Herzschlag

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Schwarzer Rauch bildete sich in den weiß verschneiten Berggipfeln. In raschen Bewegungen flog er von einem zum nächsten Gletscher, schnell wie ein Blitz. Wie die Krallen einer Fledermaus gruben sich die Hände des Geistergenerals in die Hänge, während er vom einen zum nächsten Hindernis sprang.
Schon seit vielen Jahren streifte er so durch die Länder. Um ungesehen zu bleiben nahm er Wege, die niemals ein Mensch in der Lage wäre zu beschreiten, über Klippen, reißende Flüsse oder sogar Vulkanlava. All das konnte seinem Körper nichts anhaben, denn er war längst tot, unmöglich Schmerzen zu verspüren oder Regungen zu zeigen. Selbst die zunehmende Kälte machte ihm nichts aus. Das einzig lebendige in ihm war seine Seele.
Endlich erreichte er den Gipfel des Berges, wo ihn ein bläulicher Schimmer anlockte. Die Spitze war gerade so breit, dass her hochklettern und mit beiden Beinen Fuß fassen konnte. Beschienen vom goldenen Licht der Sonne, die bereits hoch am Himmel stand, beugte er sich hinunter zu diesem Ding, das so faszinierend strahlte.
Vor ihm wuchs eine Blume, die wie ein Stern aussah, ihre Blüten erinnerten Magnolien, doch sie waren nicht rosa, sondern blau wie der Winterhimmel und unberührt von Frost. Ein magischer Schein umgab sie, sodass er sofort spürte, dass dies keine gewöhnliche Blume war, sie musste eine spirituelle Kraft besitzen.
Als er sie berührte, durchfuhr ihn ein merkwürdiges Kribbeln, es schien unangenehm, als würde Elektrizität ihn durchfluten und so zog er seine Hand schnell wieder zurück. Gleichzeitig kam ihm eine Idee. Noch eine zweite Blüte derselben Art wuchs aus derselben Wurzel. Sicher wäre es kein allzu schreckliches Vergehen eine davon mitzunehmen. Die andere würde fröhlich weiterwachsen.
Schon setzte er sein Vorhaben in die Tat um. Er kniff die Augen zusammen, erduldete den Schmerz des merkwürdigen Energiestromes und pflückte eine Blüte. Um nicht in direktem Kontakt mit der Pflanze zu stehen, denn selbst nachdem er sie abgepflückt hatte wurde die Energie nicht schwächer, steckte er sie in die löchrige Brusttasche seiner Jacke, bedacht darauf sie gründlich zu befestigen, damit er sie nicht verlor, wenn er weiterflog. Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Wäre er in der Lage dazu gewesen, hätte er nun gelächelt.
Er zog weiter, ein bestimmtes Ziel vor Augen, und wurde plötzlich sehr nervös. Er kannte das Gefühl bereits, doch gewöhnen würde er sich nie daran. Er war so in Gedanken, dass er nicht bemerkte, wie steil er auf den Waldboden zusteuerte. Er verlor zu spät an Geschwindigkeit und schlug hart auf dem Erdboden auf. In Erinnerung an den Schmerz rieb er sich den Rücken und rappelte sich auf.
Nun stand er inmitten eines dichten Kieferwaldes. Er schüttelte sich den Schnee von den Gliedern und als er aufsah, blickte er in ein ovales Porzellangesicht mit großen, murmelartigen Augen.
„A...A-Yuan...!"
Lan SiZhui trug ein hellblaues Gewand mit weißem Kragen, seine Hände waren in verlegener Art hinterm Rücken verschränkt und auf seinen runden Wangen lag ein rosafarbener Schimmer, der womöglich von der Kälte stammte, womöglich auch nicht.
„I-Ich wollte nicht zu spät kommen, bitte verzeih! D-Du musst bereits auf mich gewartet haben!" Wen Ning verbeugte sich hastig. Sein schwarzes, zerzaustes Haar flog auf und ab dabei.
„Oh – nein, du irrst dich, Wen Ning-Xiong! Ich bin noch nicht lange hier! Als ich mich wegschleichen wollte hat mich Zewu Jun erwischt und ich musste mir etwas anderes ausdenken, um gehen zu dürfen!"
