Als Jiang Cheng in das Gästezimmer zurückkehrte, das der Gusu Lan Clan ihnen gegeben hatte, saß Jin Ling an einem Tisch und las ein Buch. Er hob nur flüchtig den Kopf, als er seinen Onkel eintreten sah und vertiefte sich sogleich wieder in seine Zeilen.
„Wir gehen!", sagte Jiang Cheng. Er sammelte sämtliche Utensilien, die ihnen gehörten, ein und ließ sie wieder in seine Ärmeltaschen verschwinden.
„Warte Onkel – dieses Buch ist wirklich gut! Ich will nur noch ein Kapitel lesen!", sagte Jin Ling, doch Jiang Cheng riss ihm das Buch aus der Hand.
„Wir haben jetzt keine Zeit für sowas! Es ist schon fast Mittag und ich will vor Dämmerungseinbruch-!" Als er den Einband des Buches erkannte, das Jin Ling in Händen hielt, verlor er den Faden. Es handelte sich um dasselbe Buch, das Lan WangJi ihn vor einem Jahr hatte lesen lassen. Das Buch, mit dem alles begonnen hatte.
„Was ist, kennst du es? Vielleicht darf ich es mir ausleihen...!" Jiang Cheng schüttelte geistesabwesend den Kopf und ordnete es wieder ins Regal ein. Dieser kleine Zwischenfall brachte ihn gewaltig aus dem Konzept, wenngleich er sich nichts anmerken ließ.
Noch immer wühlte ihn der abstruse Zusammenprall mit Wei WuXian auf, die neuen Erkenntnisse konnte er nur schwer verarbeiten.
Bis zu diese Zeitpunkt hatte er sich vorgenommen sich nicht von Lan WangJi zu verabschieden, doch dass er nun ausgerechnet auf dieses Buch stieß, erschien ihm wie Schicksal. Er empfand ein quälendes Verlangen danach Lan WangJi noch einmal zu sehen, bevor er ging.
„Draußen stehen Pferde. Zewu Jun hat sie uns für den Rückweg zur Verfügung gestellt. Sie müssen nur noch gesattelt werden.", erklärte er. „Weißt du wie man so etwas macht?"
Jin Ling runzelte die Stirn. „Für wen hältst du mich, Onkel? Ich bin in einem renommierten Clan aufgewachsen! Natürlich weiß ich, wie man ein Pferd sattelt."
„Gut.", sagte Jiang Cheng. „Dann bereite die Pferde vor. Ich habe noch etwas zu erledigen."
Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen war er bereits aus der Tür verschwunden. Jin Ling blickte ihm verwundert nach. Er konnte sich bereits vorstellen, was sein Onkel erledigen wollte...
Mit einem heißen Brennen im Magen, das ihn seit Tagen nicht ruhen ließ, machte sich Jiang Cheng auf die Suche nach Lan WangJi. Seit er aus dem Haus der Speisen geflüchtet war, hatte ihn niemand mehr gesehen.
Hastig durchforstete Jiang Cheng die verschiedenen Häuser. Wenn die Anwesenden sich über sein Erscheinen wunderten, gab er vor sich verabschieden zu wollen. Beiläufig fragte er nach HanGuang Jun. Die meisten schienen ihn nicht gesehen zu haben, doch Lan JingYi wusste, dass er sich auf den Weg zum Pavillon der Schriften gemacht hatte.
Also betrat Jiang Cheng die Bibliothek. Sie wirkte verlassen. Nur nachmittags herrschte hier reger Betrieb, wenn die Schüler nach dem Unterricht für ihre Hausaufgaben in den Büchern versanken.
Er trat langsam näher und blickte sich um, späte hinter jedes Regal und jeden Tisch.
„WangJi?", rief er, doch erhielt keine Antwort. Lan JingYi musste sich geirrt haben. Lan WangJi hielt sich hier nicht auf.
Er war im Begriff das Gebäude zu verlassen, da vernahm er ein eigentümliches Klicken, als würde sich ein Schlüssel umdrehen. Er wandte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war und bemerkte eine Tür, die einen Spalt weit offenstand.
Sie lag im hinteren Bereich der Bibliothek, als habe man sie bewusst verstecken wollen. Langsam öffnete er sie, ohne zu wissen, wohin sein Weg führte.
