Das Turnier

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Das Turnier des Gusu Lan Clan war ein Spektakel, das viele Zuschauer aus Jiangnan und über die Grenzen des Landes anlockte.
Der Gusu Lan Clan hatte seit jeher das Interesse der Menschen geweckt. In bürgerlichen Kreisen gab es viele Geschichten und Legenden, die sich um das abenteuerliche Leben von Kultivisten drehten, doch über keinen anderen Clan wurde mehr spekuliert, philosophiert und geträumt, als über den Gusu Lan Clan.
Die Kultivisten des Lan Clan galten als edel und unantastbar. Jeder, der einer dieser schönen, graziösen Gestalten je persönlich begegnet war, konnte dies bestätigen.
Junge Mädchen kamen von überall her, um die hübschen Männer aus der Ferne kämpfen zu sehen, doch auch für das männliche Publikum gab es gute Unterhaltung.
Abgesehen von Duellen jeglicher Art – spirituell oder mit dem Schwert – war dies die einzige Gelegenheit des Jahres auch die weiblichen Kultivisten von Gusu zu sehen.

Zu Beginn des Turniers hielt Lan XiChen eine Rede. Er bedankte sich für das Erscheinen der Zuschauer und bei seinen Clanmitgliedern.
Wei WuXian stand, gemeinsam mit Lan SiZhui und anderen Kultivisten des Lan Clan, in der ersten Reihe. Die Männer waren in Weiß und Hellblau gekleidet, ihre Haare mit silbern verschnörkelten Spangen fixiert.
Wei WuXian trug nun zum ersten Mal das Stirnband des Gusu Lan Clan. Als ihm die dünne Seidenschleife umgebunden worden war, hatte er an die vielen Situationen denken müssen, in denen er Scherze mit Lan WangJis Stirnband getrieben hatte. Nie wäre ihm in den Sinn gekommen, dass er es eines Tages selbst tragen würde.
Ein besonderes Gefühl von Integrität ging damit einher. Das Akzeptieren seiner neuen Identität und der Bürde, die in Zukunft auf seinen Schultern lastete.
Ich bin jetzt einer von ihnen. Ich bin ein Lan Kultivist! Ich muss dem Clan Ehre bereiten! Nicht nur für Lan Zhan, auch für mich selbst!
In Gedanken ging er jede einzelne Regel durch.
Sei elegant. Sei vorbildlich. Gebe stets dein bestes.

Beim Aufruf seines Namens verbeugte er sich anmutig. Die Menge hielt den Atem an. Er war berühmt berüchtigt...
„Ist das nicht Wei WuXian, der Yiling Patriarch...?!" „Ja, er hat Dämonen befehligt...!" „...und diese Wen Hunde beschützt...!" „Wie kann einer wie er jetzt beim Gusu Lan Clan sein...?!" „Es heißt er habe eine verbotene Beziehung mit HanGuang Jun...!" „Eine Beziehung?! Doch nicht etwa...!?" „Ja, ganz recht, der Gusu Lan Clan hat Wei WuXian deswegen aufgenommen...! Er steht jetzt unter ihrem Schutz." „Der Clan kann doch eine so befremdliche Verbindung nicht unterstützen...!" „Das glaube ich auch nicht! Ihr Tratschweiber verbreitet nur wieder Gerüchte!" „Wieso nimmt er überhaupt am Turnier teil? Es heißt er könne gar nicht mit dem Schwert umgehen...!" „Stimmt, normalerweise benutzt er eine Flöte...!" „Na das kann ja heiter werden!"
Wei WuXian verstand die Lästereien der Zuschauer sehr deutlich, doch sie verletzten ihn nicht. Sein ganzes Leben lang hatte er Abneigung dafür erfahren, wer er war und welche Entscheidungen er traf, und doch hatte es ihn nie davon abgehalten erneut seiner inneren Stimme zu folgen.

Als die weiblichen Kultivisten vorgestellt wurden und sich der Reihe nach verbeugten, wurde er aus den Gedanken gerissen. Wie viele Anwesende sah er sie zum ersten Mal in seinem Leben.
Genau wie die männlichen Mitglieder des Lan Clan waren sie wunderschön. Hochgewachsene, schlanke, elfengleiche Wesen mit reinen Gesichtern und langen Haaren.
Eine merkwürdige Kälte lag in all ihren Zügen, Präzision in jeder Geste. Sie hatten dieselbe Züchtigung erfahren wie die Männer und schienen sich auch sonst nur durch anatomische Details von ihnen zu unterscheiden.
Wei WuXian applaudierte ihnen mit roten Wangen.

„Seht nur", sagte Jin GuangYao. Er saß neben Nie Huaisang auf der Zuschauertribüne für hochrangige Gäste und verbarg sein Gesicht hinter einem verzierten Fächer. „Der Plan scheint bereits aufzugehen. Er ist ganz entzückt von den Kultivistinnen!"
Nie Huaisang reckte den Hals, um besser sehen zu können, doch vor ihm saß ein Mann mit Hut, und er war leider nicht der größte. „Ja, Ihr habt Recht!", sagte er, obwohl er noch immer keinen vernünftigen Blick auf das Geschehen hatte erhaschen können.
„Welche ist denn die junge Dame, die Ihr eingeschleust habt, Huaisang?"
Endlich beugte sich der Mann zur Seite und Nie Huaisang war in der Lage seine Augen über den Platz schweifen zu lassen. Das entsprechende Mädchen stand rechts außen: Eine zierliche Person mit rundlichem Gesicht, ihre Körpergröße reichte nicht ganz an die der restlichen Kultivistinnen des Gusu Lan Clan heran. Außerdem erschienen ihre Züge weicher und fraulicher.
Als Nie Huaisang mit dem Finger auf sie deutete nickte Jin GuangYao zufrieden.
„Eine gute Wahl."
Die beiden bemerkten jedoch nicht, dass Wei WuXian eine ganz andere beobachtete, die vom ersten Augenblick seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Er war fasziniert von ihr. Nie zuvor hatte er eine solche Frau gesehen. Die Augenbrauen tief ins Gesicht gezogen, wirkte sie kühl und unnahbar. Sein Herz schlug schneller, wenn er sie ansah, wenngleich er nicht sofort wusste wieso.
Als sie ihn ertappte, blickte er errötend zu Boden. Sie schien verärgert, doch ihre Reaktion hielt Wei WuXian nicht davon ab sie weiter zu beobachten.

Das Turnier untergliederte sich in drei verschiedene Themenbereiche. Spirituelle Kultivierung, Bogenschießen und Schwertkampf.
Im ersten Teil duellierten sich die Kultivisten auf ihren jeweiligen Musikinstrumenten. Wei WuXian hatte von Lan XiChen eine neue Flöte bekommen und trat gegen einen Kultivisten an, der Guqin spielte. Er konnte den Kampf für sich entscheiden.
Sein Talent im Bogenschießen hatte ihn, selbst in Momenten größter Schwäche, nie im Stich gelassen, und auch im Schwertkampf gehörte er zu den Besten.
Es gab mehrere Runden, bis am Ende zwei Finalisten feststanden.

Wieder hielt Lan XiChen eine Rede. Er lobte den Einsatz der Teilnehmer und ermutigte sie nicht aufzugeben, selbst wenn sie dieses Mal nicht zu den besten gehörten.
Die Hälfte seiner Worte plätscherte an Wei WuXian vorbei wie der leise Strom eines Baches. Nur eine Sache interessierte ihn: war er gut genug gewesen? Hatten seine Fähigkeiten ausgereicht, um sich durchzusetzen?
Als er seinen Namen hörte, untermalt von tosendem Applaus, blieb ihm fast das Herz stehen. Überrascht blickte er in die begeisterten Gesichter des Publikums. Die Menschen waren von ihren Bänken aufgesprungen, um ihm zu zujubeln. Dieselben, die zuvor über ihn hergezogen hatten klatschten ihm nun Beifall.
Ein strahlendes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er aus der Reihe der Kultivisten hervortrat und sich vor ihnen verbeugte.
Jin GuangYao schüttelte ungläubig den Kopf, während Nie Huaisang neben ihm auf und ab sprang und womöglich zu denjenigen gehörte, die am lautesten jubelten.
„Die zweite Finalistin ist Lan Lei!", rief Lan XiChen anschließend und hervor trat die schöne, unnahbare Frau die Wei WuXian von Anfang an als besonders empfunden hatte.
Er hielt den Atem an, als sie sich verbeugte, und auf einmal wusste er, wieso er solches Herzklopfen bekam, wenn er sie ansah. Sie hatte eine unglaubliche, beinahe furchterregende Ähnlichkeit mit Lan WangJi.
Nun standen sich die beiden Finalisten gegenüber, bereit einen Kampf auf Leben und Tod zu führen. Die Augen von Lan Lei gruben sich in Wei WuXians, als wolle sie ihn von innen aushöhlen. Sie war fest entschlossen den finalen Kampf für sich zu entscheiden.
„Lan Lei also", sagte Wei WuXian grinsend. „Du bist ziemlich gut... Ich frage mich wieso wir nie voneinander gehört haben?"
Ihre Antwort bestand aus einem unbarmherzigen Schwerthieb, der direkt auf Suibians Klinge landete. Ein lautes Klirren war zu hören.
Wahnsinn, was für ein Schlag...!
Das Publikum hielt den Atem an. Lan Lei drehte sich elegant im Kreis, immer wieder überraschte sie mit unerwarteten Attacken und großer Stärke. Wei WuXian wich zurück und wischte sich über die verschwitzte Stirn.
Sie wird mir doch nicht etwa überlegen sein...?
Doch so war es. Sie schien schneller, stärker, konzentrierter als er. Einmal, zweimal brachte sie ihn zum Taumeln und schließlich verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden.
Als sie über ihm kniete, ihr weißes Gewand im Wind wehte und das glatte schwarze Haar über ihre Schultern hinabfiel, verschob sich die Realität, ihre Gesichtszüge veränderten sich.

„Besiegt.", sagte Lan WangJi. Auf seinen Lippen bildete sich ein kaum merkliches Grinsen. Er steckte BiChen zurück in seine Scheide, während Wei WuXians unbeholfene Hände versuchten sich den Staub von seiner Montur zu klopfen.
„Unfair!", raunte er. „HanGuang Jun, du hast geschummelt! Wie kannst du mich jedes Mal besiegen!? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!"
„Du übst nicht genug", entgegnete Lan WangJi. „Talent allein schafft keine guten Krieger."
„Besserwisser! Geh von mir runter, mir tut der A... ich meine mir tut der Rücken weh!" Doch Lan WangJi rührte sich nicht von der Stelle. „Lan Zhan, was soll das? Lass mich los!"
Lan WangJi schien andere Pläne zu verfolgen. Er packte Wei WuXians Handgelenke und drückte sie in den trockenen Sand des Trainingsplatzes. „Besiegt.", schnurrte er, sein Gesicht nun ganz nah über Wei WuXians.
„HanGuang Jun...!", staunte Wei WuXian, seine Augen begannen zu leuchten. „Du überraschst mich immer wieder... Du wirst doch nicht etwa hier auf dem Trainingsgelände über mich herfallen wollen...?"
Lan WangJis weiche Zunge leckte zärtlich und heiß Wei WuXians Kinn hinauf und über seine volle Unterlippe. Seine Mandelaugen funkelten und er flüsterte „Fang mich...!"
Im nächsten Moment hatte er Wei WuXian losgelassen und war davongelaufen. Wei WuXians inneres Feuer war geweckt, er sprang auf und rannte hinterher.

