So begann Lan WangJi seine Reise nach Yunmeng. Er drehte sich nicht um, als er den schmalen Pfad zum Berg hinunter, über Steinwege und Brücken nahm.
Selbst als er die Täler erreicht, sich kilometerweit entfernt hatte, blickte er nicht zurück, denn er wusste, wenn er es tat, würde er nicht weitergehen können. Während er wanderte, ganz allein mit seinen Gedanken – einem Zustand, an den er nicht länger gewöhnt war – zogen viele Bilder der vergangenen Monate an ihm vorbei.
Wei WuXians plötzliches Auftauchen im Wolkennest hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Er erinnerte sich an ihren ersten Kuss in der Bibliothek und erschauderte, während die Dämmerung leichten Nieselregen brachte. Im ersten Moment fror er nicht, seine Erinnerungen hielten ihn warm, doch ein paar Stunden später wurde der Regen stärker. Nichtsdestotrotz zwang er sich noch einige Stunden weiter durch die dunkler werdenden Wälder zu wandern.
Hin und wieder hörte er ein leises, verdächtiges Rascheln. Es begleitete ihn seit geraumer Zeit und so lief er schneller, seine braunen Stiefel gruben sich tiefer in den Matsch, der in alle Richtungen spritzte. Er fühlte sich von etwas verfolgt.
Seine Augen huschten in den schwarzen Umrissen der Bäume hin und her, doch so sehr er sich bemühte etwas darin auszumachen, er konnte nichts finden. Dennoch lag seine Hand bereits auf BiChens Griff, bereit jeder Zeit anzugreifen. Nachdem er eine Weile nichts gehört hatte – es war
bereits späte Nacht und seine Kräfte ließen nach – beschloss er nach einer Unterkunft zu suchen.
Leider befand er sich Mitten im Nirgendwo. Der Waldweg würde sich noch eine Weile hinziehen, bis er den nächsten Ort erreichte. Er hatte am Morgen zu viel Zeit verschwendet, seine Planung verschoben und doch bereute er es nicht, denn seinen ausgiebigen Abschied von Wei WuXian hätte er sich nicht nehmen lassen.
Er seufzte und schüttelte über sich selbst den Kopf. „Wie sehr ich mich verändert habe..." Und doch musste er irgendwie lächeln.
Am Fuß eines großen Felsens begegnete ihm eine Öffnung, einige Meter breit und hoch. Er lief langsamer, um sich umzusehen. Gar nicht weit entfernt lag ein See, seine ruhige Oberfläche wurde nur von Regentropfen berührt. Die Felsspalte reichte nicht all zu tief in den Berg hinein. Auf dem
Boden fand er eine alte, von Rus geschwärzte Feuerstelle. Womöglich war dies eine ehemalige Bärenhöhle, die hin und wieder von Wanderern zum Rasten benutzt wurde. Genau richtig für ihn, wenngleich nicht die Umgebung, die HanGuang Jun besonders mochte. Wie man es von den Mitgliedern des Gusu Lan Clan kannte, war er sehr reinlich, der Gedanke sich auf dem Boden niederzulassen löste ein unbehagliches Gefühl in ihm aus.
Dabei störte ihn weniger der erdige Untergrund, als der Gedanke, dass dort womöglich andere Reisende bereits ihre Körper niedergelassen hatten, deren Blut und Schweiß sich mit dem Sand vermischte. Er hob den Saum seines langen, violetten Rockes und stapfte über ein paar zertrümmerte Felsbrocken. Aus seinem Ärmel holte er ein gefaltetes Leinentuch hervor, das er auf dem Boden ausbreitete, um es sich zumindest ein wenig bequemer zu machen.
Er setzte sich und lehnte den Rücken gegen die kalte Felswand. Sein Blick schweifte hinaus. Für eine Weile betrachtete er den Regen, dann fielen ihm die Augen zu. Es war schon sehr lange nach neun...
„Lan Zhan...", flüsterte Wei WuXians warme Stimme. Weiche Haarsträhnen kitzelten Lan WangJis Wange. „Er-Gege..."
Wei WuXian schien seine Stirn zu streicheln und Lan WangJi wollte nicht aufwachen. Wenigstens noch ein paar Sekunden wollte er Wei WuXians sanfte Berührung genießen.
Er streckte verschlafen die Hände nach ihm aus, suchte nach Wei WuXians weichem, verführerischen Nacken, um seine Finger hinein zu klammern, doch tastete ins Leere. „Wei... Wei Ying...!"
Für einen Moment hatte Lan WangJi vergessen, dass er längst nicht mehr im Wolkennest war. Das Gefühl von Wei WuXian, neben dem er jeden Morgen aufwachte, hatte sich in seinem Unterbewusstsein verankert.
Schließlich schlug er die Augen auf. Hellgraues Morgenlicht blendete ihn und er erinnerte sich schlagartig daran wo er sich eigentlich befand. Ach ja, die Höhle... Doch woher kam dieses Kitzeln?