Er wanderte über hölzerne Treppenstufen nach unten in einen weiteren Teil der Bibliothek, schwach ausgeleuchtet und geheimnisvoll.
Was ist das für ein Ort...? Etwa die verbotene Bibliothek...?
Er hatte viel von den verbotenen Büchern des Lan Clan gehört, doch diesen Ort mit eigenen Augen zu sehen, widersprach sämtlichen Erzählungen.
Die Bibliothek war weniger obskur als man allgemein glaubte. Keine Teufelsköpfe ragten aus der Wand und keine unheimlichen Stimmen flüsterten in der Luft. Eigentlich handelte es sich um eine ganz normale, gemütliche Bibliothek, die der schlichten Eleganz des Gusu Lan Clan folgte.
Als plötzlich der Rocksaum eines weiten Gewandes aus dem Schatten trat, wurden Jiang Chengs Knie weich. Das goldene Licht brachte die Seide von Lan WangJis weißem Hanfu zum Funkeln wie Muscheln am Meeresstrand. Die Hände vor der Brust verschlossen, wirkte er sehr anständig, sein Haar bedeckte lang und schimmernd seine Schultern.
Jiang Cheng folgte dem plötzlichen Drang sich verbeugen zu müssen. „HanGuang Jun."
Lan WangJi betrachtete ihn nur. Er schien nicht verwundert oder gar verärgert darüber gefunden worden zu sein.
„Ich will dich nicht lange stören.... Jing Ling sattelt bereits die Pferde. Ich... wollte mich lediglich verabschieden."
„Verabschieden.", wiederholte Lan WangJis leise Stimme, dann trat Stille ein.
Jiang Cheng versuchte das bedrückende Schweigen mit Worten zu füllen.
„Ich bin froh, dass Zewu Jun uns Pferde zur Verfügung gestellt hat... man ist wesentlich schneller, wenn man reitet..." Er bemerkte, dass er über Nichtigkeiten sprach, seine Worte verebbten, während Lan WangJi ihn seltsam anstarrte.
„Es wird eine Weile dauern, bis ich wiederkehre...", sagte er dann, sein Kopf senkte sich auf seine Stiefel. „Wenn ich... überhaupt je wiederkomme... Ich... Ich weiß es nicht."
Er wusste, dass er Lan WangJi nicht ansehen durfte, auch wenn das Bedürfnis stark war, besonders, als Lan WangJi sich näherte.
„Du musst wiederkommen...", sagte er. Jiang Cheng sah es nicht, doch seine schwarzen Mandelaugen füllten sich mit unerklärlicher Furcht.
„Ich habe begriffen, dass du und Wei WuXian zusammengehören.", sagte Jiang Cheng. „Ihr werdet heiraten... Für mich ist da kein Platz."
Lan WangJis Adamsapfel bebte.
„Ich dachte ich könnte es ertragen dich und ihn zusammen zu sehen..." Jiang Cheng schüttelte leise den Kopf. „Ich habe mich geirrt... die einzige Möglichkeit all das zu vergessen... ist dich eine Weile nicht zu treffen."
Jiang Cheng bemerkte nicht, welch große Wirkung diese wenigen Worte auf Lan WangJi hatten. Sie schienen ihm das Herz zu brechen. Erfüllt von einem unbeschreiblichen Schmerz, brachen Tränen aus seinen Augen, doch während er weinte blieb er still, wie eine Statue.
„Nicht für Stunden oder Tage... für Jahre... bis ich dich irgendwann aus meinem Kopf gestrichen habe...", fuhr Jiang Cheng fort. „Vielleicht... wird es auch niemals geschehen. Dann ist dies unsere letzte Begegnung."
Nun kam ein herzzerreißendes Schluchzen aus Lan WangJis Richtung.
„Nie... nie wieder...", brachte er hervor. Aus einem Impuls heraus ergriff er Jiang Chengs Handgelenk, ein letzter Versuch ihn festzuhalten.
Jiang Cheng hob den Kopf und blickte in Lan WangJis gerötetes Gesicht. Er schien heillos durcheinander, seine gefasste, kühle Gestalt ein weit entfernter Schatten.
„WangJi... wieso weinst du...?", fragte Jiang Cheng. Lan WangJis Anblick bewegte ihn zutiefst, doch er kämpfte gegen das Bedürfnis ihm eine Hand auf die Schulter zu legen. „Solltest du nicht glücklich sein...? Ein neues Leben wartet auf dich..."
