Das beste Buch

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Eine Weile später, es war bereits Abend geworden, betraten sie die Pforten des Wolkennestes. Milchige Laternen hüllten die Umgebung in goldenes Nachtlicht.
Jiang Chengs Augen wanderten über die blütenweißen Hauswände.
Obwohl der Gusu Lan Clan vor einigen Jahren durch den Qishan Wen Clan Schaden genommen hatte, sahen sie genauso makellos aus wie damals.
Erinnerungen wurden in ihm wach.
Er sah Jiang Yanli und Wei WuXian, höchstens sechzehn Jahre alt, im Hof herumalbern, bis ein sehr junger Lan WangJi, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und kühlem Blick, ihren Weg kreuzte. Während sie Haltung annahmen, lief er ein wenig hochnäsig vorüber. Die Vorstellung brachte Jiang Cheng zum Lächeln.
Sein damaliges Ich hatte sich um viele Dinge gesorgt, doch Lan WangJi war nie ein Teil davon gewesen.
Er versuchte sich daran zu erinnern wann sich seine Gefühle verändert hatten und fand sich plötzlich in der Vergangenheit wieder.

Seit Monaten bestand Jiang Chengs Alltag nur aus Stress. In Yunmeng und Umgebung war die Aktivität böser Geister und Kreaturen in letzter Zeit drastisch angestiegen.
Ständig sandte er Truppen aus, ließ Netze legen oder schritt selbst zum Kampf. Wenigstens kannte er mittlerweile den Ursprung des Übels – natürlich war es Xue Yang, der ihm wieder einmal das Leben zur Hölle machte. Zuletzt hatte er ihn auf frischer Tat ertappt. Nun musste er einen Plan schmieden, um Xue Yang für alle Zeiten aus seinem Herrschaftsgebiet zu vertreiben.
Tage und Nächtelang brütete er mit wichtigen Repräsentanten des Yunmeng Jiang Clan an Lösungsansätzen und vergaß sämtliche Banketts, zu denen er eingeladen worden war.
All seine Kräfte hatte er auf dieses eine Ziel gerichtet, andere Bereiche seines Lebens untergeordnet, als eines Tages, an einem frostigen Mittag im November, ein unerwarteter Gast vor der Tür stand.
Als er sah, dass es sich um HanGuang Jun vom Gusu Lan Clan handelte, schlug er sie gleich wieder zu. Er wollte seine aufgeriebenen Nerven nicht noch weiter strapazieren.
HanGuang Jun jedoch ließ sich nicht abweisen. Plötzlich stand er vor Jiang Chengs Schreibtisch.
„Was soll das, HanGuang Jun?!", raunte Jiang Cheng. „Habe ich Euch erlaubt einzutreten?! Ihr seid hier nicht willkommen!"
Lan WangJi schwieg und spähte interessiert über Jiang Chengs Arme. Darunter lag eine Landkarte mit rot markierten Bereichen. Als Jiang Cheng bemerkte, dass Lan WangJi versuchte sie zu lesen, versteckte er sie unterm Tisch.
„Das geht Euch nichts an! Geht endlich!", rief Jiang Cheng zornig.
„Xue Yangs Verstecke", sagte Lan WangJi. „doch nur drei Markierungen. Die vierte fehlt."
Jiang Cheng starrte ihn verblüfft an. Lan WangJi deutete an die Tuschefeder benutzen zu wollen. Voller Skepsis ließ Jiang Cheng ihn gewähren.
Zielsicher setzte Lan WangJi ein Kreuz auf der Landkarte.
„Woher wisst Ihr das?!", fragte Jiang Cheng.
„Ich bin zufällig auf dem Herweg darauf gestoßen."
Jiang Chengs schlechte Laune besserte sich ein wenig. Er hatte lange erfolglos nach dem vierten Versteck von Xue Yang gesucht. Dass es nun durch einen so merkwürdigen Zufall auf seiner Landkarte erschien, fand er fast zu schön, um wahr zu sein.
Obwohl er eigentlich nicht mit Lan WangJi reden wollte, beschloss er ihm eine Chance zu geben.
