er und zog den Zopf um ihren Kopf, sodass sie die Spitzen sehen konnte. Anna musterte sie skeptisch. Sie waren tatsächlich nicht so rot, wie sie sein sollten.

„Sie müssen nur gewaschen werden", tat sie das Thema ab und stand auf. „Lass uns weitergehen."

Koshy schnaubte ungläubig und stapfte hinter ihr her. Die ungetrübte Fröhlichkeit vom Vortag war verschwunden und er wanderte zwar mit einem Lächeln auf den Lippen neben ihr her, doch immer wieder warf er ihr lange spekulative Blicke zu. Seine Miene wurde nachdenklich. Anna versuchte ihn zu ignorieren. Sie hatte ganz andere Probleme. Die Traumstimme klang ihr noch immer in den Ohren und ihr Inneres wand sich wie eine Schlange, die versucht sich einen Weg nach außen zu bahnen. Übelkeit stieg in ihr auf und sie presste ihre gesunde Hand vor den Bauch, während sie stur einen Schritt vor den anderen setzte.

Das Erbe der schwarzen KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt