Tränen

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Seit jeher erschienen die Grabhügel in einem blassen Sepia-Ton, wie ein Jahrhunderte altes Landschaftsgemälde, dessen Farben mit der Zeit zu Schwarz und Grautönen verblasst waren. Der blaue Winterhimmel verbarg sich hinter dichten Wolken, die sich über der Spitze des höchsten Berges zusammenzogen. Kalter Wind wirbelte vertrocknete Blätter durch die Luft. Das Atmen fiel schwer.
Wei WuXian stapfte durch den hohen Schnee und gab den Weg vor. Er kannte die Gegend wie seine Westentasche, denn eine Zeitlang hatte er hier gelebt, mit ehemaligen Mitgliedern des Wen Clans, bis ein Feuer unbekannten Ursprungs ihn und seine Anhänger von dort verscheucht hatte.
Danach war er durchs ganze Land gereist, um sie zu finden, doch bis heute fehlte von den meisten jede Spur. Sie gehörten zu den geächteten und hatten sich vermutlich längst übers Meer nach Dongying abgesetzt, denn dies war der einzige Ort, an dem sie sicher leben konnten.
Während er an den Monumenten vorbeiging, die mit der Zeit immer wieder unter der Herrschaft wechselnder Clans ihre Gestalten verändert hatten, erinnerte er sich an jene längst vergessene Zeit, als er hier mit Wen Ning und seiner Schwester Wen Qing gesessen, Lotus gezüchtet und mit dem ein wenig jüngeren Wen Yuan Spiele gespielt hatte.
Gerade jetzt warf Wei WuXian ihm einen vorsichtige Seitenblick zu. Auf seinem Gesicht lag ein dezenter Schmerz. Auch er schien an seine Vergangenheit zu denken.
Was wäre geschehen, hätte Lan WangJi ihn nicht damals aus den Flammen gerettet? Wäre er je entkommen und ein so anständiger junger Mann geworden wie heute?
Ein tiefes Grollen lenkte Wei WuXians Aufmerksamkeit nun zum Fuß des Berges. Er blieb abrupt stehen und Wen Ning und Lan SiZhui taten es ihm gleich. Mit geweiteten Augen betrachteten sie das, was ihnen dort begegnete.
Hunderte, möglicherweise sogar tausende Untote standen dort, doch sie waren alle in eine bestimmte Richtung gewandt und drehten ihnen den Rücken zu.
„W-Was tun sie da?", fragte Wen Ning, sein Blick wanderte vom einen zum anderen, doch die Anzahl der Körper machte es unmöglich etwas zu erkennen.
Wei WuXians Augen verengten sich. „Sie scheinen etwas zu untersuchen... Greift nicht an! Mischen wir uns unter sie!" Lan SiZhui nickte still und so nahmen sie eine gebückte Haltung an und schlichen sich auf Zehenspitzen näher.
Wei WuXian überkreuzte Zeige- und Mittelfinger seiner linken und rechten Hand, rote Magie sammelte sich, als seine Finger sich berührten, und mit einer ausschweifenden Bewegung stieß er sie zu beiden Seiten. Ein Zauber legte sich über Wen Ning, Lan SiZhui und ihn selbst.
„Sie werden nun weder euren Geruch noch eure Körpertemperatur wahrnehmen können.", flüsterte er und schlängelte sich an den torkelnden Toten vorbei. Lan SiZhuis Gesicht war geprägt von Ekel, denn sie stanken nach verwesendem Fleisch, einigen fehlten Arme oder Beine, einer hatte sogar keinen Kopf mehr. Für einen Moment musste er anhalten und sich den flauen Magen halten. Da tauchte Wen Ning hinter ihm auf.
„Sieh nicht hin, A-Yuan." Er legte eine Hand auf Lan SiZhuis Schulter. Wen Nings Worte halfen ihm sich wieder aufzurappeln und so folgten sie Wei WuXian weiter vorwärts.
Sie hatten die Quelle des Übels fast erreicht, vielleicht fünfzehn Meter trennten sie davon zu erfahren, was das Böse in so großem Maße anlockte, da wandte sich plötzlich einer der weißäugigen Leichen in ihre Richtung.
Wei WuXian blieb wie angewurzelt stehen. Zuerst glaubte er nicht, dass der schwarzhaarige Mann mit dem blutverschmierten Gesicht ihn tatsächlich wahrnahm. Wahrscheinlich hatte er irgendetwas anderes gehört. Doch dann, wenige Sekunden später, drehten sich die Köpfe aller tausend Leichen in ihre Richtung und Wei WuXians Herz fing an zu rasen.
„W-Wei Xiong!" Lan SiZhuis Furcht war so groß, dass er vergaß seinen Namen vollständig auszusprechen. „W-Was geschieht?! Wieso starren sie uns an?!"
Kalter Schweiß stand auf Wei WuXians Stirn. „Kämpft!", schrie er und gleich darauf hagelte der erste Angriff auf ihn hernieder. Lan SiZhui und Wen Ning wurden ebenfalls angegriffen. Hastig tastete Wei WuXian nach seiner Flöte, doch plötzlich rissen unzählige Hände an seinem Gewand. Er schaffte es gerade noch den Anfang einer Melodie zu spielen, die Wen Nings Kräfte entfesselte. Da sie nicht beendet werden konnte, rief sie jedoch nicht seine vollständige Macht hervor. Schon war die Flöte aus Wei WuXians Händen gezerrt und entzweigebrochen worden. In seiner Verzweiflung wünschte er sich Chenqing, der er vor langer Zeit abgeschworen hatte. Sie lag irgendwo tief in den Grabstätten des Yunmeng Jiang Clans, damit er nie mehr in Versuchung zu geriet sie zu benutzen.
Er hatte sich eingebildet sein Talent allein würde ausreichen, um gegen die Bedrohung der Grabhügel anzukommen, doch nun musste er mit Schrecken feststellen, dass seine spirituellen Kräfte nicht einmal mehr ausreichten ihre Tarnung aufrecht zu erhalten.
Er schlug und trat aus Leibeskräften um sich und brachte damit einige Körper zu Fall, doch lange konnte er nicht auf diese Weise durchhalten, nicht gegen abertausende Untote.
Zumindest Wen Ning und Lan SiZhui konnten sich einigermaßen verteidigen. Lan SiZhui zeigte ein paar beeindruckende Verteidigungstechniken. Dabei schien seine sanfte und schüchterne Art sich in Luft auf zu lösen. Die Augenbrauen tief in die Stirn gezogen, spielte er auf seiner Guqin erinnerte an HanGuang Jun. Er schmetterte den Leichen blaue Energiewellen entgegen, sodass sie reihenweise umstürzten. Ein größer werdender Radius bildete sich um ihn.
Wen Ning packte seine Angreifer mit beiden Händen und warf sie in hohem Bogen in die Menge. Lediglich Wei WuXian war dem Chaos hilflos ausgeliefert. So beschäftigt mit ihrem eigenen Kampf, wurden sie nicht darauf aufmerksam wie die Leichen Wei WuXians Körper einsogen und verschlangen. Sie zogen an seinen Haaren, gruben die Zähne in seine Arme und zerkratzen sein Gesicht. Seine Schreie wurden unter ihren Körpern erstickt. Er war ihm als wollten sie ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Langsam, aber sicher sah er seinen eigenen Tod heranrollen.
Bittersüß war der Schmerz im Gedanken an Lan WangJi, dem er nicht hatte Lebewohl sagen können. Sein Körper wurde taub und kraftlos, er sah seine eigene nackte Haut unter dem zerfetzten Stoff seines Gewandes hervorscheinen, Blut überall. Seine Sicht verschwamm. Tränen bildeten sich in seinen Augen, ihr Salz brannte in seinen Wunden...
„Lan Zhan... Ich wusste ich hätte dich nicht gehen lassen sollen...! Wir hätten uns niemals trennen dürfen...! Ich bereue es Lan Zhan, ich bereue es so sehr... wie soll ich dir jetzt Lebewohl sagen...?"

„Wo ist Wei Xiong?!", rief Lan SiZhui erschrocken, sein Kopf drehte sich zu Wen Ning.
„Wir haben ihn verloren! Junger Meister Wei?!"
Wen Ning schrie verzweifelt und suchte den Platz in Windeseile mit den Augen ab, doch wo man auch hinblickte sah man nur wandelnde Tote. Seine Augen verharrten an einer Stelle, wo sich die zappelnden Körper höher und höher übereinanderstapelten, um etwas unter sich zu begraben. Als er einen roten Rockzipfel hervorblicken sah, blieb sein Herz stehen.
„Meister W-Wei!" Er wollte auf ihn zu stürmen, doch erneute Angreifer hielten ihn auf. Er schlug mit einer Wucht auf sie ein, die ihre Schädel wie Melonen zerplatzen ließ und endlich stand er vor dem Leichenhaufen. Er begann die Untoten nacheinander herunter zu befördern und zu töten, Lan SiZhui kam ihm zu Hilfe, doch in beiden herrschte eine schreckliche Vorahnung.
Wei WuXian hatte keinen schwachen Körper, er hielt einiges aus, doch würde er einer so großen Masse an Körper standhalten können? Wären seine Knochen nicht längst zertrümmert?

