Als Jin Ling am Lotus Pier eintraf, bemerkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Es war merkwürdig still überall. Der Schnee rieselte leise in der Abenddämmerung und fiel auf die Helme der Wachen. Sonst schien kein anderer unterwegs zu sein, obwohl normalerweise noch reger Betrieb auf den Straßen herrschte. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und er ging ohne Umschweife zu seinem Onkel. Bevor er eintrat spähte er durch das Fenster, doch etwas versperrte ihm die Sicht. Er sah nur schwachgoldenes Licht.
Die Wachen wichen zur Seite und ließen ihn ein, doch als Jin Ling im Zimmer stand weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Überall lagen Trümmer. Ein umgeworfener Stuhl, ein zersplittertes Regal, alles türmte sich inmitten des Raumes. Selbst die Vorhänge hingen in Fetzen und im Zentrum der Zerstörung, auf einer durchgebrochenen Bank, saß Jiang Cheng, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände gefaltet. Er starrte vor sich hin.
„Du meine Güte, Onkel, was ist hier passiert?!", rief Jin Ling. „Hattest du nicht erst renoviert?!"
Jiang Cheng antwortete nicht.
„Du wirst das Zimmer doch nicht allein so zugerichtet haben...! Gab es einen Kampf? Wer hat dich angegriffen?"
Noch immer zeigte Jiang Cheng keine Reaktion.
„Jemand muss sich gewaltsam Einlass verschafft haben – nein, unmöglich, die Tür wird gut bewacht – du hast die Person hierhergebracht. Und danach hat sie dich angegriffen...!"
Etwa HanGuang Jun...?!
„Was willst du hier? Störe mich nicht, ich habe keine Zeit für dich im Augenblick!", raunte Jiang Cheng.
Keine Zeit? Du sitzt hier doch nur herum und starrst durch die Gegend als hätte man dir einen Betäubungstrank verabreicht!
„Clanführer Yao schickt mich. Ich soll dir mitteilen, dass es sich nicht gehört den Banketts fern zu bleiben. Man redet schon über dich."
„Kann er nicht persönlich kommen und mir das sagen? Muss er dich kleine Plage schicken? Wo ist überhaupt der Köter?"
„Onkel! Fee ist eine Lady, nenn sie nicht so!", sagte Jin Ling empört. „Sie ist ein spirituelles Geschöpf und verdient Respekt! Deinetwegen habe ich sie am Eingang abgegeben. Ich hatte das Gefühl du seist verärgert und wollte dich nicht weiter provozieren. Wie man sieht habe ich mich nicht geirrt."
„Ich weiß wie du es noch besser machen könntest. Verschwinde.", sagte Jiang Cheng finster.
Jin Ling verdrehte die Augen und setzte sich neben ihn auf die zerbrochene, schräg liegende Bank.
„Hast du deshalb den Leuten verboten vor die Tür zu gehen? Damit du deine Ruhe hast?"
„Was an dem Wort ‚verschwinden' ist so schwer zu verstehen! Dort ist die Tür!"
„Auf meinem Weg hierher habe ich HanGuang Jun getroffen.", sagte Jin Ling plötzlich, in vollem Bewusstsein darüber, was seine Worte auslösten. Plötzlich hatte er Jiang Chengs volle Aufmerksamkeit.
Er fuhr auf und fixierte Jin Ling mit glühenden Augen.
„Und?!" Jiang Chengs Stimme klang sehr nachdrücklich.
„Vielleicht doch nicht so schlecht, dass ich hier bin, Onkel, nicht wahr?" Jin Ling grinste und wurde daraufhin von Jiang Cheng am Ohr gepackt.
„Untersteh dich mit mir zu spielen, du Balg! Raus mit der Sprache! Wo hast du WangJi getroffen? Was habt ihr geredet?!"
„Au – Au! Schon gut! Lass los, ich erzähle ja, ich erzähle!", jammerte Jin Ling, sein Gesicht schmerzverzerrt. „Ich wollte gerade zum Lotus Pier ablegen, da sah ich etwas im Wasser. Ich dachte zuerst es sei ein Wassergeist, doch als ich näherkam, bemerkte ich, dass es HanGuang Jun war. Er sah aus wie tot, also holte ich ihn aus dem Wasser, um zu sehen, ob er noch lebte. Ich kam genau rechtzeitig, ein schwacher Puls war noch zu hören..."
Jiang Cheng umfasste Jin Lings Schultern, sämtliche Grobheit fiel von ihm ab und plötzlich klang seine Stimme leise und angeschlagen. „Er... lag im See...?! Sah aus wie tot...?!"