„Na schön, was führt Euch her? Ich habe nicht viel Zeit", begann er. „Ich kann es mir schon denken... Der Gusu Lan Clan will versuchen mich dazu zu bringen, wieder nach Lanling zu kommen! Ihr ewigen Weltverbesserer... man hält es kaum aus! Meine Antwort bleibt Nein! Ich werde es sicher nicht riskieren Wei WuXian über den Weg zu laufen. Nie wieder will ich sein Gesicht sehen müssen...!"
„Wei Ying ist seit langer Zeit nicht mehr zu den offiziellen Banketts erschienen.", erklärte Lan WangJi, eine Anflug von Melancholie lag in seinen Worten. „Es ist unwahrscheinlich, dass Ihr ihm begegnet."
„Ich werde trotzdem nicht kommen.", sagte Jiang Cheng mürrisch und widmete sich wieder seiner Karte. „Ich kann Euch alle nicht leiden... Ihr solltet mir am besten fernbleiben! Weit genug."
Zidian sprühte violette Funken um sein Handgelenk, als wäre er jederzeit bereit anzugreifen, doch Lan WangJi blieb gelassen.
Nun holte er ein dickes Buch aus dem Ärmel und legte es vor Jiang Cheng auf den Tisch, mitten auf die Landkarte. Jiang Cheng sah ihn verärgert an, denn so konnte er keine der Markierungen noch erkennen, doch kurz bevor sich sein Wutanfall entlud, sagte Lan WangJi:
„Ich habe es geschrieben."
Jiang Cheng war für einen Momentlang sprachlos. Eine einfache Geste, gepaart mit einigen, wenigen Worten, führte dazu, dass er völlig den Faden verlor. Er konnte sich nicht erklären, was Lan WangJi ihm damit sagen wollte.
„Ich habe es meinem Bruder zum Lesen gegeben", begann Lan WangJi. „Lan SiZhui, Lan JingYi... aber sie alle scheinen mir nicht ihre wahre Meinung zu sagen, weil sie mir schmeicheln wollen."
Jiang Cheng erlangte allmählich seine Fassung wieder. „...und da kommt Ihr zu mir – jemandem, der Euch nicht ausstehen kann – und erhofft Euch ein ehrliches Urteil?"
Lan WangJi nickte. „Ich muss wissen, ob es gut ist. Es lohnt sich sonst nicht daran weiterzuarbeiten."
Jiang Cheng vergrub den schmerzenden Kopf seinen Händen.
Nicht zu glauben, dass ich mir Tag für Tag die Seele aus dem Leib kämpfe und die Schüler des Gusu Lan Clan keine anderen Sorgen haben, als ob sie gute Bücher schreiben...!
„Was, wenn ich Euch sage, dass ich es bescheuert finde, weil ich Euch nicht mag?!"
Lan WangJi schüttelte den Kopf.
„Ihr seid Wei Yings Bruder.", sagte er, als wäre dies das Beweis genug für Jiang Chengs Aufrichtigkeit.
Jiang Cheng schnaufte und legte die Beine auf den Tisch.
„Gut, ich lese es", sagte er. „Lasst mich jetzt allein, ich muss weiterarbeiten..."
Wieder ließ Lan WangJi die Augen zu Jiang Chengs Unterlagen wandern.
„Was muss noch erledigt werden?"
„Strategiepläne, Routen... davon versteht Ihr nichts! Wieso erzähle ich Euch das überhaupt...?!"
„Ich assistiere Lan Qiren sehr häufig.", sagte Lan WangJi. „Er lehrte mich militärische Planungsstrategien seit meiner Kindheit."
„Ich brauche Eure Hilfe nicht, HanGuang Jun!"
„Wenn ich Euch helfe seid Ihr schneller fertig und dann könnt Ihr das Buch lesen."
Lan WangJi hatte sich auf den Tisch gestützt und auf einmal, Jiang Cheng traute seinen Augen nicht, bildete sich der feine Hauch eines amüsierten Lächelns auf Lan WangJis rosafarbenen Lippen. Für einen Moment verharrte er in Lan WangJis leuchtenden Mandelaugen, seine glatten Strähnen fielen lang über den hellblauen Hanfu.