„Wei WuXian" Eine warme Frauenstimme hallte durch einen schwerelosen, goldgelb erleuchteten Raum. Wei WuXians Seele trieb umher wie eine Blüte auf der Oberfläche eines Sees. Er war nackt, umhüllt von sommerlicher Luft.
„Wer bist du?" Er bemerkte verwundert, dass seine Stimme nicht aus seinem Mund, sondern eher aus der Umgebung zu kommen schien.
„Erkennst du mich denn nicht?"
Da bildete sich ein Lächeln auf Wei WuXians Lippen. „Natürlich...! Wie könnte ich-?! Hier bist du also...! Was für eine Erleichterung!" Seine langen Wimpern blinzelten ins helle Licht. „Willst du mir nicht dein Gesicht zeigen, nachdem wir uns so lange nicht mehr gesehen haben?"
„Mein Körper ist längst zerstört, meine Seele jedoch lebt weiter bis ich meine Aufgabe erfüllt habe."
„Deine Aufgabe? Was ist deine Aufgabe? Vielleicht kann ich dir dabei helfen!" Ein Lächeln bildete sich im Raum, es war nicht sichtbar, aber fühlbar.
„Dein Körper ist schwach, Wei WuXian. Du hast der dunklen Seite abgeschworen und einen rechtschaffenen Weg gewählt", begann sie. „Dieser Weg bedeutet großes Leid für dich, am Ende sogar deinen Tod und dennoch nimmst du ihn in Kauf."
„Na na, meine liebe, übertreib' mal nicht! Ich bin kein Held...!", lachte Wei WuXian.
„Du hast andere immer über dich selbst gestellt. Du hast deinen Bruder gerettet, obwohl es bedeutete, dich selbst zu opfern. Du hast uns geholfen, obwohl es bedeutete von der Gesellschaft verachtet und ausgestoßen zu werden. Wenn nicht du ein Held bist, Wei WuXian, wer ist es dann?"
„... auf was willst du hinaus?", fragte Wei WuXian, der allmählich vermutete, dass sich etwas hinter diesen Komplimenten verbarg, das er schon viel früher hätte erkennen müssen. „Du hast mich doch nicht absichtlich hierhergelockt, oder...? Hast du die Untoten angelockt? Sollte alles so enden, damit du mich hier treffen konntest...?"
„Wei WuXian. Ich werde nun gehen.", antwortete ihre andächtige Stimme, das goldene Licht schien heller zu werden. Wei WuXian musste sich die Hand vor Augen halten, um nicht zu erblinden.
„W-Warte! Geh nicht! Ich brauche Antworten! W-Wen Qing...! Wen Qing...!"
Da ergriff ihn das goldene Licht. Wie eine Sonne kam es auf ihn zu bis er vollständig davon verschlungen wurde. Er fürchtete die Hitze, den Schmerz, der entstehen konnte, wenn er damit in Verbindung geriet. Tatsächlich tat es weh, doch nicht, wie er es erwartet hatte. Nicht, wie eine spirituelle Waffe. Irgendwo tief in seiner Brust schien sein Herz für einen Augenblick entzwei zu brechen. Er fühlte Tränen in sich aufsteigen, doch im selben Moment schien etwas in ihm vollkommen und abgerundet zu werden. Eine angenehme Wärme durchflutete ihn und auf einmal wurden seine Tränen zu Freudentränen. Ein unsägliches Glück ergriff ihn.

Lan SiZhui und Wen Ning wurden von einer ungeahnten Energiewelle zur Seite geschleudert. Die Toten, die Wei WuXian unter sich begraben hatten, spritzten zur Seite wie Felsbrocken bei einer Explosion und hinterließen einen Krater, während sich ein heller Lichtball ausbreitete.
Als die Energie sich entlud, fegte sie über die Landschaft und brachte alle tausend Angreifer dazu ihr Gleichgewicht zu verlieren. Wie ein Kartenhaus klappten sie in sich zusammen.
Wen Ning und Lan SiZhui knieten am Boden, ihre Gewänder beschmutzt von Blut, Matsch und Schnee. Sie hielten den Atem an und starrten zur aufgerissenen Erde. Langsam rappelten sie sich auf und traten näher. Lan SiZhui blickte hinunter in die Tiefe.
Der Krater hatte einen Radius von etwa zehn Metern und war mindestens genauso tief. Dünne Rauchschwaden zogen auf. Keiner wagte es etwas zu sagen, doch Wen Ning sah Lan SiZhuis Schultern zittern. Er sank auf die Knie und verbarg den Kopf in seiner Armbeuge. Auch Wen Ning fühlte einen Kloß im Hals. Er beugte sich hinunter und streichelte Lan SiZhuis Schultern.
Verzweifelt schluchzend lehnte er den Kopf an Wen Nings Brust.
„W...Wei... Xiong... E-Er...! Er hat sich... für uns geopfert...!" Wen Nings Hand strich tröstend durch Lan SiZhuis Haar, obwohl er dasselbe Leid empfand.
Wei WuXian, sein Meister, war tot, sein Lebenssinn plötzlich dahin. Nun gab es niemanden mehr, der ihm die Richtung wies...
„So ist er schon immer gewesen...", flüsterte Wen Ning und während er Lan SiZhui fest an sich drückte, verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Das matte Sepia verschmierte.
Plötzlich hob Lan SiZhui den Kopf. Etwas Feuchtes hatte seine Nasenspitze berührt. Seine runden Augen weiteten sich.
„A-Ning", sagte er mit wunder Kehle. „D-Du... du weinst ja...!"
Wen Ning erschrak und betastete ungläubig seine Wange. Tatsächlich. Sie waren feucht! Echte Tränen strömten hinab, es wollte gar kein Ende nehmen!
„W-Wie ist das möglich...?!", rief er und empfand eine ungeheure Befreiung. Sein Schmerz, all die Jahre unterdrückt, hatte nun endlich die Möglichkeit aus ihm herauszufließen. Es war ein schrecklich schönes Gefühl mit Lan SiZhui zu weinen.

Das Geräusch von scharrender Erde und angestrengtem Keuchen unterbrach sie. Dazwischen lag ein kaum merkliches Rascheln von Papier und ein weit entferntes, hallendes Fluchen.
„Kannst du nicht ein Bisschen stärker ziehen?! Wenn du so weitermachst sind wir hier noch Jahre beschäftigt!"
Als die beiden die Köpfe drehten fiel ihr Blicke auf ein kleines Pergamentfigürchen. Auf seiner Brust trug es einen roten Talisman, in beiden Händen hielt es ein Seil. Von den beiden bemerkt, löste es die rechte Hand vom Seil, um ihnen fröhlich zu winken. Daraufhin rutschte das Seil einige Meter in die Tiefe und ein lauter Schrei kam von unten, gefolgt von einem dumpfen Aufprall.
Wen Ning und Lan ZiShui sprangen auf. „Wei WuXian!?" Ihre Stimmen hallten zum Boden des Kraters.
„Na endlich! Holt mich hier raus, auf meinen Kumpel hier ist kein Verlass!" Das Papiermännchen verschränkte beleidigt die Arme, während Wen Ning und Lan SiZhui vor Freude und Erleichterung in Lachen ausbrachen.
„A-Aber Meister Wei! Er besteht nur aus Papier, wie soll er Euch, einen ausgewachsenen Mann, allein hinaufziehen?!"
„Schon gut, schon gut, der Plan hat gewisse Schwächen!", raunte Wei WuXian. „Nun macht schon, es ist kalt hier unten! Ich will mir keine Erkältung zu gezogen haben, wenn Lan Zhan zurückkommt!"
Also warfen Wen Ning und Lan SiZhui das Seil hinunter, sodass Wei WuXian daran hochklettern konnte. Als er endlich wieder neben ihnen stand, staunten sie nicht schlecht.
Er sah aus wie neu geboren, trug keine einzige Verletzung, ganz im Gegenteil. Er schien makelloser als je zuvor, beinahe übernatürlich. Sein Haar wirkte ein Stück länger, es glänzte seidig. Sein Gewand war sauber und detailreicher verziert als zuvor. Eine schwarze Stickerei schlängelte sich in Form eines Drachens über seinen rechten Ärmel. War sie zuvor schon dort gewesen?
Die beiden tauschten verwunderte Blicke. „Wir dachten Ihr seid tot...", begann Lan SiZhui. „Wie könnt Ihr unversehrt sein, nachdem Euch so viele Marionetten unter sich begraben haben?"
Wei WuXian überlegte. „Haben sie das? Merkwürdig... Ich erinnere mich gar nicht. Wir haben uns an ihnen vorbei geschlichen und Wen Qings Grabstätte gefunden. Dann ist sie aufgetaucht. Sie hat alles inszeniert, um uns zu treffen. Sie wollte ein letztes Mal mit uns sprechen und uns Lebewohl sagen, deshalb hat sie die Untoten dort versammelt. Es war schön sie noch einmal zu sehen, findet ihr nicht? Ach, ich wusste von Anfang an, dass die Ansammlung der Leichen keine große Sache sein würde...!"
Pfeifend ging er voran, sein Rock flatterte im Wind, während die beiden ihm folgten. Keiner von ihnen konnte sich erklären was geschehen war und wieso sich Wei WuXians Erinnerung so stark von den realen Ereignissen unterschied, doch irgendetwas schien ihn zu umgeben, etwas, das lange Zeit nicht da gewesen war...

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