„Keine Sorge, Onkel, er lebt noch! Ich habe ihn zu einer Gaststätte gebracht und ein Zimmer besorgt. Nachdem er ein heißes Bad genommen hatte, kam er dann auch wieder zu sich..."
Jin Ling konnte kaum einmal blinzeln schon landete eine heftige Ohrfeige auf seiner Wange. Mit geweiteten Augen starrte er seinen Onkel an, Wut kam in ihm auf. „Für was war das denn?!"
„Du hast Lan WangJi nackt gesehen!", rief Jiang Cheng mit hochrotem Kopf. „Muss ich dir wirklich erklären was daran falsch ist!? Hast du denn gar keine Manieren einem Älteren gegenüber?!"
„Bist du bescheuert, Onkel!? Ich habe ihm das Leben gerettet! Ich hätte ihn genauso gut erfrieren lassen können! Wäre das in deinem Sinne gewesen?! Er musste ein Bad nehmen, sonst hätte sich sein Körper nicht regenerieren können!"
Jiang Cheng schien einzusehen, dass Jin Ling gar nicht so unrecht hatte und doch verschwand das Unbehagen nicht aus seinen Zügen.
„Was ist dann passiert?"
„Nicht viel. Als er wach wurde hat er mich natürlich weggeschickt.", knurrte Jin Ling und schlang die Arme um seine angewinkelten Knie. „Er hat mich noch nie besonders leiden können. Aber wen kann HanGuang Jun schon leiden...! Er ist genauso arrogant und kaltherzig wie früher."
„Willst du noch eine?!" Jiang Cheng hob die flache Handfläche.
„Entschuldige Onkel, aber ich weiß wirklich nicht was du so toll an ihm findest...! Er ist ein komischer Kerl. Hat mich einfach rausgeschickt, als er wieder zu sich kam, obwohl er noch nicht mal richtig gesund war! Naja, das Personal der Gaststätte wird sich wohl um ihn gekümmert haben, sie haben schließlich auch das Bad vorbereitet..."
„Du hast ihn einfach diesen Leuten überlassen?!" Jiang Chengs Augen flackerten.
WangJi, was habe ich dir nur angetan! Ich hätte mir denken können, dass BiChens Macht nicht ausreichen würde dich über den ganzen See zu tragen! Du musst abgestürzt sein...! Ein Wunder, dass du noch lebst, doch der Weg nach Gusu ist weit. Wenn du nicht ganz gesund bist, wer weiß, was dir dann zustößt...? Und alles wegen mir.
„Ich muss es wiedergutmachen!" Jiang Cheng ballte die Faust, Entschlossenheit in seinem Blick.
„Onkel?" Jin Ling hatte weitergeplappert, doch scheinbar war Jiang Cheng die Hälfte davon entgangen. Zidians violettes Licht flackerte um sein Handgelenk. Er stapfte zur Tür, während Jin Ling ihm verwirrt nachblickte.
„Na los, wo bleibst du!", rief Jiang Cheng und ging nach draußen. Jin Ling rannte hinterher.
„Hey, wo gehen wir denn hin? Es ist schon spät, eigentlich hätte ich gern etwas zu Abend gegessen!"
„Du kannst dir was auf dem Markt in Yiling holen."
„Yiling?! Das ist kilometerweit entfernt! Da kann ich ja bis morgen früh warten!"
„Ganz genau.", sagte Jiang Cheng, er marschierte zum Tor hinaus, geradewegs zum Steg.
„Du willst nach Yiling?! Etwa HanGuang Jun verfolgen?! Was wenn er gar nicht dort ist?"
„Er will zurück nach Gusu, also muss er durch Yiling. Wenn er verletzt ist, wird er nicht weit gekommen sein." Jiang Cheng löste eines der Boote und stieg hinein. „Der Hund bleibt hier!", befahl er.
Fee hatte Jin Ling gerochen und seine Fährte aufgenommen. Nun stand sie schwanzwedelnd am Ufer.
„Ich komme nicht mit, wenn Fee nicht mitdarf!"
Jiang Cheng schnaufte. „Vergiss es! Keine Hunde in meinem Boot! Sie wird nur Ärger machen!"
„Das stimmt nicht, sie hat mich schon aus vielen Situationen gerettet! Weißt du noch damals, als Wen Ning uns entkommen ist? Wer war es, der ihn wiedergefunden hat?"
„Ich kann nicht glauben, dass wir hier über so einen Schwachsinn diskutieren, Jin Ling, während der, den ich liebe, vielleicht schwer verwundet in irgendeinem Graben liegt...!"