„Lan... Lan Zhan...", murmelte er, dann verwandelte sich Lan WangJis Gesicht zurück und im nächsten Moment fühlte er die kalte Klinge von Lan Leis Schwertes an seinem Hals.
„Sieg! Sieg für Lan Lei!", rief Lan XiChen und damit war der Kampf entschieden.
Lan Lei streckte Wei WuXian die Hand entgegen und er nahm sie ein wenig benommen entgegen. Selbst jetzt, da sie gewonnen hatte, zeigte sie keine Regung.
Beide verbeugten sich noch einmal vor dem Publikum, doch es war Lan Lei, die am Ende den größten Beifall bekam.
Als Wei WuXian in die Reihen der Kultivisten zurücktrat, legte Lan XiChen eine Hand auf seine Schulter. „Mach dir nichts draus, du warst unglaublich!"
„Unglaublich? Wer ist diese Frau?! Wie kann sie so kämpfen...?!" Lan XiChen zögerte einen Momentlang, dann sagte er:
„Triff mich später in meinem Zimmer."
Wei WuXian war überrascht über den geheimnisvollen Unterton in Lan XiChens Stimme. Wusste er etwas über diese Frau und spielte es womöglich eine Rolle für Wei WuXians Leben? Er hätte gern noch einmal nachgefragt, doch die Teilnehmer des Turniers und auch die Besucher zerstreuten sich nun in alle Richtungen.
Das Turnier endete und Jin GuangYao stieß zu ihnen.
„XiChen, mein Freund!" Jin GuangYao begrüßte ihn mit einer leichten Umarmung.
Wei WuXian hatte noch nie jemanden gesehen, der solch hauchdünne Umarmungen verteilte. Vielleicht lag es an seiner zierlichen Gestalt. Da er selbst fast nichts wog, mussten wohl auch seine Umarmungen nichts wiegen, überlegte Wei WuXian.
Die Umarmung an sich jedoch rief ein gewisses Unbehagen in ihm hervor. Ihm war seit jeher schleierhaft gewesen wieso Lan XiChen sich so gut mit Jin GuangYao verstand...
„... eine großartige Vorstellung! Spannend bis zum Ende! Ihr habt wirklich sagenhafte Kriegerinninnen! Ein Jammer, dass man sie so streng vor der Welt geheim hält", fuhr er fort. „Wei WuXian, ich muss schon sagen, Ihr wart auch nicht schlecht. Ich hatte Schlimmeres erwartet."
Was als Kompliment gemeint war, klang in Wei WuXians Ohren wie eine verschleierte Beleidigung und so blieb er schlagfertig.
„Was könnte man schon von einem Mann erwarten, der die Grabhügel ohne große Mithilfe von abertausend wandelnden Toten befreit."
„Ach ja, diese Sache! Ich hatte sie fast vergessen! Glückwunsch auch dazu, Wei WuXian, Ihr scheint dem Gusu Lan Clan im Augenblick alle Ehre zu machen."
Er hat es fast vergessen! Diese Angelegenheit, die ich auf die leichte Schulter genommen habe! Die ich, hochmütig, wie man es mir nachsagt, völlig unterschätzt habe! Jin GuangYao, wieso darf ich deinem kläglichen Dasein nicht endlich ein Ende bereiten...!
Wei WuXian knirschte mit den Zähnen. Lan XiChen bemerkte seine aufkommende Wut und ging dazwischen.
„Ich glaube Nie Huaisang möchte uns jemanden vorstellen."
Nie Huaisang kam mit einem Mädchen zu ihnen. Es handelte sich um eine ganz bestimmte, kleinwüchsige Person mit weichen Gesichtszügen. Als sie Jin GuangYao, Lan XiChen und Wei WuXian erblickte, bildete sich ein Lächeln auf ihren Lippen. Sie verbeugte sich.
„Mein Name ist Lan ZhiRuo, freut mich Euch kennen zu lernen.", sagte sie, obwohl Wei WuXian scheinbar der einzige war, der nichts über sie wusste.
