verheißungsvolle Geschenke

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„Die Schüler!", rief Wei WuXian und sah Lan WangJi erschrocken an. Nun blieben ihnen nur wenige Sekunden. Hastig versuchten sie ihre Kleider vom Boden aufzusammeln und sich wieder anzuziehen. Metallische Geräusche von Schwertern, die aus ihren Klingen gezogen wurden, hallten durch den Pavillon der Schriften.„Seid ihr sicher, dass die beiden hier sind?" Das war die Stimme von Lan XiChen, die besonders in Lan WangJi Nervosität auslöste. Sie schafften es gerade noch ihre Gürtel zu schließen schon standen sie vor ihnen: Fünf Schüler des Lan Clans, Lan XiChen in ihrer Mitte. Verwunderte Blicke begegneten ihnen, sie wanderten über das Chaos am Boden, das zerbrochene Regal... „Was ist hier passiert?", fragte Lan XiChen. „Wir hörten Schreie und einen lauten Schlag...!"Wei WuXian warf entschuldigende Blicke zu Lan WangJi. Er wusste, dass am Ende alles seine Schuld war. Er hatte sie zu all dem gebracht. Er konnte nicht Lan WangJi die Verantwortung überlassen es richtig zu stellen. „Lan XiChen!", rief Wei WuXian. „Nur eine kleine Kampfübung zwischen Brüdern! Lan Zhan hat mir von einer besonderen Schwerttechnik erzählt... Ich wollte sie gleich ausprobieren und... habe eine falsche Bewegung ausgeführt!"„Bist du verletzt?" Lan XiChen betrachtete Lan WangJis Zustand, der ihm alles andere als gesund vorkam. Lan WangJi verbeugte sich tief. „Es geht mir gut. Bitte entschuldige. Wir hätten diese Übung nicht in der Bibliothek ausführen dürfen."Lan XiChens Blick wanderte über ihre offenen Haare und für einen Moment war Wei WuXian sicher er würde ihre Lüge durchschauen, denn selbst wenn sie gekämpft hatten, das Öffnen ihrer Haarbänder hätte nicht durch eine falsche Bewegung entstehen können, man musste sich schon gezielt daran zu schaffen machen. Sehr zu Wei WuXians Überraschung sah er jedoch davon ab sie zu stellen.„Nun, ich bin beruhigt, dass nichts Schlimmeres geschehen ist", sagte er ruhig. „Ich befürchtete schon einen ungewünschten Eindringling." Dann verbeugte er sich vor Wei WuXian. „Wei WuXian. Ich habe Euch lange nicht mehr im Wolkennest gesehen. Was für eine Freude Euch wohlauf zu wissen. Wir waren in der Vergangenheit hin und wieder in Sorge, ob Ihr uns überhaupt noch einmal besuchen kommt." Überrascht über die freundlichen Worte, verbeugte sich Wei WuXian genauso tief. „Lan XiChen, es ist mir eine Ehre! Wenn Ihr erlaubt würde ich gerne noch ein paar Tage bleiben." Er wusste, dass dies womöglich nicht der richtige Zeitpunkt war eine solche Bitte zu äußern und dennoch wagte er es. Lan XiChens Augen wanderten prüfend zu Lan WangJi, der sich daraufhin vor Lan XiChen verbeugte. Wei WuXian und womöglich auch Lan XiChen bemerkten, dass in dieser Verbeugung eine gewisse Emotionalität lag. „Bitte gestattet Wei WuXians Aufenthalt!" Lan XiChen blickte abwechselnd zwischen beiden hin und her, dann wies er die Schüler an ihre Schwerter zurückzustecken. Ein mildes Lächeln legte sich auf eine Lippen.„Seid willkommen, Wei WuXian." Er wollte sich bereits abwenden, da drehte er sich noch einmal zu ihnen um. „Bitte beseitigt die Schäden und sammelt die Bücher ordentlich ein." Während seine hochgewachsene, majestätische Silhouette nach draußen verschwand blickten sie ihm erleichtert nach und begannen die Bücher vom Boden aufzuheben.