„A-Yuan... immer bereite ich dir so großen Ärger..." Wen Ning senkte traurig den Kopf, doch seine schlechte Laune hielt nicht lange an. Er erinnerte sich, was er auf dem Berg gefunden hatte. „Sieh nur, A-Yuan, ich habe dir etwas mitgebracht!" Während Wen Ning in seiner Brusttasche herumwühlte, trat Lan SiZhui neugierig näher. „Ich habe sie auf dem höchsten Berg von Gusu gefunden, auf einem Berg, der niemals zuvor von Menschen betreten wurde! Sie muss etwas Besonderes sein, etwas Magisches!" Doch als Wen Ning seine Handfläche öffnete lag dort nur eine graue, vertrocknete Blume mit schwarzen Blättern. „A-Aber... i-ich verstehe nicht...?! Eben war sie noch blau und wunderschön...!" Wen Ning sank auf die Knie. Lan SiZhui betrachtete ihn besorgt und legte eine Hand auf seine Schulter.
„A-Ning... es ist eine sehr schöne Blume...", sagte er, doch Wen Ning schien ihn gar nicht zu hören.
„Ich habe sie gepflückt, als sie frisch war... erst vor wenigen Minuten! Wie kann sie so schnell verwelken? Bin ich denn eine so schreckliche Kreatur...? Bringe ich Tod über alles, was ich anfasse...?" Er schluchzte, doch keine Träne verließ seine Augen und es brach Lan SiZhui das Herz.
„A-Ning", sagte er sanft, seine Hand streichelte Wen Nings Schulter. „Du bringst nicht allen den Tod. Sieh nur, ich berühre dich und mir geht es gut." Wen Ning hob den Kopf, ein zaghafter Hoffnungsschimmer lag in seinen dunklen Augen. „Alles was zählt ist doch, dass wir zusammen sind, oder? Sieh nur wie schön dieser Tag ist! Es ist kalt, aber die Sonne scheint und der Schnee glitzert, wie ein Meer aus Diamanten! Wir könnten eine Schneeballschlacht machen oder versuchen auf dem zugefrorenen See herumzulaufen... Was meinst du, wie weit könnte man gehen, bis das Eis bricht? Sicher ist es eisig kalt, wenn man hineinfällt." Lan SiZhui schüttelte sich. Da erhellte sich Wen Nings Gesicht.
„Oder wir gehen zum Wolkenfelsen! Weißt du, dass darunter eine geheime Höhle versteckt ist? Wer weiß was dort verborgen ist...! Vielleicht wachsen dort noch mehr solcher blauer Blumen, dann kann ich sie dir zeigen!"
Nun geschah das, was Lan SiZhui sich erhofft hatte, Wen Ning sprang auf, seine Trauer war vergessen. Er packte Lan SiZhuis Handgelenk und so liefen sie los, gemeinsam durch den Wald. Zuerst spielten sie Fangen, beide schnell wie der Blitz. Wen Ning konnte davonhuschen wie ein Schatten und Lan ZiShui auf seinem Schwert fliegen. Die Bäume waren ihnen kein Hindernis. Manchmal versteckte sich Lan SiZhui in ihren Wipfeln, doch dann schoss Wen Ning wie aus dem Nichts zu ihm hinauf und das Spiel ging weiter. Danach begann eine Schneeballschlacht, aus der eindeutig Lan SiZhui als Sieger hervorging. Wen Ning war etwas ungeschickt, doch Lan SiZhui besaß die typische Eleganz und Geschicklichkeit der Gusu Lan Krieger. Dennoch war er am Ende ein wenig zerzaust, sein Hanfu feucht von Schnee und sein Gesicht gerötet vor Freude.
Sie verbrachten eine wunderbar ausgelassene Zeit und schließlich ergriff Lan SiZhui Wen Ning am Handgelenk und sagte, ein wenig aus der Puste „Komm mit, ich will dir etwas zeigen."
Er führte Wen Ning zu einem der verborgenen Wasserfälle, wo Lan WangJi und Wei WuXian oft Zeit miteinander verbracht hatten, was Lan SiZhui jedoch nicht wusste. Er hielt diesen Gegend für seinen geheimen Zufluchtsort.
Als die Bäume sich lichteten trat ein riesiger schäumender Wasserfall in ihr Sichtfeld, der im Sonnenlicht glitzerte wie eine Silberquelle. Überall bildeten sich Regenbögen, nicht nur zwei, sondern gleich fünf. Der Anblick hätte märchenhafter nicht sein können.
Wen Ning blieb staunend am Ufer stehen und sah hinauf zu diesem Wunderwerk der Natur.