Lan WangJi war tatsächlich ein Genie. Er löste die schwierigsten Aufgaben in wenigen Minuten. Jiang Chengs Arbeitszeit verkürzte sich damit auf ein Minimum. In kürzester Zeit war der Angriffsplan gegen Xue Yang geschmiedet, an die zuständigen Kultivisten weitergegeben und Jiang Cheng plötzlich beschäftigungslos.
Noch immer haderte er mit der unerwarteten Änderung seines Tagesplanes. Auf einmal lag all das, was ihm so viele schlaflose Nächte bereitet hatte, hinter ihm und seine Nase steckte in einem Buch.
Wenn alle Mitglieder des Gusu Lan Clans so sind verstehe ich allmählich wieso sie Zeit haben Bücher zu schreiben...
Während er an seinem Schreibtisch saß und las, saß Lan WangJi neben ihm und las ebenfalls.
Zunächst machte es Jiang Cheng nervös.
„Könnt Ihr... nicht irgendetwas anderes machen?!", fuhr er Lan WangJi an, doch er bewegte sich keinen Meter fort. Er schien jede Reaktion in Jiang Chengs Gesicht beobachten und analysieren zu wollen und nach einer Weile war Jiang Cheng so in das Buch vertieft, dass er ihn gar nicht mehr wahrnahm.
Lan WangJis Atem wurde zum Puls des Buches, der gespannte Ausdruck in seinen Augen zu einem Funkeln, das in den Augen der Charaktere leuchtete, und sein Duft das Aroma, das von den beschriebenen Landschaften zu ihm hinüberwehte.
Jiang Cheng und Lan WangJi machten an diesem Tag die Erfahrung, dass es viel spannender war, ein Buch in Gegenwart eines anderen zu lesen als allein.
Lan WangJi war ein ruhiger Charakter, es machte ihm nichts aus stundenlang neben jemandem zu schweigen. Jiang Cheng hingegen verhielt sich eher impulsiv, ähnlich wie sein Bruder Wei WuXian. Er kommentierte jede wichtige Stelle. Er schimpfte, wenn die Charaktere etwas Ungeschicktes erlebten, lachte, wenn sie Scherze machten und weinte, als das bittere Ende nahte.
Was Lan WangJi ihm nicht gesagt hatte war, dass dieser Roman kein glückliches Ende nahm und so saßen Jiang Cheng und Lan WangJi um halb zwei Uhr nachts, als Jiang Cheng das Buch zuklappte, nebeneinander und vergossen Tränen.
„Was... was sagt Ihr?", brachte Lan WangJi endlich hervor, nachdem er sich sehr lang zurückgehalten hatte.
„Scheiße...!", fluchte Jiang Cheng. „Wie konntet Ihr mir so etwas zu muten, HanGuang Jun...?! Ihr hättet mich vorwarnen müssen...!"
Lan WangJi wirkte enttäuscht. Er hatte sich eingebildet Jiang Cheng mitfiebern zu sehen und verstand sein Urteil nicht. Da hob Jiang Cheng den Kopf, wischte sich über sein feuchtes Gesicht und sagte, beinahe erleichtert:
„Es ist das Beste, das ich seit langem gelesen habe!"
Lan WangJis Gesicht erhellte sich.
„Es ist grausam, aber genial!", seufzte Jiang Cheng. Er lehnte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und fühlte sich plötzlich so entspannt wie ewig nicht mehr. Er wollte so liegen bleiben, da erhob sich Lan WangJi und schritt zur Tür.
„Wo wollt Ihr hin? Es ist mitten in der Nacht!", sagte Jiang Cheng. „Kommt schon, Ihr könnt hier übernachten! Da ich mich schon über acht Stunden mit Euch herumschlagen musste, ist mir das nun auch egal..."
Lan WangJi schien abzuwägen, doch dann sagte er. „Onkel würde es nicht erlauben."
Jiang Cheng erhob sich schwerfällig und schlenderte mit Lan WangJi zur Tür.
„Schön, ich bringe Euch hinaus."

Auf dem Weg zum Tor kickte Jiang Cheng Steine vor sich her. Der Mond schien, Lan WangJis Roman hatte ihn aufgeweckt und plötzlich war ihm zum Raufen zu Mute. Er stieß Lan WangJi mit dem Ellenbogen an, wie er es damals bei Wei WuXian getan hatte. Daraufhin war meistens ein kleiner Kampf ausgebrochen, bei dem Jiang Cheng häufig gewonnen hatte. Er bemerkte jedoch schnell, dass Lan WangJi nicht der Typ für Raufereien war, und so blieb es lediglich bei der leichten Rempelei.
