{36} Promise

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Ich stand da. Der Wind fasste in meine Haare und umspielte mein schwarzes Kleid. Die Sonne ging soeben hinter dem Hügel unter und tauchte alles in ein rot-orangenes Licht. Ich hörte nicht wie die anderen langsam sich entfernten, trotzdem wartete ich. Ich wartete bis ich alleine war. Mein Blick war auf die frische Erde vor mir geheftet. Der Stein dahinter.

Park Jimin
Ein Sohn, ein Bruder, ein Freund, eine Liebe
Geboren am 13.10.1995
Gestorben am 10.08.2020

Heute hatten sie nicht nur ihn beerdigt. Ein Stück von mir war bei ihm. Ein wichtiges. Und die Leere, diese ungeheuerige, alles verschlingende Leere, die es hinterließ, war übrig geblieben. Reglos las ich den Grabstein. Immer und immer wieder huschten die Worte und Zahlen vor meinem inneren Auge vorbei.
Langsam ging ich in die Knie, achtete nicht darauf, dass sie schmutzig wurden. Ich legte eine Hand auf die aufgewühlte Erde. Sofort durchfuhren mich die Momente, in denen ich Jimin berührt hatte wie ein Blitzschlag:

Das erste Mal, als wir uns die Hände schüttelten. Wie ich zögerlich die Arme um ihn schlang, als ich hinter ihm aufs Motorrad stieg. Wie ich mich in seine Arme warf, als ich mich von Jace so elendig beschmutzt fühlte. Wie ich ihn von mir stieß, verwirrt von meinen Gefühlen für ihn. Wie ich ihn schließlich küsste und gleich darauf zurückwies, wie ich ihn aus der Wange zog, wie ich ihm Krankenhaus seine Hand hielt, unsere Hände ineinanderverschlungen, meine Hand an seiner Wange, seinem Hals, seinen Schultern, Brust.
Ich zog sie zurück als hätte ich mich verbrannt.

"Was soll ich nur ohne dich tun?", flüsterte ich.
Ich schloss die Augen und lauschte. Wartete auf Jimin, Gott oder irgendwer da oben, der mir eine Antwort geben konnte. Aber tief in mir wusste ich schon die Antwort: Weitermachen. Es schien nur so unmöglich. So schier untragbar. Die Zukunft. Ohne ihn.
Ich schaffe das nicht.

Eine Hand legte sich auf meine Schulter und ich fuhr vor Schreck zusammen. Jin stand da. Seine Augen waren rot und seine ganze Gestalt schien so eingefallen, als wäre die ganze Statik verschwunden. Er hielt mir etwas entgegen. Eine Kamera.

Ich schluckte und sah wieder auf in Jins Gesicht. Dann nahm ich die Kamera wortlos entgegen. Jin blickte mich an, dann drehte er sich um und ging langsam davon. Mein Blick heftete sich auf die Kamera. Ich erinnerte mich daran, sie mit Jimin benutzt zu haben. Bilder geschossen zu haben. Glückliche Bilder. Lebendige. War ich bereit sie zu sehen?
Aber ich musste, ich musste ihn sehen.

Mit zitternden Händen drückte ich auf den Power-Knopf. Das erste Bild hatte ich von Jimin gemacht. Meine Finger zitterten, als ich die Kamera fest umklammert hielt und ihn betrachtete. Er stand da, mit zwei tropfenden Eis in der Hand und grinste in die Kamera. Seine Augen funkelten so fröhlich und lebendig, dass der Schmerz mir die Luft abschnürte. Monoton drückte ich weiter. Es folgten Bilder von uns. Wir lachten, sahen uns an oder küssten uns. Viele Bilder von Jimin in den verschiedenen Situationen. Sogar welche von mir, die er gemacht haben musste, wo ich es nicht gemerkt hatte. Wie ich Frühstück zubereitete, nur in einem Hemd von ihm. Wie ich in seinem Gart saß, Kopfhörer in den Ohren und die Augen geschlossen. Wie ich da saß, die Wand mit unserem Graffiti im Hintergrund.

