Der Talisman

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Alles oder nichts, jetzt liegt es an mir, dachte Jin Ling, als er sich auf den Weg zum Lotus Pier machte. Er lief so schnell er konnte, das letzte Stück zum Hafen legte er auf seinem Schwer zurück, obwohl er wusste, dass seine spirituelle Energie darunter litt. Zum Glück war er mittlerweile ein guter Kultivist, er konnte abschätzen wie viel Energie er brauchte, um den Telepathie Talisman noch benutzen zu können. Er schnappte sich ein Boot und ruderte so schnell er konnte durch den beginnenden Abend. Die Lichter des Lotus Piers schimmerten vorm rot verfärbten Dezemberhimmel.
Er stieg aus, ging über den Steg und gelangte zur Residenz von Jiang Cheng. Gerade als er auf dem Weg zur Ahnenhalle war, kam ihm sein Hund entgegen.
„Fee!", rief er und schlang die Arme um das silbergraue Fell. „Hast du mich vermisst?"
Der Hund drehte sich drei Mal im Kreis so sehr freute er sich sein Herrchen wiederzusehen.
„Willst du mitkommen? Wir suchen eine geheime Kammer. Das wird aufregend!" Fee bellte.
Jin Ling und Fee betraten die Ahnenhalle. Schon einige Male hatte er hier vorm Schrein seiner Mutter gebetet. Auch heute ließ ihn der Anblick nicht kalt. Er sah ihr lächelndes Gesicht noch klar vor Augen. Jiang Yanli war jung gestorben, doch die genaue Ursache für ihren Tod konnte nie geklärt werden. Nachdem ihr Mann einen grausam Tod durch Wen Nings Angriff gefunden hatte, wurde sie krank, doch man konnte die Symptome nicht als schwerwiegend bezeichnen, eher als chronisch wiederkehrende Erkältung, die nie ganz verebbte. Eines Tages war sie tot in ihrem Bett gefunden worden, ein Bild von Jin ZiXuan in den Armen haltend. Seither erzählte man sich sie habe den Tod ihres Mannes nie ganz verkraftet und sei an einem gebrochenen Herzen gestorben...
„Ich weiß du wirst es schaffen, A-Ling... Hab Vertrauen.", sagte sie in Jin Lings Vorstellung.
„Natürlich werde ich es schaffen, Mutter! Ich bin doch dein Sohn!", entgegnete er selbstbewusst.
Dann blickte er sich forschend um.
Wo soll nun diese Kammer nur sein? In Theaterstücken verstecken sich geheime Orte hinter Bücherregalen, doch hier gibt keine...
Fee lief im Raum herum und schnüffelte. Auf einmal scharrte sie mit den Pfoten am Boden. Jin Ling verdrehte die Augen. „Fee, du sollst jetzt keine Löcher buddeln...!"
Er wollte den Hund gerade vom Teppich wegziehen, da sah er einen merkwürdigen Silbergriff unter den purpurnen Fransen aufblitzen. „Fee, du bist ein Genie!"
Als er den Teppich beiseite rollte, kam eine Falltür zum Vorschein. Er zog aus Leibeskräften, doch sie ließ sich nicht öffnen.
„Soll ich die Tür etwa eintreten?", fluchte er. „Das würde Onkel sicher nicht gefallen..."
Da erinnerte er sich, dass er irgendwann einmal einen Versiegelungszauber gelernt hatte, doch wenn man die Reihenfolge der Worte änderte würde sich vielleicht auch seine Wirkung umkehren... Er versuchte sein Glück und legte zwei Zeigefinger auf den silbernen Griff. Auf einmal war ein Klicken zu hören.
Jubelnd sprang er auf.
„Hast du das gesehen, Fee?! Ich bin genial! Onkel wird nie wieder an mir zweifeln!"
Neugierig öffnete er die Falltür. Ein langgezogenes Quietschen durchzog die Ahnenhalle und Jin Ling blickte in einen dunklen Schacht.
„Das sieht nicht einladend aus..." Ein kalter muffiger Geruch schlug ihm entgegen. „Pass auf, Fee, die Stufen sind schmal...!"
Vorsichtig stiegen Jin Ling und Fee die unebenen Steintreppen hinunter und ließen sich von Suihua den Weg leuchten. Bald befanden sie sich tief unter der Erde. Dunkelheit und Stille erfüllte die Umgebung und Jin Ling begann sich zu fürchten. Das kleinste Geräusch brachte ihn dazu den Kopf zu drehen.