„Lan WangJi", sagte Jiang Cheng. „Zweites Kind des Gusu Lan Clan. Ihr seid gar nicht so übel."
„Lan WangJi.", wiederholte er.
Jiang Cheng bemerkte, dass er häufig mit Wiederholungen antworte. Eine merkwürdige Eigenart, die etwas Liebenswertes an sich hatte. Es klang irgendwie kindlich und das fand Jiang Cheng sympathisch.
„Werdet Ihr noch mal ein Buch schreiben? Am besten eine Fortsetzung, aber dieses Mal mit einem besserem Ende!"
Sie erreichten das Tor, das zum Lotus Pier führte.
Lan WangJi drehte sich noch einmal um, bevor er ging.
„Eigentlich bin ich nicht nur wegen dem Buch bekommen.", sagte er dann und Jiang Cheng starrte ihn verwundert an. Eine böse Vorahnung packte ihn, er ballte die Fäuste, während Zidian unter seinem Ärmel zu leuchten begann.
„Wegen was dann?", fragte er, beinahe finster.
Lan WangJi schlug die langen Wimpern nieder.
„Es ist einsam im Jingshi."
Lan WangJi ließ ihn mit diesen Worten stehen. Mit offenem Mund sah Jiang Cheng seine hellblaue Gestalt ein Boot nehmen und davonrudern. Seine angespannten Fäuste lösten sich, er wurde nachdenklich und wiederholte Lan WangJis Worte innerlich. Es ist einsam im Jingshi.
Ihr habt recht... doch heute war es nicht so einsam.
„HanGuang Jun!", rief Jiang Cheng über den See. Lan WangJi wandte den Kopf, obwohl er sich schon einige Meter entfernt hatte.
„Wenn Ihr wieder lesen wollt... dann... besucht mich!"
Lan WangJi verbeugte sich und so wusste Jiang Cheng, dass er ihn verstanden hatte.

„Clanführer Jiang Wanyi", Lan SiZhuis Stimme holte ihn aus den Gedanken. „Es ist schon spät. Ich bin sicher Zewu Jun würde Euch, trotz aller Streitigkeiten, nicht nachhause schicken. Wenn Ihr wollt zeige ich Euch die Gästeunterkünfte."
„Lass nur, Lan SiZhui", entgegnete Jiang Cheng. „Wenn ich mit Zewu Jun gesprochen habe, brechen wir auf. Wir brauchen keine Unterkunft."
Während er dies sagte, verzog Jin Ling das Gesicht.
Aus dem Augenwinkel sah Jiang Cheng, wie Lan WangJi und Wei WuXian miteinander sprachen, ihre Hände noch immer ineinander verflochten. Als Lan WangJis Blick sich scheinbar beiläufig mit seinem kreuzte, beschleunigte sein Herzschlag, doch es war nur für wenige Sekunden. Dann entfernten sich die beiden und auch Lan SiZhui und Wen Ning verbeugten sich zum Abschied.
„Wenn Ihr noch etwas braucht lasst es mich wissen.", sagte Lan SiZhui. Als er den Arm um Wen Ning legte und gemeinsam mit ihm verschwand, blickte Jin Ling ihnen kopfschüttelnd nach.
„Der Gusu Lan Clan ist wirklich voller Ärmelabschneider...! Vielleicht bist du ja hier so geworden, Onkel."
Jiang Cheng stieß Jin Ling in die Seite und warf ihm einen finsteren Blick zu. Dann ließ er sich auf eine Bank nieder und blickte zum Himmel. Es war eine klare Vollmondnacht, tausend Sterne funkelten über ihm.
„Na toll, jetzt sitzen wir hier in der Kälte, um auf Zewu Jun zu warten...! Wer weiß wie lang er bei Onkel Yao ist! Du hättest ruhig das Angebot mit der Unterkunft annehmen können!"