„Für einen Moment dachte ich er durchschaut uns", kicherte Wei WuXian. „aber er hat uns nicht mal eine Strafe gegeben!" „Er ist nicht dumm.", erwiderte Lan WangJi und richtete das Regal wieder auf. Nur eine Bewegung seiner magischen Hände brachte die zerbrochenen Holzstücke dazu sich wieder zusammenzufügen. „Meinst du er weiß etwas?" Wei WuXian grinste und half Lan WangJi die Bücher wieder auf das Regal zu stellen. Lan WangJi schweig und tat seine Arbeit. Wei WuXian stieß neckend den Ellenbogen in seine Seite. „Ich mag es lieber, wenn du eine Reaktion zeigst..." Lan WangJi warf ihm einen grimmigen Blick zu. Als er fertig mit dem Sortieren der Bücher war, wollte er ohne ein weiteres Wort aus der Bibliothek verschwinden, doch Wei WuXian hielt sein Handgelenk fest. „Nun sei nicht sauer, ich weiß, dass es keine gute Idee war im Pavillon der Schriften über dich herzufallen...! Du hast mich aber auch nicht davon abgehalten!" Mit einem Ruck befand sich Lan WangJi wieder in seinen Armen, er schlang die Arme von hinten um seine Taille und flüsterte grinsend in sein Ohr. „'Ich brauche dich, Ich brauche dich sehr...' Hmm... das werde ich nicht vergessen..." Lan WangJi wurde rot und befreite sich aus Wei WuXians Griff. Mit schnellen Schritten stampfte er hinaus, sein weißer Schleier wehte in weiten Bahnen hinter ihm her. Ein breites Lächeln bildete sich auf Wei WuXians Gesicht. „Lan Zhan, warte auf mich!"Wei WuXian vergaß die Zeit in den Bergen von Gusu. Der gerade erst angebrochene Sommer verstrich im Nu. Die grünen Blätter der Bäume verfärbten sich rot, die warmen Abende wurden kürzer. Aus ein paar Tagen entwickelten sich Monate voller Abenteuer. Er lebte gut in den Häusern des Lan Clans. Die Schüler gewöhnten sich an seine Anwesenheit und Lan XiChen kam ihm allmählich vor wie ein großer Bruder. Noch weitere Vorfälle wie der in der Bibliothek ereigneten sich, doch er sah immer davon ab ihn oder Lan WangJi zu bestrafen. Die drei bildeten eine gut funktionierende, fast ebenbürtige Einheit. Er wagte kaum den Begriff auszusprechen, der ihm eigentlich auf der Zunge lag... die Geborgenheit, die er empfand, erinnerte ihn tatsächlich an „Familie".Ein Vorhaben reifte in ihm heran, das nicht erst seit gestern in seinen Gedanken kursierte und eines schönen Tages im Oktober wusste er, dass er es wagen würde.Er verbrachte seinen Morgen auf einer Bank in den Wäldern und blickte auf die grünen Täler mit ihren weiß aufschäumenden Wasserfällen, während er Flöte spielte. Nicht irgendein ein Lied, sondern Lan WangJis Komposition. Obwohl er es nie ausgesprochen hatte, fühlte Wei WuXian, dass es von ihnen beiden handelte. Er wollte, dass es mit dem Wind in jeden noch so verborgenen Winkel der Bäume, in die Höhlen und die von Tau bedeckten Blüten der weißen Orchideen getragen wurde. Dann steckte er die Flöte an seinen Gürtel und holte etwas aus seiner Brusttasche. Noch einmal las er seinen selbst verfassten Brief, prüfte ob er schön genug formuliert war, ob sich kein Rechtschreibfehler eingeschlichen und ob er sauber genug den Pinsel geführt hatte. In seiner anderen Hand lag ein roter Seidenbeutel, fest verschlossen mit einer Schleife. Bevor er aufstand, blickte er noch einmal zum klaren Morgenhimmel hinauf, als wolle er sich ein letztes Mal vergewissern, ob das Schicksal ihm den richtigen Weg wies. Er musste aufbrechen, sonst würde Lan WangJi aufwachen und seine Gelegenheit wäre vertan.Er fasste sich ein Herz und marschierte zielgerichtet, doch nervös, zu den Häusern des Gusu Lan Clans. Dort blieb er vor einem bestimmten Haus stehen. Er klopfte vorsichtig an und betrat das Arbeitszimmer von Lan XiChen. Er saß an seinem Schreibtisch und blickte verwundert zu Wei WuXian auf, nicht gewöhnt ihn zu so früher Stunde anzutreffen. Normalerweise bevorzugte er es länger zu schlafen als alle anderen. Auch seine Aufmachung wirkte anders. Er trug nicht seine schwarze Lederkluft, sondern ein weißes Gewand des Lan Clans. Sein Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten und mit