Endlich erreichten die Treppenstufen ein Ende. Ein Gang lag vor ihnen. Als er darauf zu lief, schalteten sich die Fackeln an der Wand automatisch an. Ein roter Teppich säumte den Boden, links und rechts gab es Türen. Kostbare Gemälde hingen an den Steinwänden, nicht für jedermanns Augen bestimmt. Sie zeigten die Gründer des Yunmeng Jiang Clan in Szenen des Kampfes oder bei Banketts. Diese Bilder mussten Jahrhunderte überdauert haben.
Jin Ling wanderte durch die Räume und sah sich um, doch als er den ersten betrat, rannte er panisch wieder heraus.
„Ein Grab... es ist ein Grab...!", keuchte er. „...doch wenn hier nur Leichen sind... wo soll ich dann den Talisman finden?!"
Jin Ling versuchte sich nicht beeinträchtigen zu lassen und ging weiter. Der Raum, den er suchte, befand sich hinter der letzten Tür am Ende des Ganges.
Dieses Zimmer war nicht dunkel und leer, wie die anderen. Die Wände hatten einen dunkelroten Anstrich, goldene Kisten standen überall.
„Eine Schatzkammer!" Jin Lings Augen funkelten vor Aufregung.
An der Wand hingen exquisite Schwerter, Bogen und kostbare Geweihe – Jiang Chengs Jagd Errungenschaften. Daneben gab es einen halb offenen Kleiderschrank mit prunkvollen Gewändern. Jin Ling trat näher. Nur einmal wollte er seine Hände durch diese teuren Stoffe gleiten lassen. Er hatte selbst immer davon geträumt eine so schicke Uniform tragen zu dürfen wie sein Onkel, doch dazu fehlte ihm Rang und Namen.
Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch von etwas anderem angezogen. Er nahm es aus dem Kleiderschrank und breitete es auf dem Tisch aus. In Händen hielt er ein mit Perlen und Edelsteinen besticktes Oberteil mit langen Ärmeln. Es bestand aus einem feinen, durchscheinenden Material, doch die Stickereien waren so üppig, dass man kaum noch durchsehen konnte. Sie schlängelten und wanden sich in blattartigen Formen und floralen Elementen zu Ärmeln und Kragen hinauf. Dazu gehörte ein langer, zweilagiger Faltenrock aus transparenten Seidenbahnen. Beide Teile waren blütenweiß, wie Lilien im Sommer, beinahe fühlte sich Jin Ling geblendet im Halbdunkel des Raumes.
Er wusste nicht was dies für ein Gewand war, es unterschied sich stark von den restlichen, eher militärisch anmutenden Kleidern, die sein Onkel hier aufbewahrte. Es schien auch gar nicht Jiang Chengs Maßen zu entsprechen. Er wusste nur, dass es für sich haben wollte. Er rollte Oberteil und Rock zusammen und ließ beides in seinem Ärmel verschwinden. Vielleicht konnte er Jiang Cheng dazu überreden es ihm zu überlassen...
Danach durchwühlte er die goldenen Kisten und begegnete Schmuck, Perlen und Juwelen. Auch davon steckte er einiges ein, doch von Chengqin, dem Tiger Yin Siegel oder gar dem Talisman fehlte weiter jede Spur.
„Onkel würde solche wichtigen Dinge niemals an einem so offensichtlichen Ort verstecken...", überlegte er.
Erst jetzt bemerkte er, dass Fee gar nicht an seiner Seite war. Sie befand sich ein paar Räume weiter und schien irgendeine Fährte aufgenommen zu haben. Er beschloss nach ihr zu sehen und fand sie in einem der Grabräume. Sie stand mit den Vorderpfoten auf der Erhöhung eines Sargtisches und versuchte mit der Schnauze den Deckel zu bewegen. Es war ihr sogar schon teilweise gelungen. Jin Ling betrachtete sie kopfschüttelnd und lächelte.
„Du bist wirklich unglaublich..."