„Sei nicht immer so ein Weichei!", sagte Jiang Cheng, dann wanderte sein Blick in die Nacht und er schien wieder in Gedanken zu versinken. „Wenn ich heute Nacht nicht gehe... wird es mir schwer fallen zu gehen."
Jin Ling seufzte.
„Onkel...", sagte er vorsichtig, seine Augen wanderten zu Jiang Cheng, nun seltsam ernst und besorgt. „Wenn wir gehen... wie soll es weitegehen? Ich will nicht mehr zu Onkel Yao... Ich kann nicht bei ihm bleiben, jetzt wo ich weiß, was er für ein Mensch ist... Vielleicht stehe ich auch irgendwann auf seiner Liste..." Er biss sich auf die Lippen. Eine Bitte lag ihm auf der Zunge, doch er wagte nicht sie auszusprechen.
„Du bist ein guter Kultivist, Jin Ling.", sagte Jiang Cheng. „Wenn meine Schüler nur annährend so wären wie du..."
Da platze es aus Jing Ling heraus. Er klammerte sich an Jiang Chengs Arm und rief:
„Kann ich bei dir bleiben, Onkel? Ich weiß ich bin nicht perfekt, aber wenn du mein Lehrer wärst würde ich bestimmt besser werden! Ich verspreche auch zu gehorchen!"
Ein Grinsen bildete sich auf Jiang Chengs Gesicht. „Lass mich los, du kleine Klette! Vielleicht überlege ich es mir dann!" Jin Ling nahm seine Hände von Jiang Chengs Arm und verbarg sie gehorsam hinterm Rücken.

Stunde um Stunde verging, doch Lan XiChen kehrte nicht zurück. Irgendwann schlief Jin Ling auf Jiang Chengs Schulter ein, während Jiang Cheng unaufhörlich das flackernde goldene Licht im Innern eines bestimmten Hauses beobachtete. Er wusste es nicht mit Sicherheit, doch er glaubte sich daran zu erinnern, dass im Innern Lan WangJis Zimmer lag.
Sein Herz schmerzte im Gedanken daran, was wohl gerade vor sich ging, während Lan WangJi und sein baldiger Ehemann nach so langer Zeit endlich wieder allein sein konnten.
In seiner Vorstellung rekapitulierte er all die schönen und schrecklichen Geschehnisse der letzten Wochen, die er mit Lan WangJi hatte erleben dürfen. Tränen bildeten sich in seinen Augen, besonders, wenn er an diese einen Worte dachte, die ihm seitdem sie ausgesprochen waren, nicht mehr aus dem Kopf gingen...
// ...warum fühle ich plötzlich diese Liebe...? //
Er hat es gesagt... er hat gesagt, dass er mich liebt.
Jiang Cheng konnte nicht tiefer in diese Gedanken einsinken, denn endlich kam ein schwaches Glimmen aus der Ferne. Es war das Licht eines spirituellen Schwertes, das den Weg erleuchtete. Sofort richtete er sich auf. Jin Ling rutschte von seiner Schulter, gähnte und streckte sich, doch kauerte sich gleich darauf wieder auf der Bank zusammen.
Endlich näherte sich Lan XiChen und Jiang Chengs Puls begann zu rasen. Die Müdigkeit fiel von ihm ab, als er zielstrebig auf ihn zu lief und mitten auf dem Hof seinen Weg kreuzte. Lan XiChen betrachtete ihn verwundert und blieb stehen.
„Jiang Wanyin" Lan XiChens Stimme war noch immer geprägt von leichter Abneigung, wenngleich er stets höflich auftrat. „Ich hatte erwartet, dass Ihr bereits gegangen seid..."
„Zewu Jun!" Jiang Cheng verbeugte sich. „Ich weiß, Ihr seid vermutlich müde, ich will Euch auch nicht lang aufhalten, doch ich muss dringend etwas mit Euch besprechen, deshalb habe ich gewartet!"
Man konnte sich vorstellen, dass Lan XiChen nach diesem turbulenten Tag und einigen Stunden bei Jin GuangYao, die er damit verbracht hatte seinen trauernden Freund wiederaufzurichten, wenig Konzentration für ein Gespräch aufbringen konnte. Seine Moral als Clanführer des Gusu Lan Clan ließ es jedoch nicht zu jemanden, der so lange auf ihn gewartet hatte, stehen zu lassen.