Als er an sich hinunterblickte, bemerkte er, dass das Tuch, auf dem er saß, durch seine Bewegungen im Schlaf ganz zerknäult und verschoben worden war. Was ihn jedoch aus der Fassung brachte, war das kleine Kaninchen, das auf seinem Schoß saß, flauschig und weiß wie ein Schneeball.
Lan WangJis Herz wurde warm.
„Hue..."
Seine Hand fuhr sanft durch das weiche Fell. Konnte es sein, dass der kleine ihm die ganze Zeit gefolgt war? Er musste das merkwürdige Rascheln ausgelöst haben. „Wie hast du das nur geschafft...?", murmelte er kopfschüttelnd.
„Das ist ein ganz schön weiter Weg für ein Kaninchen..."
Er drückte das kleine Geschöpft sanft an sich.
„Was soll ich nun mit dir machen?", seufzte er und betrachtete es. „Ich kann dich doch nicht hier lassen...!"
Er überlegte hin un her, was er tun sollte, doch schließlich blieb ihm keine Wahl. Das Kaninchen würde den Weg nach Gusu nicht allein zurückfinden, zurückbringen konnte er es nicht und aussetzen wollte er es noch weniger. Er löste eines der breiten Bänder, das um seine Hüfte wie ein Gürtel geschlungen war, und knotete es zu einer provisorischen Tasche zusammen. Es war eher ein kleiner Beutel, den er sich nun wieder um die Taille band. Er setzte das Kaninchen hinein.
„So wird es gehen.", sagte er und Hue schien ihm stillschweigen zuzustimmen. Seine spitzen Ohren hoben sich neugierig. Sein Kopf schaute bis zum Hals hervor. Er schien gespannt zu sein auf die bevorstehende Reise.
Lan WangJi verließ die Höhle in einem merkwürdigen Anflug von guter Laune. Er fragte sich ob Wei WuXian Hue absichtlich hinter ihm hergeschickt, oder ob er selbst auf die Idee gekommen war Lan WangJis Fährte aufzunehmen. Wie dem auch sei, die Anwesenheit dieses kleinen Geschöpfes gab ihm das Gefühl auf seiner Reise nicht allein zu sein, vielleicht sogar einen Teil von Wei WuXian bei sich zu tragen und das gab ihm Mut.
Der Weg nach Yunmeng führte vorbei an Yiling, einem Ort mit dem Lan WangJi viele Erinnerungen verband, sowohl gute als auch schlechte. Durch die Straßen dieser Stadt zu wandern bot stets etwas Unterwartetes. Er wanderte nun schon fast zwei Wochen lang durch die Welt, die Reise hatte bereits einige Hindernisse mit sich gebracht, doch man sah es ihm nicht an. Er war ein Abbild makelloser Schönheit, das man weit über die Landesgrenzen kannte.
„Ist das nicht HanGuang Jun?"
„Nein, er scheint zum Yunmeng Jiang Clan zu gehören!", tuschelten die Leute auf dem Markt. „Merkwürdig, ich hätte schwören können er ist es...! Sieh dir seine feinen Gesichtszüge an...!"
„Seit wann hat HanGuang Jun ein Kaninchen dabei...! Er lässt niemanden an sich heran, schon gar kein Tier...!"
„Dann ist es vielleicht Wei WuXian? Ich habe gehört er soll auch unverschämt gut aussehen...!"
Lan WangJi senkte den Blick und verkniff sich ein Grinsen. Dass man ihn nun für Wei WuXian hielt amüsierte ihn ein wenig, wenngleich diese Menschen niemals Wei WuXian begegnet waren. Obwohl beide Männer schön waren, so unterschieden sie sich doch sehr stark voneinander. Wei WuXian erschien wie Feuer, Lan WangJi wie Eis. Der eine wie ein Sturm, der andere wie eine sanfte Brise.
Die Sonne stand hoch an diesem frostiger Wintermorgen. Lan WangJi legte die Arme um Hues Beutel, um ihn warm zu halten, und schlenderte an den Marktständen vorbei. Es gab vor allem Obst und Gemüse, auch ein wenig Fleisch, doch diese Dinge eigneten sich kaum als Geschenk für Wei WuXian. Er musste sich wohl oder übel noch tiefer ins Getümmel stürzen, denn die wirklich interessanten Waren wurden von vielen Käufern umringt. Er mochte keine großen Menschenansammlungen und wäre am liebsten schnell vorbei gegangen, doch er wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte. Gerade als sein Blick auf einen Verkäufer fiel, der hochwertigen Schmuck anbot, wurde er von jemand anderem angesprochen.