Lan WangJis vergrub das Gesicht in seinen weiten Ärmeln.
„Weine nicht...", sagte Jiang Cheng sanft. „Die Menschen verehren dich... bald wirst du einen neuen Freund gefunden haben... die Erinnerung an mich wird verblassen und dein Leben wird perfekt sein..."
Vorsichtig löste er Lan WangJis Finger von seinem Handgelenk. „Du musst mich gehen lassen...", sagte Jiang Cheng. „Jin Ling wartet. Lebewohl, Lan WangJi."
Für einen kurzen Moment verharrte sein Blick in Lan WangJis Augen, in denen ein Feuerwerk ausbrach. Dann drehte er sich um und ging zur Treppe.
Als er die ersten Stufen genommen hatte, wurde er plötzlich herumgerissen. Arme schlangen sich um seinen Nacken, Lippen drückten sich gegen seinen Mund. Eine heiße Zunge drang mit unbändiger Leidenschaft zwischen seine Lippen. Er verlor das Gleichgewicht, doch wurde im nächsten Moment gegen das Geländer gedrückt.
„Wang... WangJi!", rief Jiang Cheng, er konnte kaum atmen. Sein Herz überschlug sich, während Lan WangJi sein glühendes Gesicht packte. Wieder und wieder kämpften ihre Zungen miteinander. Tränen und Speichel vermischten sich. Lan WangJi war kaum in der Lage sich von ihm zu lösen. All das schien zu lange in Zaun gehalten worden zu sein...
Als Lan WangJi ihn endlich los ließ waren Jiang Chengs Glieder taub und schwer wie Blei, jede Treppenstufe aufwärts ein schier unüberwindbares Hindernis. Während Lan WangJi in der verborgenen Bibliothek blieb, erreichte er die Tür.
„Jiang Cheng!", rief Lan WangJi, seine heisere Stimme brach. Jiang Cheng wandte noch ein letztes Mal den Kopf. „Lebewohl...!"
Ein trauriges Lächeln bildete sich auf Jiang Chengs Lippen.
„Danke für alles... HanGuang Jun."
So ging Jiang Cheng hinaus.
Eine Weile später saß Lan WangJi auf dem Bett. Ein Kaninchen lag in seinem Schoß, das er gedankenverloren streichelte. Er starrte nur vor sich hin. Als es an der Tür klopfte, wachte er auf und hob verwundert die Augen. Die einzigen, die ihn in seinem Zimmer besuchten, waren Lan XiChen und Wei WuXian, doch weder der eine, noch der andere hätte angeklopft.
Wenig später stand ein Junge vor ihm, er wirkte ein wenig außer Atem. Jin Ling verbeugte sich.
„HanGuang Jun", keuchte er. „Bitte entschuldigt, ich werde nicht lang bleiben, Onkel ist schon voraus geritten... aber ich habe vergessen Euch etwas zu geben...!"
Lan WangJi betrachtete verwundert, wie Jin Ling sich näherte und etwas aus seinem Ärmel holte.
„Hier!" In seiner ausgestreckten Hand lag ein Stapel Briefe. „Ich hatte sie noch in meiner Uniform..."
Lan WangJis Augen weiteten sich. „Jin... Rulan... Ich... kann sie nicht annehmen."
Lan WangJi spürte, dass es ihm noch schwerer fallen würde Jiang Cheng loszulassen, wenn er erst gelesen hatte, was in diesen Briefen stand.
„Bitte! Ihr müsst sie nehmen! Onkel wird mich umbringen, wenn er erfährt, dass ich sie Euch nicht gegeben habe! Er ist schon wieder so gereizt und ich muss die nächsten Wochen mit ihm verbringen...!"
Jin Ling sah ihn bettelnd an, doch Lan WangJi zögerte.
Da beugte sich Jin Ling zu ihm hinunter, seine Stimme verlor ihre jugendliche Lockerheit.
„HanGuang Jun.", begann er. „Alles ist sehr schwer für Onkel... und wenn mich nicht alles täuscht, was ich in den letzten Wochen gesehen habe... dann ist es auch für Euch nicht einfach. Ich weiß es würde ihm viel bedeuten, wenn Ihr diese Briefe hättet. Erweist ihm diese letzte Ehre."