„Es ist w-wunderschön...", brachte er hervor. Lan SiZhui holte ein Leinentuch aus seinem Ärmel und breitete es dort, wo die Sonne den Schnee bereits geschmolzen hatte, auf dem Boden aus. Sie ließen sich darauf nieder und betrachten eine Weile den Wasserfall. Ein friedliches Lächeln lag auf Lan ZiShuis Lippen. Er genoss es so mit Wen Ning am Ufer zu sitzen und in andächtiges Schweigen gehüllt, die Szenerie zu betrachten. Unbemerkt rückte er ein wenig näher an Wen Ning heran. Wäre er ein Mensch gewesen, hätte er Wärme verspürt, doch Wen Nings Körper war ganz und gar kühl wie die Winterluft. Es hielt Lan SiZhui nicht davon ab seinen Kopf an Wen Nings Schulter zu lehnen.
Als Wen Ning das spürte erstarrte er. Lan SiZhui hob vorsichtig die Augen. „Was hast du, A-Ning? Stimmt etwas nicht?"
„Du solltest mir nicht zu nahe kommen... du weißt doch ich bin g-gefährlich! Ich könnte dir etwas a-antun!" Lan SiZhuis Blick schweifte übers Wasser.
„Wei WuXian-Xiong hat gesagt, dass du ein anderer warst, als du Jin ZiXuan getötet hast, aber diesen Wen Ning kenne ich nicht. Ich kenn nur meinen A-Ning." Lan SiZhuis Fingerspitzen krallten sich in Wen Nings alte Jacke.
„A-A-Yuan...!" Lan SiZhui betrachtete ihn sanft und strich eine wirre Strähne aus Wen Nings bleichem Gesicht. Ein anderer hätte Wen Ning unheimlich und verwahrlost gefunden. Sein Hals war von einem schwarzen Geäst überwuchert, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten und seine Lippen schienen bläulich verfärbt, doch all das sah Lan SiZhui nicht. Vor ihm saß ein junger Mann mit seidigem Lockenhaar, roten Lippen und sanftmütigen Augen. Lan SiZhui hatte schon immer die Gabe besessen Menschen nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen zu sehen und die Seele, die Wen Ning noch immer in sich trug, hatte er so gern, dass ihm Worte allein nicht genügten. So drückte er, ganz unterwartet für Wen Ning, einen zaghaften Kuss auf Wen Nings Wange, der ihm durch Mark und Bein fuhr.
Zu Lebzeiten war Wen Ning nie geküsst oder wahrhaft geliebt worden. Er wusste, wie es sich anfühlte gehasst zu werden, davon hatte er jede Facette kennen gelernt, doch die Zuneigung eines anderen auf sich gelenkt zu haben, noch dazu so unbegründet und für ihn in keiner Weise nachvollziehbar, war ein noch zu lösendes Rätsel für ihn.
Mit Lan SiZhuis Berührung schien eine fremde Wärme in ihn zu fließen, das kalte, schwarze Blut in ihm schien für einen Augenblick in Wallung zu geraten und strömte zu seinem Herz. Dann klappte sein Mund auf, seine Augen weiteten sich. Er schlug sich die Hand vor die Brust.
„Was ist passiert?! Was hast du?!", rief Lan SiZhui, der die Veränderung in Wen Nings Verhalten bemerkte. Er schien plötzlich sehr aufgewühlt.
„E-Es... es hat geklopft!", stammelte Wen Ning und konnte seinen eigenen Worten nicht trauen. „M-Mein Herz... da war ein Schlag... Ich habe es genau gespürt!"
„Dein Herz hat geklopft?! Aber A-Ning, wie ist das möglich, dein Herz steht seit vielen Jahren still!"
Lan SiShui war außer sich. Natürlich glaubte er den Grund dafür zu kennen. Sollte es etwa seine Schuld gewesen sein? Mochte dieser kleine Kuss Wen Nings abgestorben Körper für eine winzige Sekunde ins Leben geholt haben? Und wenn dem tatsächlich so war – wäre er in der Lage so eine Reaktion noch einmal auszulösen? Gäbe es vielleicht eine Hoffnung Wen Ning wieder lebendig zu machen?
„Nanu, was haben wir denn da?" Hinter ihrem Rücken kam die melodiöse Stimme eines jungen Mannes hervor. Sie war weder hoch noch tief, doch schwingend wie eine Flöte...
Zum Vorschein kam ein schwarzer, schimmernder Seidenrock, an der Taille mit einem ledernen Gürtel zugebunden. Er trug nietenbesetzte Armschienen, sein rotes Haarband flatterte im Wind. Über der Schulter lehnte eine lange Flöte mit einer perlenverzierten Quaste.
„Meister Wei!" Wen Ning sprang auf und verbeugte sich tief, als Wei WuXian nähertrat, ein Grinsen auf seinen vollen Lippen.