Fee hatte für Jin Ling stets Ärger bedeutet, doch das lag nicht an Fee, sondern daran, wie die Welt sie wahrnahm. Hunde hatten keinen besonders guten Ruf. Das mochte an der Tatsache liegen, dass es viele Streuner gab. Hunde standen für Straße, Schmutz und Armut. Selbst die Welt der Kultivierung wurde von diesem Bild überschattet. Wann auch immer er mit Fee auftauchte, erntete er Abneigung und Skepsis.
„Wie kannst du es wagen den Köter mit reinzubringen?!" „Beißt er?" „Nicht, dass er auf den Boden pinkelt...!"
All diese Skeptiker ahnten nicht, welches Talent in Fee schlummerte und welch ein wertvoller Helfer sie Jin Ling bei wichtigen Missionen war. Als spirituelles Geschöpf stand sie weit über den anderen Vertretern ihrer Rasse. Die wenigsten glaubten ihm, dass sie über die Fähigkeit verfügte die menschliche Sprache bis zu einem gewissen Punkt zu verstehen. Kombiniert mit ihrem feinsinnigen Geruchssinn, war sie eine Meisterdetektivin.
„Dann wollen wir mal sehen, was du gefunden hast.", sagte Jin Ling und half dem Hung den Sargdeckel beiseite zu schieben. Im Innern traf er auf einen roten Samtbezug und tatsächlich – dort lag Chenqing, aus aalglattem Bambus mit wellenartigen Einkerbungen und roter Quaste.
Was für ein unheimliches Ding, dachte Jin Ling. Sie sah aus wie ein dünner Knochen und auf einmal war ihm, als würden leise Stimmen zu ihm flüstern.
Neben Chenqing lag die goldene Skulptur eines Fuchses, der die Pfote hob, wie eine winkende Katze. Er war etwa so groß wie seine Handfläche.
„Das muss der Talisman sein...!"
Jin Ling wollte beides aus der Truhe holen, doch als er Chenqing anzufassen versuchte, wurde er von einer mächtigen, dunklen Energiewelle zurückgestoßen. Die flüsternden Stimmen schienen in diesem Augenblick den ganzen Raum zu erfüllen und er zitterte vor Angst.
„W-Was... war das?!" Er rappelte sich auf und beugte sich noch einmal über den Rand des Sarges, doch er wusste, dass er Chenqing nicht würde entwenden können. Wenn einer das konnte, dann Wei WuXian selbst. Vermutlich hatte Jiang Cheng diese Tatsache in seiner Eile nicht bedacht... mit dem Tiger Yin Siegel würde es sich ähnlich verhalten, wo auch immer es verborgen lag.
„Gehen wir, Fee.", sagte Jin Ling mit ernster Stimme. Er war froh, dass er den Sargdeckeln wieder schließen durfte. „Zumindest den Talisman haben wir. Der Rest liegt scheinbar nicht in unserer Macht..."
Jin Ling ließ den unheimlichen Keller hinter sich und als auch Fee wieder in der Ahnenhalle angekommen war, versiegelte er die Falltür. Er warf prüfende Blicke zu allen Seiten, als befürchte er von fremden Augen beobachtet zu werden, dann verließ er das Gebäude.
Er suchte einen geeigneten Ort, um den Talisman einzusetzen, doch überall standen Wachen, die jeden seiner Schritte beobachteten. Er beschloss einen schmalen Pfad zu nehmen, der in den angrenzenden Wald führte. Dort würde er ungestört sein.
Auf einer kleinen Lichtung kam er zum Stehen. Er hob die Hand, in der er den Talisman hielt und spürte bereits, wie sich der Körper des Fuchses mit spiritueller Energie füllte, doch gerade als die Wirkung einzusetzen begann, schoss ein Pfeil aus dem Nichts.
Er traf die feine Skulptur genau in ihrer Mitte und zerfetzte sie in tausend Einzelteile.
Jin Lings Augen weiteten sich in Entsetzen. Er fiel auf die Knie und tastete nach den goldenen Splittern. „Oh Nein! D-Der Talisman...!"
Fee bellte und knurrte. Jin Lings Kopf schnellte in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Drei schwarz gekleidete Gestalten näherten sich mit wehenden Gewändern. Rot leuchtende Augen begegneten ihm. Ein finsteres Lächeln.
Der Mann in der Mitte war Xue Yang, die beiden anderen Jin ZiXun und Su She.