„Nun gut", sagte er, ohne eine Emotion erkennen zu lassen, und wies Jiang Cheng an ihm zu folgen. Sie betraten Lan XiChens Zimmer. Jiang Cheng war froh sich endlich in einer warmen Umgebung zu befinden. Lan XiChen setzte sich hinter seinen Schreibtisch bat Jiang Cheng Platz zu nehmen. Jiang Cheng ließ sich auf einem hellblauen Kissen nieder.
„Nun, was gibt es zu so später Stunde?", fragte Lan XiChen.
„Es geht um HanGuang Jun. Ihr habt ihn heute zu Unrecht verurteilt.", begann Jiang Cheng.
„Ich denke da liegt Ihr falsch. HanGuang Jun hat gegen die Regeln des Gusu Lan Clan verstoßen. Er wird bei Zeiten seine gerechte Strafe erhalten." , sagte Lan XiChen kühl.
„Wollt Ihr ihn auspeitschen?! Wie viele Hiebe gibt es für Mord? Hundert? Zweihundert? Er ist Euer Bruder!", rief Jiang Cheng zornig, doch im gleichen Moment ermahnte er sich ruhig zu bleiben. Er musste an Jin Lings Worte denken. Nicht mit Pfeilen schießen.
„Soweit ich mich erinnere habt auch Ihr Euren Bruder des Öfteren mit Peitschenhieben bestraft."
„Zewu Jun, hört mir zu! Es gibt etwas ganz Entscheidendes, das Ihr wissen solltet, bevor Ihr WangJi bestraft!" Jiang Cheng haderte mit sich, es fiel ihm schwer es auszusprechen und doch war es seine Pflicht. „Ich... Ich habe meinen goldenen Kern verloren!"
Lan XiChen starrte ihn einen momentlang schweigend an.
„Seht her..." Jiang Cheng löste seine lederne Armschiene, damit man sein Handgelenk sehen konnte. Zidian hatte seinen violetten Glanz verloren und war nun nicht mehr als ein schönes Schmuckstück. Lan XiChen schien sich selbst überzeugen zu wollen. Als er die Hand nach Zidian ausstreckte, reagierte es sofort und kletterte um Lan XiChens Handgelenk. Lan XiChen ließ Zidian zurückklettern und verstand plötzlich die Wichtigkeit dieses Gespräches. Nun erst schien er Jiang Cheng zuhören zu wollen.
„Erzählt mir alles."
Jiang Cheng zog die Hand zurück und senkte den Kopf. „Als WangJi am Lotus Pier eintraf und mich fragte, ob ich ihm meine Zustimmung zu seiner Hochzeit geben würde, bin ich ausgerastet. Ich habe mich auf ihn gestürzt, ihn bekämpft... Ich habe ihn verletzt und... sein Kaninchen getötet."
„Das Kaninchen, das Wei WuXian ihm als Begleiter mitgeschickt hat... Hue?"
„Ich denke... es könnte dieses Kaninchen gewesen sein.", antwortete Jiang Cheng.
Er hatte bereits vermutet, dass das Kaninchen in Zusammenhang mit Wei WuXian stand und nun bestätigten Lan Xichens Worte seinen Verdacht.
„Er war schrecklich wütend auf mich... sprang auf sein Schwert und flog über den See davon. Wie Ihr wisst können spirituelle Schwerter nur Teilstrecken zurücklegen... ist die spirituelle Energie verbraucht geben sie den Geist auf... und so geschah es, dass er in den See fiel, wo mein Neffe ihn Tage später fand... halb erfroren und beinahe tot. Jin Ling hat sich um ihn gekümmert, doch als er wieder zu sich kam, ist er einfach weitergereist, obwohl er nicht einmal komplett genesen war... Ich weiß nicht, was ihn geritten hat... Jedenfalls machte ich mich mit Jin Ling auf die Suche nach ihm. Wir fanden ihn bewusstlos in einem Wald in der Nähe von Yiling. Wir nahmen uns ein Zimmer, um ihn zu versorgen, doch die Wunden, die wir an seinem Körper fanden, waren keine normalen Wunden. Es waren Spuren eines Fluches."