einem weißen Band verschlossen.Wei WuXian verbeugte sich. „Guten Morgen, Wei WuXian", erwiderte Lan XiChen, legte seinen Pinsel nieder und bettete die Hände in den Schoß, bereit seinem Besucher zu zuhören. „Ich bin etwas überrascht Euch so früh hier anzutreffen. Gibt es etwas Besonderes?" Wei WuXian erhob sich langsam aus der Verbeugung. „Darf ich mich setzten?" Mit einer eleganten Geste wies Lan XiChen ihn an sich vor seinem Tisch auf ein Kissen niederzulassen und so tat es Wei WuXian. Anders als Lan XiChen es von ihm gewohnt war, schien er verhalten, sogar etwas schüchtern sein Anliegen in Worte zu fassen.„Es gibt in der Tat etwas, worüber ich mit Euch sprechen möchte", begann er. „Es mag Euch etwas merkwürdig vorkommen, doch seid versichert, dass ich lange darüber nachgedacht habe und nicht leichtfertig mit diesem Anliegen zu Euch komme." Nun holte er den Brief und den roten Seidenbeutel hervor und reichte beides Lan XiChen in einer weiteren Verbeugung. Lan XiChen betrachtete die Gegenstände voller Erstaunen, nahm sie entgegen und legte sie vor sich auf den Tisch. Er kannte diese Mitbringsel, doch wagte er noch nicht ihre tiefere Bedeutung zu akzeptieren, während sich Wei WuXian seinerseits nicht traute den Kopf zu heben. Als Lan XiChen den Beutel öffnete kam ein kostbares Armband zum Vorschein, das ihn für einen Augenblick den Atem anhalten ließ. Ein zaghaftes Lächeln zog über Wei WuXians Gesicht und mit einigem Stolz sagte er: „Ich habe es selbst gemacht. Die Konstruktion entspricht dem Armband, das damals meinem Neffen schenken wollte... Es hat mich einige Zeit gekostet die Magie des Lan Clans zu verstehen und eines zu erschaffen, das nicht aus dunkler Magie besteht... doch ich denke es ist mir gelungen!" Lan XiChens Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Verblüffung und Entsetzen. Noch immer traute er sich nicht die Erkenntnis zu zulassen, die dieses Geschenk in ihm auslöste. Er fuhr damit fort den Brief zu öffnen. Wei WuXians Augen ruhten auf seinen schlanken, weißen Händen, als er ihn öffnete, doch huschten immer wieder zu seinem Gesicht, um eine Reaktion zu erkennen. Nachdem er zuvor Angst gehabt hatte, überwog nun seine Neugier. Er saß regelrecht auf glühenden Kohlen. Bereits nach den ersten Zeilen fuhr Lan XiChen so abrupt von seinem Schreibtisch auf, dass ihm das Herz stehen blieb.„Wei WuXian!", rief er, nun deutlich betroffen. Wei WuXian tat es ihm gleich, auch er fuhr auf.„Zewu Jun! Ich weiß es erscheint ein wenig absurd, was ich erbitte, doch seid nicht erschrocken! Ich flehe Euch an! Lest weiter und denkt darüber nach!" Lan XiChen schien mit sich zu hadern. Er wusste nicht, ob er auf Wei WuXian hören oder seinen inneren Stimmen folgen sollte. Letztendlich senkten sich seine Augen wieder auf das Papier. Er ließ sich auf seinen Platz nieder und las den restlichen Brief schweigend. Als er fertig war legte er ihn andächtig auf den Tisch. Wei WuXians Blick war erwartungsvoll auf ihn gerichtet, doch bisher äußerte er nur ein leises Kopfschütteln. „Habt Ihr das mit WangJi besprochen...?", fragte er dann, doch Wei WuXian zuckte nur mit den Schultern. Dann umspielte ein Lächeln seine Lippen.„Ehrlich gesagt... will ich ihn damit überraschen. Er würde es sich sehr wünschen, das weiß ich."