„Na, wen haben wir denn da? Einen kleinen Herumtreiber." Xue Yangs Stimme klang auf morbide Weise verspielt, wie die eines Tigers, der sich auf die bevorstehende Hetzjagd mit seiner Beute freute.
„Fee!", rief Jin Ling, doch der Hund war bereits losgelaufen, um in die Büsche zu flüchten.
Was hast du vor?! Du würdest mich doch nicht in so einer heiklen Situation im Stich lassen...?!
Die drei Männer schenkten dem Hund keine Beachtung. Langsam umkreisten sie Jin Ling.
„Was wollt ihr?! Ich bin auf einer wichtigen Mission! Ich habe keine Zeit für euch!", rief Jin Ling mutig. Obwohl er Angst vor ihnen hatte, war er nicht auf den Mund gefallen.
„Auf einer wichtigen Mission?", wiederholte Xue Yang, doch es klang nicht, als würde er Jin Ling ernst nehmen, eher als würde er mit einem Kind sprechen. „Etwa HanGuang Jun vor meinem Fluch zu retten?"
Jin Ling erblasste, während Xue Yang in schallendes Gelächter ausbrach. „Ich erinnere mich noch genau daran, wie er auf meinen Stand zugelaufen ist, verschleiert, als würde ihn das nicht verraten! Er war so gierig auf meine Skulptur, du hättest ihn sehen müssen! Oh, ich wette sie hat ihm große Freude bereitet!"
Jin Ling wurde wütend und trat einen Schritt auf Xue Yang zu, seine Augen zu Schlitzen verengt. „HanGuang Jun ist auch nur ein Mensch! Du hast seine Schwäche schamlos für dich ausgenutzt! Du wirst dafür bezahlen!"
„Was erzählst du da, kleiner! Stehst du jetzt auch auf der Seite der Ärmelabschneider? Warst du nicht derjenige, der immer am lautesten gegen HanGuang Jun gewettert hat?", mischte sich Jin ZiXun ein und erst da bemerkte Jin Ling, dass HanGuang Jun tatsächlich gerade verteidigt hatte.
„Die Ärmelabschneider sind mir lieber als ihr! Wie kann man so schamlos sein?! Ihr mischt euch in ihr Privatleben ein, um ihnen einen Fluch anzuhängen! Und das nur, weil euch ihre Gesinnung stört! Am Ende tarnt ihr es damit eurem Clan zu dienen! Ist es nicht so?!"
„Pass auf, was du sagst, Bürschchen, wir dienen unserem Clan besser als du! Jin GuangYao hat uns befehligt, dass wir-!"
„Shhh!", zischte Xue Yang, daraufhin verstummte Jin ZiXun. So gern er ihn an der Seite hatte, denn er war stark und befolgte seine Befehle, so verfluchte er ihn manchmal für seinen ein wenig zurückgebliebenen Verstand. „Mehr muss er nicht wissen!"
Jin GuangYao. Jin Ling verstand. Das alles war ein Komplott. Lan WangJi hatte verflucht werden sollen. Warum auch immer stand er auf der Liste der Leute, die Jin GuangYao aus dem Weg räumen wollte. Xue Yang, Jin ZiXun und Su She... sie mussten gezielt nach ihm gesucht haben!
Er wollte die Beine in die Hand nehmen und loslaufen, da holte ihn Jin ZiXun ein und packte ihn an den Armen.
„Lass mich los!" Jin Ling zerrte aus Leibeskräften an Jin ZiXuns Händen, die fest um seine Gelenke versiegelt waren, wie Handschellen. „Hilfe, ich werde überfallen!", schrie er und hoffte, dass die Wachen des Lotus Pier ihn vielleicht hörten, doch im nächsten Moment wurde ihm der Mund zugebunden. Sie drückten ihn zu Boden.
„Nehmen wir ihn mit.", sagte Xue Yang. „Yao wird sich freuen sein verlorenes Kind wieder zu sehen." Su She nickte.
„Was ist mit den anderen beiden?"
„Darum kümmern wir uns morgen", meinte Xue Yang. „Ich werde meine Kreatur erst abholen, wenn sie fertig ist." Er rieb sich vorfreudig die Hände. „und was Jiang Cheng betrifft, mach dir mal keine Sorgen. Er wird als erstes gefressen."
„Wird auch Zeit, dieser Kerl war mir schon lange ein Dorn im Auge...", erwiderte Su She. Sie verließen die Lichtung.

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