Lan XiChen lauschte seinen Worten mit ungläubigem Gesichtsausdruck. „Ich hatte die ganze Zeit ein ungutes Gefühl...! Wir hätten uns auf die Suche nach ihm machen müssen...!"
„Das hätte ihm nicht geholfen... Er litt unter dem vierten Fluch des Nian..."
„Der Fluch des Nian?!", rief Lan XiChen erschrocken. „Wie ist das möglich?! Dieser Fluch ist unheilbar! Jeder Infizierte verwandelt sich in eine furchterregende Geistermarionette! Es ist nur eine Frage der Zeit bis-!"
„Der ganze Körper sich verfärbt und von Nian gefressen wird.", sagte Jiang Cheng gedankenversunken, plötzlich wurde das Bild des entstellten Lan WangJi vor seinen Augen so lebendig, als wäre es gestern gewesen.
„Wo...woher...-?"
„Ich war dabei... Ich habe jede Veränderung miterlebt. Zuerst war es nur eine kleine Stelle an seinem Bauch... dann seine Brust, seine Arme, seine Beine... einfach alles."
Er musste innehalten. In seinem Hals bildete sich ein Kloß, der es ihm schwer machte zu sprechen.
„Wie habt Ihr es geschafft den Fluch zu heilen?!"
„Ich versuchte Jin Ling los zu schicken, um Euch herzuholen... Wir dachten niemand könne mit dem Fluch besser fertig werden, als mein Bruder... doch als Jin Ling den Telepathie Talisman einsetzen wollte, wurde er von Jin GuangYaos Leuten zerstört... Xue Yang ist dafür verantwortlich, dass WangJi verflucht wurde! Er hat den Fluch des Nian, der schon so lange nicht mehr gewirkt wurde, wieder auferstehen lassen! Als Jin Ling nicht zu kommen schien und WangJi allmählich im... im Sterben lag..."
Lan XiChen legte plötzlich eine Hand auf Jiang Chengs. „Was habt Ihr nur durchmachen müssen...! Und WangJi hat mir nichts davon gesagt...!"
Jiang Cheng schüttelte den Kopf, ein melancholisches Lächeln zog über sein Gesicht. „Hättet Ihr ihm zugehört, nach allem, was heute geschehen ist...?"
Lan XiChen seufzte. „Fahrt fort..."
„Als Jin Ling nicht zu kommen schien widmete ich mich noch einmal dem Buch, das der Junge einer alten Frau auf dem Markt abgekauft hatte... Wir fanden darin den Namen des Fluches, doch keine Heilungsmöglichkeiten... In meiner Verzweiflung ging ich nicht gerade behutsam damit um... Ich habe den Einband zerfetzt und aus Versehen etwas Verborgenes aus dem Umschlag gelöst... Es waren Wen Qings Notizen zur Transplantation eines goldenen Kerns."
Mehr musste Jiang Cheng nicht sagen. Lan XiChen legte erschrocken die Hand auf den Mund und versuchte das Ausmaß dieser Tragödie zu begreifen. Doch nun, da er begonnen hatte, schienen die Worte aus Jiang Cheng hinausfließen zu wollen, als habe er sie nur endlich jemandem erzählen wollen.
„Ich habe es getan, Zewu Jun...!", rief Jiang Cheng verzweifelt. „Genau wie es in der Anleitung stand bin ich es Schritt für Schritt durchgegangen...!"
„Jiang Wanyin, was Ihr getan habt ist Wahnsinn...!"
„Denkt Ihr das wüsste ich nicht?! Ich wusste, dass die Chance zu überleben gering ist...! Hatte ich nicht meinen Bruder dafür verurteilt ein solches Risiko einzugehen?! Doch wenn man erst selbst in der Situation ist den wichtigsten Menschen in seinem Leben zu verlieren... dann... dann...!"
Tränen brachen aus seinen Augen.
„Den wichtigsten Menschen...!"
Wieder hatte Jiang Cheng sich mit seinen eigenen, ungehaltenen Worten verraten. Er senkte den Kopf und presste die Augen zusammen.