„Wird... er es schaffen...?", fragte Lan WangJi, seine Fingerspitzen berührten die Oberfläche der Briefumschläge.
„Ich weiß es nicht...", sagte Jin Ling. „Aber ich werde versuchen ihm zu helfen... das ist der Grund, weshalb ich ihn begleite. Er sollte das alles nicht allein durchstehen müssen."
Lan WangJis Gesichtsausdruck wurde sanft. „Pass gut auf ihn auf, Jin Rulan."
Jin Ling verbeugte sich. „Das werde ich." Er lief zum Ausgang. „Bis irgendwann, HanGuang Jun...!"
Sein perlmuttgoldenes Gewand verschwand hinter der Tür und Lan WangJi blieb mit den Briefen zurück.
Nach seiner Auseinandersetzung mit Jiang Cheng streifte Wei WuXian ziellos durch die Wälder, auf der Suche nach Antworten, die er nur in sich selbst finden konnte.
In seinem Kopf herrschte ein Chaos, das sich nur langsam beruhigen wollte. Erinnerungen an längst verdrängte Zeiten, seine Kindheit, seine Jugend, traten in den Vordergrund.
Nächte, in denen er schweißgebadet wachgelegen und in leidenschaftlichen Bildern von seinem Bruder geträumt hatte, der eigentlich nicht blutsverwandt mit ihm war.
All das hatte sich lange bevor er Lan WangJi überhaupt begegnet war, zugetragen, doch sein Streit mit Jiang Cheng wühlte alte Wunden wieder auf und nun wusste er nicht, wie er damit umgehen sollte.
Er empfand schreckliche Eifersucht gegenüber dem Verhältnis, das offensichtlich zwischen Jiang Cheng und Lan WangJi bestand, doch genauso sehr quälte ihn die Vorstellung, dass Jiang Cheng sich nie für ihn entschieden hatte.
Als Wei WuXian endlich zu Lan WangJis Jingshi zurückkehrte, dämmerte bereits der Abend.
Nachdem sich seine Gedanken stundenlang ergebnislos im Kreis gedreht hatten, empfand er große Müdigkeit. Er löste seinen Waffengürtel, warf seinen Übermantel in die Ecke und kam zu Lan WangJi. Sein Freund saß auf dem Bett, ein tiefer Ausdruck von Melancholie lag in all seinen Zügen. Seine Augen waren sichtlich gerötet.
Als er Wei WuXian erblickte, hob er die Augen und wortlos schlangen sie die Arme umeinander und vergruben ihre Köpfe im Nacken des anderen. Sie blieben eine Ewigkeit so sitzen, und hielten sich fest. Dann trafen sich ihre Lippen, zärtlich und sanft.
„Liebst du mich noch...?", fragte Wei WuXian, seine glasigen Augen forschten in Lan WangJis Blick.
Lan WangJi nickte und küsste ihn erneut. „Ich liebe dich... Wei Ying.", flüsterte er sanft und strich eine verirrte Strähne hinter Wei WuXians Ohr. „Willst du jetzt erfahren, was auf meiner Reise geschehen ist?"
Wei WuXian nahm Lan WangJis Hand und küsste sie behutsam. Dann schüttelte er leise den Kopf. „Nein...", sagte er. „Alles was zählt ist, dass wir zusammen sind. Ich vertraue dir, Lan Zhan. Was auch immer geschehen ist wird seine Berechtigung gehabt haben."
Tränen traten aus Lan WangJis Augen. „W...Wei Ying...!", schluchzte er und klammerte sich an Wei WuXians Gewand. „Ich habe dich nicht verdient..."
„Mein Lan Zhan...", flüsterte Wei WuXian. „Zhan Zhan... Ge..."
Wei WuXian streichelte tröstend durch Lan WangJis Haar, während Lan WangJi weinte. Es dauerte eine lange Zeit, bis er sich beruhigte und in Wei WuXians Armen einschlief.
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The Secret
FanfictionAls Wei WuXian um Lan WangJis Hand anhält, steht die Welt der Kultivierung Kopf. Um Jiang Cheng zu überzeugen, macht sich Lan WangJi auf eine beschwerliche Reise am Rande von Leben und Tod...