„Wei WuXian... Ihr wisst, dass ich Euch respektiere, aber was Ihr vorhabt ist in so hohem Maße unmöglich-!" Da warf Wei WuXian die Arme über den Tisch, um seine Hände fest um Lan XiChens zu klammern. „Bitte gebt mir Eure Erlaubnis, Lan XiChen! Ich weiß nicht wie ich sonst weiterleben soll! Ihr habt doch längst alles mit eigenen Augen gesehen! Ihr kennt die Gefühle Eures Bruders besser als Eure eigenen!" Er hob den Kopf und Lan XiChen sah, dass sich Tränen in seinen Augen bildeten. „Ihr seid ein ehrenwerter, guter Clanführer...Ihr wisst was richtig und was falsch ist! Wollt Ihr Lan Zhan eines Tages dazu zwingen eine Frau zu heiraten? Wollt Ihr verantwortlich dafür sein, sein Glück zu zerstören?" Lan XiChen seufzte tief und rieb sich den schmerzenden Kopf. Für einen Moment schien er in sich gekehrt, dann reichte er Wei WuXian ein Taschentuch. „Wei WuXian, Ihr wisst, dass das Bündnis nur entstehen kann, wenn auch die Gegenseite zustimmt. Dazu müsste WangJi Euren Bruder überzeugen. Traut Ihr Euch das zu?"Ein Hoffnungsschimmer legte sich auf Wei WuXians Gesicht. „Mein Bruder ist stur, doch kein Unmensch. Sicher wird es nicht leicht, doch ich weiß, dass Zhan Zhan sein bestes für mich geben wird." Er bemerkte, dass er einen Kosenamen vor dem Clanführer ausgesprochen hatte und legte sich, ein wenig beschämt, die Hand auf die Lippen. Das wiederum brachte nun Lan XiChen, der seinen ersten Schock überwunden hatte, zum Lächeln. Sein Blick wurde nostalgisch, seine Gedanken schienen sich weit zu entfernen.„Wisst Ihr, Wei WuXian...", begann er. „Ich erinnere mich an ein Ereignis, das weit in der Vergangenheit liegt... WangJi war erst dreizehn Jahre alt. Damals nahmen wir ein Mädchen auf. Sie sorgte in den Reihen der Schüler für Aufruhr, denn sie sah hübsch aus und die Jungen konkurrierten um sie, doch sie hatte nur Augen für WangJi. Er bemerkte sie nicht einmal, interessierte sich nur für seine Schulaufgaben und eines Tages lief sie weinend davon und kam nie wieder... Ich dachte immer ich würde ihn gut kennen. Ich hielt ihn für jemanden, der nichts auf der Welt mehr liebt als seine Pflichten. Doch als du zum ersten Mal zu uns kamst wusste ich, dass ich mich geirrt hatte. Er war nur noch nicht der richtigen Person begegnet. Auf einmal zeigte WangJi so viele Facetten, die mir unbekannt waren... Niemand außer dir hat je so etwas in ihm hervorbringen können."„Lan XiChen", begann Wei WuXian. „Ich weiß wie verrufen mein Name ist... Ich habe längst keine weiße Weste mehr... doch ich bin bereit meine Pläne für Lan Zhan zu ändern! Wenn Ihr mir nur diese eine Chance gebt, will ich versuchen ein würdiges Mitglied des Lan Clans zu werden! Ich kenne all Eure Regeln und ich lerne jeden Tag mehr von Eurer Magie...!"„Wei WuXian", sagte Lan XiChen. „Ich habe nie an Euch gezweifelt." Er faltete den Brief, legte das Armband wieder zurück in den Beutel und ließ beides in der Schublade des Schreibtisches verschwinden. „Wenn Ihr es schafft Jiang Chen zu überzeugen, soll meiner Zustimmung nichts im Wege stehen." Wei WuXians Herz machte einen Sprung. Er verbeugte sich hastig. „Lan XiChen! Ich danke Euch! Ich danke Euch von ganzem Herzen!" Er hatte sich die ganze Zeit bemüht die Etikette zu wahren, doch nun fiel er dem Clanführer stürmisch um den Hals. Lan XiChen reagierte ein wenig erschrocken, wenngleich sich einige Sekunden später ein Lächeln auf seinem Gesicht andeutete. Als Wei WuXian aufgedreht und fröhlich wie ein Kind zur Tür hinaussprang, blieb er kopfschüttelnd zurück. Er dachte eine Weile darüber nach, welche Konsequenzen sie erwarteten, wenn Jiang Chen tatsächlich zustimmte. Wei WuXian würde den Lanling Jiang Clan offiziell verlassen und ein Teil des Lan Clans werden, unter dessen Obhut er bis zu seinem Tod leben würde. Sicher schlüge diese Nachricht im Reich große Wellen, denn ein Bündnis dieser Art war noch nie geschlossen worden. Negative Stimmen wären unvermeidbar, das Ansehen des Clans konnte sogar stark beschädigt werden, und doch war er überzeugt die einzig richtige Entscheidung getroffen zu haben.

The SecretWo Geschichten leben. Entdecke jetzt