„HanGuang Jun ist ein so würdevoller Mann...", sagte er. „Ich habe ihn nie derart hilflos gesehen...! Wenn er den Raum betritt drehen sich alle Köpfe nach ihm... doch in dieser Nacht war er nicht mehr er selbst... das ertragen zu müssen erschien mir schlimmer als der Tod..."
Nach diesen Worten verfiel Lan XiChen in Schweigen. Er brauchte ein Weile, um zu verarbeiten, was er gehört hatte.
„Die Macht des goldenen Kernes hat WangJis Körper gereinigt und von dem Fluch befreit...", murmelte er dann. „Jiang Wanyin... was Ihr getan habt... Mir fehlen die Worte. Ich stehe für immer in Eurer Schuld."
„Denkt nicht daran mir zu danken... es würde mir vorkommen wie eine Geste des Mitleides. Ich wollte nur, dass WangJi lebt. Das habe ich erreicht. Das allein macht mich glücklich."
„Warum erscheint Ihr mir dann nicht glücklich...?"
Lan XiChen betrachtete ihn besorgt. Seine breiten Schultern zitterten.
„Seht mich nicht so an! Findet Ihr mich bemitleidenswert?! Ein Clanführer ohne goldenen Kern...! Ein Clanführer, der vor einem anderen in Tränen ausbricht...! Der Jiang Cheng von vor einem Jahr hätte mich geohrfeigt dafür, was aus mir geworden ist...!"
„Vor einem Jahr...?"
Vor einem Jahr tauchte WangJi mit seinem Roman bei mir auf. Vor einem Jahr haben wir eine Nacht mit Lesen verbracht...
Jiang Cheng schüttelte den Kopf. „Es ist nicht weiter wichtig...", sagte er und trocknete sich das Gesicht. „Nun kennt Ihr die Wahrheit. Ich wäre Euch verbunden, wenn Ihr darüber schweigen könntet... falls ich mich dazu entscheide der Welt zu verkünden, dass ich keinen golden Kern mehr besitze, will ich es selbst sagen."
„Natürlich.", erwiderte Lan XiChen.
„...und ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr davon absehen könntet Lan WangJi auszupeitschen.", fügte er hinzu.
„Ich bestrafe WangJi nicht.", entgegnete Lan XiChen. „Die neuen Begebenheiten werden mich eher dazu veranlassen mich noch einmal mit Meng Yao auseinanderzusetzen. Ich weiß nicht, ob ich weiterhin Kontakt mit ihm pflegen sollte, wenn er wirklich Schuld an all dem ist..."
„Ihr mögt ihn...", sagte Jiang Cheng. „Niemand kann Euch verstehen und doch habt Ihr ihn in Euer Herz geschlossen. In so einem Fall hilft nur Abstand, denn... Eure Zuneigung wird sich nicht verringern. Sie trübt Euren Verstand mit der Zeit..."
Lan XiChen betrachtete ihn, seine Augen gefüllt mit aufkommendem Schmerz. Er fühlte, dass ihre Lage sich gar nicht so sehr voneinander unterschied, obwohl ihre Geschichten voneinander abwichen...
„Es tut mir leid, Jiang Wanyin", sagte er auf einmal. „dass WangJi schon jemanden hat."
Jiang Cheng biss sich auf die Lippen. „Wisst Ihr, Zewu Jun... an manchen Tagen bin ich der glücklichste Mann der Welt... und an anderen kommt es mir vor als würde mir jemand das Herz herausreißen, aber..."
Er stand auf, bereit zu gehen. „... so lange WangJi glücklich ist, kann ich damit leben."
„Werdet Ihr zur Hochzeit kommen?", fragte Lan XiChen behutsam.
Jiang Cheng schüttelte den Kopf. „Es ist nicht besonders ehrenhaft von mir... doch auch meine Selbstbeherrschung kennt Grenzen, Zewu Jun."
„Ich verstehe" Lan XiChen erhob sich und begleitete Jiang Cheng zur Tür. „Wenn Ihr jemals Hilfe braucht werde ich dafür sorgen, dass der Gusu Lan Clan mit seiner vollen Unterstützung hinter Euch steht, Jiang Wanyin." Er legte eine Hand auf Jiang Chengs Schulter.
Jiang Cheng verbeugte sich.
„Ich danke Euch, Zewu Jun." So kehrte er zu Jin Ling zurück.

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