„Junger Herr", sagte eine verruchte Stimme. „Seid Ihr auf der Suche nach einem Geschenk für Eure Frau? Dann habe ich gewiss das richtige für Euch." Lan WangJis blieb stehen und drehte den Kopf in Richtung der fremden Person. Sein Blick fiel auf ein verschleiertes Gesicht, aus dem ein paar schwarze umrandete Augen hervorblickten. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Hut mit weiter Krempe. Auch seine restliche Garderobe war komplett schwarz gehalten. Lan WangJis Blick senkte sich auf den Tisch, auf dem der Händler seine Waren anbot: merkwürdige Skulpturen aus poliertem Holz, Wachs, Ton oder Stein. Sie waren in bunten Farben gestaltet, einige rot, andere violett, manche in hellem beige. Sie erinnerten an menschliche Haut...
„Was soll das sein?", fragte Lan WangJi etwas irritiert. Auf den ersten Blick fand er die Skulpturen etwas verunglimpft und sogar grotesk. Außerdem ähnelten sie einander alle, manche schienen etwas gebogener, größer als andere, doch im Grunde folgten sie alle dem gleichen Modell. Man hätte sie mit Gurken, Bananen oder vielleicht auch heruntergebrannten Kerzen verwechseln können.
Der Verkäufer grinste hinter seinem schwarzen Schleier. „Meine Skulpturen bringen besonderes Glück hervor. Kauft eine und ihr werdet sehen was ich meine."
Lan WangJi fühlte Unbehagen in sich aufsteigen, er wollte sich abwenden, doch wieder sprach der junge Mann: „Ihr seid noch nicht überzeugt? Viele Männer reagieren im ersten Augenblick so, doch ich weiß, wie es ist, wenn man erst einmal verheiratet ist und Gewohnheit anstelle von Leidenschaft tritt... man braucht einen neuen Reiz! Frauen sind anspruchsvoll. Doch hiermit" Er nahm eine grell-pink bemalte Holz-Skulptur vom Tisch. „werdet Ihr sie an ihre Grenzen bringen! Sie wird flehend und bebend in euren Armen liegen und den Schöpfern dieser Welt dafür danken, dass sie Euch hat heiraten dürfen!"
Lan WangJis Augen weiteten sich, ein tiefes Rot schoss in seine Wangen. Entsetzt trat er einen Schritt vor dem Mann zurück, seine Hand wanderte intuitiv zu BiChen. Seine ruckartige Bewegung hatte zur Folge, dass er mit einer Frau zusammenstieß, die einen Korb Äpfel trug. Als die Äpfel zu Boden rollten, beugte er sich schnell hinunter, um sie aufzusammeln. Er entschuldigte sich, doch die Frau beruhigte sich schnell wieder, freudig überrascht einem so vornehmen jungen Mann zu begegnen.
Danach machte Lan WangJi, dessen Herz immer noch raste, einen großen Bogen um den Stand des vermummten Mannes. Unbewusst hatte er sich so weit vom Markt entfernt, dass er nicht mehr zurückkehren wollte. Sicher würde es in Yunmeng noch einmal die Gelegenheit geben etwas für Wei WuXian zu kaufen...
Am Abend kehrte Lan WangJi in einem Gasthaus in der Nähe des Hafens ein. Am nächsten Morgen würde er ein Boot zum Lotus Pier nehmen, er hatte es bereits bezahlt. Die Hütte war ein wenig bäuerlich, doch durchaus gemütlich. Als er die Tür zu seinem angemieteten Zimmer schloss und sich auf dem Bett niederlies, hörte er den strömenden Fluss rauschen. Die Umgebung roch nach Holz und Kerzen. Eine dünne Note von Lotusduft, verklärt vom bevorstehenden Wintereinbruch, zog durchs geöffnete Fenster zu ihm hinauf. Er lehnte sich über den Fensterrahmen und blickte über die weite, in Nacht und Laternenlicht getauchte Landschaft. Unten hörte man Stimmen von Menschen, die in aus der Gaststätte kamen.
„Ich bin nicht mehr weit von Yungmeng...", sagte er zu Hue, der auf seinem Arm saß. „Sicher ist er hier auch oft gewesen..."
Auf dem Fluss trieben ein paar Boote in der Ferne. Auf einmal war ihm, als könne er Wei WuXian dort stehen und ihm zuwinken sehen. Sein langes rotes Haarband wehte im Wind, er holte eine Flöte hervor und setzte sie an die Lippen, doch sie war nicht schwarz, sondern elfenbeinweiß und als er sie spielte drangen himmlische Töne daraus hervor, die wie Libellen übers Wasser tanzten.
Lan WangJi tastete nach etwas, das sicher in seinem Ärmel verborgen lag. Es war glattgeschliffen und aus feinstem Holz. Er fühlte das warme Kribbeln in seinen Fingern und schloss die Augen.
„Bald ist es soweit..."
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The Secret
FanfictionAls Wei WuXian um Lan WangJis Hand anhält, steht die Welt der Kultivierung Kopf. Um Jiang Cheng zu überzeugen, macht sich Lan WangJi auf eine beschwerliche Reise am Rande von Leben und Tod...