Jiang Cheng war so wütend, dass die Worte einfach so aus ihm herausgesprudelt kamen. Erst einige Sekunden später merkte er, was er da ausgesprochen hatte. Erschrocken über sich selbst, presste er sich die Hand auf den Mund. Er wollte sich ohrfeigen.
Nie zuvor war es zwischen ihm und Jin Ling in so kurzer Zeit so still geworden, nicht einmal, als Jin Ling vorsätzlich Wei WuXian hatte laufen lassen...
„Steig ein!", befahl Jiang Cheng und Jin Ling sprang geduckt und ohne weitere Widerworte ins Boot. Jiang Cheng nahm das Ruder und stieß das Boot vom Grund ab.
Leise Wellen schlagend, zog es durch die Nacht und entfernte sich vom Ufer. Jin Ling sah Fee nach, die in am Ufer immer kleiner wurde.
Er blickte vorsichtig zu Jiang Cheng, der mit tief in die Augen gezogenen Brauen vorwärts ruderte. Während er ihn heimlich ansah, verlor sich Jin Ling in Gedanken.
Sein Onkel hatte breite Schultern, eine hochgewachsene, muskulöse Gestalt und ein markantes Gesicht. Man konnte ihn als ziemlich harten Typen bezeichnen. Selten zeigte sich eine freundliche oder gar sanfte Reaktion in seinem Gesicht. Jiang Cheng kannte nur eine Haltung: Abwehr.
Jin Ling konnte sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie sein Onkel wohl war, wenn er „liebte". Bis zum heutigen Tag hatte er nicht einmal geglaubt, dass er zu so etwas fähig war.
Er wusste, dass Jiang Cheng Lan WangJi sehr mochte, doch er hatte es auf HanGuang Juns Einfluss geschoben. Schließlich waren HanGuang Jun und Wei WuXian die Ärmelabschneider. Hübsch, beinahe feminin, so wie man es von Ärmelabschneidern erwartete.
Doch sein Onkel. Sein Onkel, ein ganzer Mann...! Er konnte doch kein Ärmelabschneider sein!
Jin Ling schüttelte den Kopf.
Nein, ich muss mich irren. Er ist lediglich verwirrt. HanGuang Jun ist sein einziger Freund, natürlich bedeutete er ihm sehr viel. Wahrscheinlich hat Onkel gerade im Eifer des Gefechts das Wort „lieben" gewählt, ohne es eigentlich so zu meinen. Auch Freunde oder Familie kann man lieben.
Natürlich! Wie dumm von mir.
Jin Ling lachte erleichtert und Jiang Cheng hörte es.
„Was ist so lustig?", fragte er. Es war der erste Satz, der seit einer Stunde zwischen ihnen gesprochen wurde.
„Nichts...", erwiderte Jin Ling. „Ich dachte nur... eigentlich kenne ich dich gar nicht richtig, Onkel." Jiang Cheng starrte in die weite Dunkelheit. Die Laternen des Hafens kamen langsam näher.
Seine Antwort klang unterwartet melancholisch.
„Seit einer Weile kenne ich mich selbst nicht mehr...", antwortete er leise. „Wie also sollen andere wissen, wer ich bin?"
„Vielleicht würde es helfen, wenn du nicht immer sofort mit Pfeilen schießt, wenn jemand auf dich zu geht."
„Willst du mir Ratschläge geben?! Wer bist du?!", fuhr Jiang Cheng ihn an.
Jin Ling seufzte. „Siehst du... das meine ich! Du bist wie ein brodelnder Vulkan. Nur ein falsches Wort und du explodierst. Dabei will ich dich gar nicht angreifen, Onkel... Ich will nur, dass es dir besser geht..."
„Nichts für Ungut, kleiner, aber... du bist zu jung, zu schwach und zu unwissend, um mir zu helfen."
„Oder einfach nicht HanGuang Jun.", entgegnete Jin Ling.
Jiang Cheng wurde rot.
„Es ist unglaublich, wie du immer wieder auf diesen Namen reagierst, Onkel!"
Jiang Cheng biss sich auf die Lippen.
Sie steuerten geradewegs auf das Ufer zu. Er sprang vom Boot und band es an einem Holzpfeiler fest. Ihre Ankunft bot ihm eine gute Möglichkeit vom Thema abzulenken.
„Na los, gehen wir!", sagte er und während Jin Ling ebenfalls aus dem Boot stieg, war er bereits im Wald verschwunden.
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The Secret
ФанфикAls Wei WuXian um Lan WangJis Hand anhält, steht die Welt der Kultivierung Kopf. Um Jiang Cheng zu überzeugen, macht sich Lan WangJi auf eine beschwerliche Reise am Rande von Leben und Tod...