„Hier steckst du also!" Seine Augen schweiften verrucht hin und her. „Natürlich konnte euch dieser Ort nicht lange verborgen bleiben..."
„Wei WuXian-Xiong, ich bitte vielmals um Entschuldigung, ich wollte mich nicht davonschleichen... I-Ich weiß ich bin längst zu spät dran... Ich hätte früher nachhause gehen sollen, aber ich und A-Ning-"
Wei WuXian grinste. „Du denkst wirklich ich bin gekommen, um dich zu bestrafen, A-Yuan. Was für ein süßes Kind du bist." Er streichelte neckend über Lan SiZhuis ohnehin ruinierte Frisur. „Ich liebe das Verbotene, von mir bekommt ihr sicher keine Strafe."
Lan SiZhuis Ausdruck wurde auf einmal ernst. Etwas stimmte nicht mit Wei WuXian, das war deutlich zu hören. Sein Tonfall, die schwarze Kleidung... das alles erinnerte an eine Zeit, die eigentlich längst hätte vergessen sein sollen.
So ist Wei WuXian also ohne Lan WangJi...
Seit Lan WangJi das Wolkennest verlassen hatte, litt Wei WuXian still vor sich hin und wurde von Tag zu Tag angespannter. Als Lan WangJi den Berg hinunter gegangen und außer Sichtweite geraten war, wurde Wei WuXian von einem unerklärlichen Fieber ergriffen, das ihm selbst eine Woche später noch zu schaffen machte. Gemeinsam mit Lan XiChen hatte sich Lan SiZhui um ihn gekümmert, ihm kühlende Verbände gemacht und mit spiritueller Energie auf ihn eingewirkt. Als es ihm wieder besser ging, begann er zu trinken und vernachlässigte seine Pflichten. Den Tagesablauf des Gusu Lan Clan konnte er bald nicht mehr einhalten.
Sein Verhalten bereitete allen Clan Mitgliedern große Sorgen. Zum ersten Mal erkannten sie die wahre Tragweite von Lan WangJis und Wei WuXians Beziehung. Sie befanden sich längst in einem Abhängigkeitsverhältnis, der eine konnte nicht ohne den anderen und so sorgten sich viele auch um das Wohl Lan WangJi, von dem keiner seit seiner Abreise gehört hatte.
Am schlimmsten sorgte sich jedoch Wei WuXian. Er hatte Albträume, schreckliche Vorahnungen... Sie hatten ihn sogar schon so weit getrieben, dass er aufzubrechen und Lan WangJi zurückzuholen wollte, doch Lan XiChen hielt ihn zurück. „Vertrau ihm, WangJi ist stark! Er wird sein Versprechen einhalten!" Und so hatte sich Wei WuXian besänftigen lassen.
„Wie dem auch sei, ich bin nicht gekommen um zu Quatschen! Wen Ning, wir müssen gehen, es gibt etwas Dringendes zu erledigen!", sagte Wei WuXian. „Verabschiedet euch voneinander und dann los!"
„Wei WuXian-Ziong!" Lan SiZhui verbeugte sich. „Vielleicht kann ich auch von Nutzen bei Eurer Unternehmung sein!"
„Oh – nein, nein, nein! Das ist viel zu gefährlich! Was meinst du wie wütend HanGuang Jun sein würde, wenn dir etwas zustößt!"
„Er hat mich immer zu wichtigen Missionen mitgenommen, damit ich etwas lerne! Er sagt nur die echte Herausforderung macht einen Kultivisten stärker!"
Wei WuXian raunte „...stur wie sein Vater...!" und verschränkte die Arme. „Es ist schon irgendwie süß, wie du Angst um die mächtigste Kreatur des Dämonenreiches hast." Damit war zweifelsohne Wen Ning gemeint. „Na gut, wenn du unbedingt willst...! Aber mach mir keine Schwierigkeiten! Du hast doch keine Angst vor schleimigen, blutigen und eiternden Kreaturen! Ich werde nämlich keine Zeit haben dich zu beschützen!"
Lan SiZhui fühlte Ekel in sich aufsteigen, doch ließ sich von Wei WuXians provozierenden Worten nicht beirren.
„Ich beschütze ihn, Meister Wei!", sagte Wen Ning und legte den Arm um Lan SiZhui. Seine Bewegung war unkoordiniert und ein wenig zu grob, sodass der schmächtige Junge im ersten Moment zusammenzuckte, doch die Geste löste Freude in ihm aus. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über Lan SiZhuis Gesicht und Wei WuXian seufzte. Natürlich kam ihm ihr Verhalten mehr als bekannt vor...

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