Dann erschien ein Video und mein Herz setzte aus. Zögerlich drückte ich auf die Taste. Es war unser Karaoke-Abend gewesen. Im Hintergrund lief Gotta Go von Chung Ha und Jimin tanzte. Ich lachte hinter der Kamera, während Jimin mit einem hoch emotionalen Ausdruck das Lied fühlte. Dann lief ich mit der Kamera auf Jimin zu.
"Warum bist du nur einer Boygroup beigetreten und hast nicht mit Chang Ha eine Girlgroup aufgemacht?", fragte ich lachend.

Er griff nach meinem Arm und die Kamera wackelte, während er mich an sich heran zog. Nun zeigte das Bild auch mich, wie ich in seinem Arm lag. Jimin grinste in die Kamera.
"Hii Armys! Was haltet ihr davon, wenn ich mit Chang Ha eine Kariere starte? Ich hoffe ihr unterstützt mich!"
Ich lachte laut und küsste ihn auf die Wange.
"Ich glaube, sie hätten ein paar Einwände.", kicherte ich.
"Annyeong, Armys!", rief Jimin, winkte und der Film war zu Ende.

Die Kamera rutschte mir aus den Händen. Der Schmerz zerriss mich von innen heraus. Ich wollte schreien, rennen, auf etwas einschlagen, irgendetwas tun. Kämpfen.
Aber wie sollte ich gegen diesen gewaltigen Schmerz kämpfen? Wie sollte ich den Verlust von Jimin, meiner großen Liebe, bekämpfen?
Gar nicht.
Meine Hände wanderte zu meinen Schnürsenkeln und ich öffnete meine Schuhe. Schwankend stieg ich aus ihnen und spürte das weiche Gras unter meinen Fußsohlen. Ich entfernte mich langsam, den Blick auf Jimins Grab geheftet. Meine Schuhen standen da, allein und verdreckt. Wie neu sie noch am Anfang des Sommers gewesen waren!
Die schwarzen Converse.

Meine Hände wanderten in die versteckten Falten meines Kleides. Ich spürte die kleinen Pillchen an meinen Fingern.
Der einzige Weg den Schmerz zu bekämpfen. Der einzige Weg Jimin wiederzusehen.
Ich wollte kämpfen. Für meine Familie, meine besten Freunde, für Jimin. Aber ich konnte nicht kämpfen. Nicht so.
Ich schloss die Finger um sie und zog meine Hand aus der Tasche. Ich musste sie nur noch schlucken. Schlucken und einschlafen, dann würde ich ihn wiedersehen. Dann würde ich wieder seine funkelnden Augen, sein schiefes Grinsen sehen. Seine Stimme hören. Ihn berühren. Ihn lieben.
Diese Liebe schmerzte. Sie schmerzte so unerträglich, dass ich sie nicht wollte. Ich wollte doch nur wieder bei ihm sein.

Entschlossen hob ich die Hand. Mein Blick glitt auf die Converse. Wie sie da standen, verlassen.
Meine Lippen bebten und meine Hand zitterte. Ich starrte auf die Schuhe, dachte daran, wie das rosa Eis auf sie gefallen war, wie ich Jimin das erste Mal angesehen hatte mit seinem unverschämten Grinsen. Das Bild verschwamm vor meinen Augen und Tränen benässten meine Wangen während ich die Hand sinken ließ und meine Finger öffnete. Die Pillen fielen ins Gras, verschwanden.
Ich holte zitternd Luft und streckte die Schultern durch, stellte mich aufrecht hin. Unter der größten Kraftaufwendung.
"Wir werden uns wiedersehen Park Jimin.", wisperte ich. "Aber nicht heute."

Dann drehte ich mich um. Das Gras war angenehm unter meinen nackten Füßen und der Wind strich liebkosend um mich herum. Die Sonne schien mit ihren letzten Strahlen und beleuchtete den Weg vor mir. Der Weg den ich mit Tränen und Schmerz, unendlichen Schmerz, entlang ging. Aber ich ging ihn. Kämpfend. Stark. Denn ich war nicht schwach.

Ich halte mein Versprechen, Jimin.

Converse High [p.jm]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt