Zum Schutz der Welt

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„Wieso habt Ihr mich her befohlen?"
Nie Huaisangs Stimme klang unsicher, beinahe ängstlich. Seine Augen wanderten im Raum umher, und suchten einen Ort, wo sie sich festhalten konnten, doch links und rechts von ihm standen uniformierte Wachen des Lanling Jin Clans. Ihre starren Gesichter ließen sie wie Statuen erscheinen und doch ging eine allgegenwärtige Bedrohung von ihnen aus, als können sie jeden Moment angreifen...
Jin GuangYao saß an seinem Schreibtisch, die Lider auf zahlreiche Pergamente gesenkt, die er von einem Stapel zum nächsten sortierte, während er sein Siegel daruntersetzte. Er wirkte beschäftigt und schenkte Nie Huaisang nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit.
„Es gibt da etwas, das mich seit geraumer Zeit beschäftigt", begann seine ruhige, abgerundet klingende Stimme. Er wirkte stets sanft und gefasst. Im Gegensatz zu den stoisch dreinblickenden Mitgliedern des Gusu Lan Clan, lag ein gleichbleibendes Lächeln auf seinem Gesicht, doch während sich hinter der strengen Fassade der Gusu Lan Krieger oft ein gutmütiger Charakter verbarg, wusste Nie Huaisang, dass nichts trügerischer war als Jin GuangYaos Lächeln.
„Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nicht tatenlos zusehen werde, Huaisang.", fuhr er fort. „Unsere Clans befinden sich momentan in einem Gleichgewicht, das wir seit vielen Jahrzehnten anstreben. Ein wertvolles Gleichgewicht, das zu wahren meine Pflicht als Clanführer des Lanling Jin Clans ist. Wer wäre ich würde ich meine Bürde nicht ehrenvoll tragen und die Kultivisten in ihr Verderben rennen lassen?"
„Natürlich, das Gleichgewicht der Welt sollte uns am Herzen liegen", antwortete Nie Huaisang, auch wenn er nicht wusste, worauf das Gespräch hinauslief. „W-Welche Rolle soll ich dabei spielen?", wagte er kleinlaut zu fragen. Ihm graute bereits vor den Konsequenzen.
Er hatte nicht viel mit den Angelegenheiten der Clans zutun. Meistens hielt er sich zurück. Er wusste, dass er nicht für Politik geschaffen war. Seine Talente lagen weder in der Clanführung noch im Schwertkampf. Er war nur ein mittelmäßiger Kultivist, der gerade so mit einem Schwert umgehen konnte. Was also konnte Jin GuangYao ausgerechnet von ihm wollen, das den Frieden der Clans sicherstellte?
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass Ihr Verbindungen zu den weiblichen Kultivisten des Gusu Lan Clan habst, mein lieber Huisang."
Nie Huaisang blickte ihn verwirrt an. „Nun, Verbindungen... ich weiß nicht, ob man es so nennen kann. Eine entfernte Cousine von mir ist Mitglied des Gusu Lan Clan... doch ich habe sie sehr lange nicht gesehen..."
„Dann ist dies deine Chance eure Beziehung wieder aufleben zu lassen", sagte Jin GuangYao. „Tretet mit ihr in Kontakt, am besten möglichst bald, wir dürfen keine Zeit verlieren."
Weiteres schien der Clanführer nicht sagen zu wollen, also stand Nie Huaisang etwas unschlüssig in der Gegend herum und wusste nicht, ob er bleiben oder gehen sollte.
„U-Und... angenommen ich wäre mit ihr in Kontakt getreten... was soll als nächstes passieren, Clanführer Yao? Möchtet Ihr mit ihr eine Unterredung führen? Erhofft Ihr Euch dadurch ein besseres Verhältnis zum Gusu Lan Clan? Ich dachte Ihr wärt bereits sehr gut mit Herrn Zewu Jun befreundet...?"
Da legte Jin GuangYao seine Akten beiseite und schüttelte lächelnd den Kopf. „Oh, Huaisang, bitte entschuldigt, aber Ihr seid manchmal so naiv... Kein Wunder, Ihr seid noch jung. So jung und bereits Clanführer! Es muss eine große Last für Euch sein."
Er betrachtete ihn verständnisvoll, doch Nie Huaisang hatte nicht das Gefühl, dass er tatsächlich Mitleid für ihn empfand.
„Ich werde Euch nicht im Dunkeln tappen lassen, Ihr habt gefragt und ich werde antworten." Mit einer Handbewegung scheuchte er die Wachen nach draußen. Was er nun zu sagen hatte, sollte nur ihn und Nie Huaisang etwas angesehen.
„Mir ist zu Ohren gekommen Wei WuXian habe vor seiner... Affäre mit HanGuang Jun eher mit Frauen vorliebgenommen...", begann er und Nie Huaisang war verwundert über diesen merkwürdigen Themenwechsel. „Er soll sogar ein wahrer Frauenheld gewesen sein. In Yunmeng hatte er viele Verehrerinnen und wechselnde Liebschaften... Ein wahrer Abenteurer, der das Leben in vollen Zügen genießt! Doch das harte Leben trifft uns alle irgendwann, nicht wahr?"
Er seufzte und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen, als würden dort draußen Bilder längst vergangener Tage vorbeiziehen.
„Er verlor seinen goldenen Kern und wandte sich der dunklen Seite zu. Sein Zuhause wurde niedergefochten, seine Eltern starben. Für Wei WuXian begann der Ernst des Lebens. Er hatte keine Gelegenheit mehr Frauen kennen zu lernen. Sein Alltag bestand aus Kampf und so kämpfte er Seite an Seite mit den Hinterbliebenen – ausschließlich in Gegenwart von Männern. Ihr wisst, wie sehr Notsituationen Menschen aneinanderschweißen, Huaisang. Ihr habt es selbst oft erlebt. Plötzlich werden aus Feinden Brüder... und – im Falle von Wei WuXian und HanGuang Jun – Liebende. So vergaß Wei WuXian die Frauen, er ging einen Kompromiss ein. Er wählte seinen besten Freund, denn nichts ist schlimmer, als das Alleinsein, besonders für einen Ausgestoßenen, der nicht einmal mehr auf seinen Bruder zählen kann. Stellt Euch vor die ganze Welt stellt sich gegen Euch, was würdet Ihr tun, Huaisang? Würdet Ihr nicht auch nach der einzigen Hand greifen, die sich Euch reicht? Doch in einer Welt, in der all das nicht existiert... wäre Wei WuXian jemals an die Seite von HanGuang Jun getreten?"
„Ich... Ich weiß es nicht, Clanführer..."
Nie Huaisang hatte von den Gerüchten über die Liebschaft zwischen Wei WuXian und Lan WangJi gehört. Er kannte die beiden selbst und hatte sie oft beobachtet. Früher waren sie heftig zerstritten gewesen, ihre Ansichten scheinbar zu konträr, um jemals miteinander zu harmonieren, doch wenn man sie heutzutage miteinander sah, brauchte man nicht viel Fantasie, um sich die Wahrheit über ihre Beziehung zusammenzureimen, obwohl sich – bis vor kurzem – nie einer der beiden öffentlich dazu geäußert hatte.
„Was ich versuche Euch zu sagen, Huaisang, ist folgendes: Würde Wei WuXian jetzt, da sich die Situation für ihn beruhigt hat, eine Frau kennenlernen, die ihm gefällt... wäre es sehr wahrscheinlich, dass er zu dem zurückfindet, der er eigentlich ist. Und dieser Mann ist kein Ärmelabschneider."
„Also Clanführer, ich bin nicht sicher, ob ihr da richtig liegt... ehrlich gesagt habe ich ihn ein paar Mal getroffen und schon hin und wieder waren schöne Damen dabei, er hat sie niemals eines Blicken gewürdigt, wenn HanGuang Jun im selben Raum-!"
„Das ist es ja, HanGuang Jun ist außer Lande. Seit über einem Monat hat man nichts von ihm gehört und ich werde sicherstellen, dass dies auch so bleibt.", sagte Jin GuangYao geheimnisvoll und Nie Huaisang rann ein kalter Schauer über den Rücken.
Er wusste mit welchen Methoden Jin GuangYao normalerweise vorging und es verschlug ihm für einen Moment die Sprache.
„So lange er nicht zurückkommt wird sich Wei WuXian langweilen und jeder weiß, dass er auf dumme Ideen kommt, wenn er sich langweilt. Daher werden wir ihm die schönste junge Dame vorbeischicken, die der Gusu Lan Clan vorzuweisen hat. Sie wird ihn um den Finger wickeln und diese abstruse Hochzeit wird niemals stattfinden. Der Ruf des Gusu Lan Clan bleibt unangetastet und rein."
Sein Kinn hob sich kaum merklich, als wäre er stolz über seinen ausgeklügelten Plan, sein Lächeln schien höher zu beiden Seiten seiner Wangen hinaufzuklettern.
„Tut Ihr das wegen Zewu Jun, Clanführer?", fragte Nie Huaisang.
Jin GuangYao starrte ihn empört an.
„Meine Motive sind irrelevant! Es geht darum den Gusu Lan Clan vor einem Fehltritt zu wahren! Dem Wohl der Menschheit zuliebe! Ihr solltet meine Motive nicht in Frage stellen!"
Er wirkte ein wenig erbost und so beschloss Nie Huaisang seine weiteren Gedanken für sich zu behalten. Er verbeugte sich mehrfach.
„Bitte verzeiht, ich beabsichtigte natürlich nicht Eurer Vorhaben in Frage zu stellen! Ihr wisst, ich war stets Euer treuer Diener! Ich werde mich sobald wie möglich auf den Weg zu meiner Cousine machen! Alles soll nach Euren Vorstellungen geschehen, Clanführer Yao!"
Jin GuangYao erlangte seine Fassung wieder. „Am besten geht Ihr sofort. Erstattet mir Bericht, sobald Ihr zurück seid."
Nie Huaisang fühlte eine unangenehme Beklemmung in seiner Brust. „Jawohl Clanführer!", sagte er, seine Stimme klang herausgepresst.
In gebeugter Haltung verließ er den Raum. Er hatte schon einige fragwürdige Aufträge von Jin GuangYao ausführen müssen, selten jedoch war ihm einer so grundlegend falsch erschienen, wie dieser. Er überlegte was er tun sollte, doch kam zu keinem sinnvollen Ergebnis. Sich mit Jin GuangYao anzulegen konnte er sich nicht leisten. Die einzige Chance heil aus der Sache herauszukommen, war zu gehorchen.

Tage später durchstreifte Lan WangJi erneut die Wälder und Täler, denen er bereits auf seinem Hinweg begegnet war, doch alles schien sich verändert zu haben.
Er wanderte langsamer als zuvor, seine Glieder fühlten sich schwer an wie Blei, doch mehr als die Erschöpfung machte ihm die Last seines eigenen Versagens zu schaffen.
Sein Vorhaben war auf ganzer Linie gescheitert, kläglicher, als er es je hätte absehen können. Er war nicht nur in heftigem Streit mit Jiang Cheng auseinander gegangen, er hatte auch noch Hue verloren. Er konnte sich selbst nicht erklären, wieso er so sehr an diesem Kaninchen hing. Allein der Gedanke an sein blutiges Fell verursachte einen erneuten Kloß in seinem Hals. Wie gern hätte er Hue wenigstens begraben, doch sein lebloser Körper trieb längst irgendwo am Grund des Lotus Pier...
Lan WangJi blickte auf den vor ihm liegenden Weg, ein Weg voller Kummer.
Es würde ihm schwer fallen die Wahrheit in Wei WuXians strahlendes Gesicht sagen zu müssen.
Er konnte bereits seine fröhliche Stimme hören. Seine Arme schlangen sich um Lan WangJis Körper, er wirbelte durch die Luft, sein rotes Haarband flog im Wind. Wie immer sah er wunderschön aus. Rote Lippen und leuchtend braune Augen.
Ein warmer Schauer durchwanderte Lan WangJis fröstelnden Körper bei der Vorstellung. Noch immer trug er die Uniform des Yunmeng Jiang Clan, mittlerweile an einigen Stellen zerrissen und verdreckt.
„Na, wie hast du ihn überzeugt? Hast du tagelang auf Knien vor dem Lotus Pier ausgeharrt, während der Schnee fiel? So kenne ich dich, Lan Zhan! Kein Wunder, dass er nachgegeben hat! Diesen Anblick kann niemand lange ertragen, nicht mal er!"
Er lachte, doch sein Lachen verstummte, als er in Lan WangJis ernstes Gesicht blickte.
„Zhan Zhan?" Seine Stimme klang noch immer hoffnungsvoll, doch als Lan WangJi weiter schwieg, begriff er allmählich.
Er zog sich von ihm zurück, seine Augen füllten sich mit Tränen. Er bemühte sich Haltung zu bewahren und Lan WangJi nicht zu zeigen, wie enttäuscht er war, doch er scheiterte kläglich. Seine Hände zitterten.
„Sch-Schon gut... Es ist nicht weiter schlimm! Es macht keinen Unterschied, ob wir es tun, oder nicht, Lan Zhan... Ich meine wir... wir lieben uns trotzdem! Was ist schon so wichtig daran, ob man heiratet oder nicht...? Es ist nur... nur eine Formalität."
Nein, dachte Lan WangJi. Es ist nicht nur eine Formalität.
Egal wie sehr wir uns lieben, man wird uns nicht ernst nehmen. Die Leute sagen „Ach, dieser HanGuang Jun, hat er nicht dieses Techtelmechtel mit Wei WuXian?" „Stimmt, sie haben eine Affäre... diese Ärmelabschneider!"
„Ist es denn so wichtig, dass man uns ernst nimmt, reicht es nicht, wenn wir uns selbst ernst nehmen?"
Nein, Wei Ying, das reicht nicht... Du weißt, dass ich dich liebe und ich weiß, dass du mich liebst. Ist es nicht eine ehrenvolle Sache, die von der Außenwelt nicht beschmutzt werden darf?
Es schmerzt, wenn sie so über uns reden, wenn sie so tun, als wären unsere Gefühle füreinander weniger Wert als der Schmutz unter ihren Schuhen... doch, Wei Ying, wenn wir uns mit ihnen gleichstellen, was sollen sie uns dann noch entgegnen?
„Ist es nur wegen der Leute, willst du mich nur wegen ihnen heiraten...? Es ist mir egal, ob sie über uns herziehen, Lan Zhan... Ich bin es gewöhnt. Nur was ich für dich empfinde ist wichtig..."
Nein, ich will es nicht wegen der Leute, obwohl es mir wichtig ist, dass sie dich respektieren. Ich will mehr sein als nur irgendein Freund, den du einmal geliebt hast... Ich will der einzige für dich sein und zwar für immer. Diesen Schwur gebe ich nur dir. Es ist ein Versprechen, dass mein Herz immer nur für dich schlagen wird.
Ich bin so aufgewachsen, Wei Ying. Mein Leben bestand immer aus Regeln und Schwüren und so erscheint es mir natürlich, mit dem Menschen, den ich liebe, auch einen Schwur einzugehen.
„Du warst immer traditionell und etwas konservativ..."
Und ist da nicht irgendetwas in dir, das all das gut verstehen kann? Würdest du sonst bebend vor mir stehen und deine Tränen zurückhalten?
„Lan... Zhan."
Wei Ying... Wie gern würde ich dich jetzt im Arm halten. Du fehlst mir so sehr.

Lan WangJi hielt inne. Er konnte nicht mehr weitergehen. Er lehnte sich an einen Baum und sank dort langsam zu Boden. Im Schatten einer hohen Tanne brach Verzweiflung über ihn herein.
Er grub den Kopf in seine verschränkten Arme und schluchzte in den Stoff seiner Montur. Ein Glück war der Wald verlassen. Seit Tagen hatte kein Wanderer seinen Weg gekreuzt. Er hätte sich geschämt.

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