„XiChen, ich habe dir ja bereits von ihr erzählt und du hast sie freundlich aufgenommen, obwohl sie Probleme mit ihrem Bein hat. Sie war einst eine der besten Kultivistinnen des Lanling Jin Clans, bis sie sich bei einem schweren Kampf eine Fußverletzung zugezogen hat, die es ihr unmöglich macht, ihre volle Stärke zurückzuerlangen.
Ich bin dankbar, dass sie wieder einen Platz in der Welt der Kultivierung gefunden hat! Sie verdient es nicht so früh in den Ruhestand zu gehen zu müssen, dafür hat sie eindeutig zu viel Talent."
Die Geschichte machte Wei WuXian sofort misstrauisch. „Wieso habt Ihr sie nicht im Lanling Jin Clan aufgenommen?"
Lan XiChen schien die Bemerkung unhöflich zu finden und stieß Wei WuXian in die Seite.
„Ich begeisterte mich seit jeher mehr für die Künste des Gusu Lan Clan, die Kraft der Musik und die Mächte der Heilung.", erwiderte Lan ZhiRuo, ihre freundlichen Augen in Wei WuXians gerichtet. „Der Lanling Jin Clan legt viel Wert auf Schwertkampf und agile Techniken, die ich wegen meines Beines nicht mehr ausführen kann. Im Gusu Lan Clan bin ich besser aufgehoben."
Dann begannen sich Jin GuangYao und Lan XiChen über politische Dinge zu unterhalten, während Nie Huaisang versuchte Lan ZhiRuo und Wei WuXian ins Gespräch zu bringen.
„Wei WuXian stammt auch nicht aus Gusu", begann er, doch das war ein denkbar schlechter Themenbeginn.
„Stimmt", sagte Wei WuXian. „Ich bin nur wegen meinem Freund hier. Hast du Lust zu unserer Hochzeit zu kommen? Er ist gerade noch unterwegs, aber ich schreibe schon an der Gästeliste."
Diese provokanten Worte ließen sowohl Nie Huaisang als auch Lan ZhiRuo verstummen.
Wei WuXian wurde das Gespräch zu langweilig, etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Lan Lei schien sich mit den anderen Kultivistinnen zu versammeln, um aufzubrechen. Die Sonne stand bereits sehr tief.
Ohne ein Wort des Abschiedes schob er Nie Huaisang und Lan ZhiRuo beiseite und ging auf Lan Lei zu. Wei WuXian blieb in einigem Sicherheitsabstand vor ihr stehen und räusperte sich. Als sie keine Reaktion zeigte sagte er vorsichtig:
„Ihr wollt schon gehen? Ich hatte gehofft Ihr würdet vielleicht noch kurz mit mir anstoßen... auf ein gelungenes Duell."
Sie drehte sich zu ihm um. „Trinken ist im Gusu Lan Clan verboten."
Der Satz schlug Wei WuXian wie eine Faust ins Gesicht und er fühlte unbändige Emotionen in sich aufsteigen. Die ganze Zeit hatte er es so erfolgreich verdrängt, doch auf einmal vermisste Lan WangJi so sehr, dass jede Faser seines Körpers schmerzte.
„Ihr... Ihr seid HanGuang Jun wirklich sehr ähnlich.", brachte er hervor.
Ein dezenter Schmerz legte sich auf ihr Gesicht. Sie schien sich umdrehen und ihn stehen lassen zu wollen, doch etwas hielt sie auf.
Sehr langsam hob sie nun die Augenlider, ohne Wei WuXian vollständig anzusehen.
„Wo ist er...?"
„In Yunmeng bei meinem Bruder", erklärte Wei WuXian. „Kennt ihr HanGuang Jun? Steht er Euch nahe?"
Sie schwieg.
„Wenn Ihr wollt lade ich Euch zu unserer Hochzeit ein.", sprudelte es aus Wei WuXian heraus. Plötzlich sah sie ihn direkt an, ihre Fassade fiel.
„Lan Zhan wird heiraten...? Dich...?"
Lan Zhan, sie hat Lan Zhan gesagt, ganz von allein! So wird Lan Zhan sonst nur von mir genannt...! Ist sie tatsächlich mit ihm vertraut? Doch wieso hat er nie von ihr erzählt, wäre so eine Person nicht erwähnenswert...?
„Wenn du eine Freundin von ihm bist, wäre ich froh dich unter den Gästen zu sehen", sagte Wei WuXian. „Bisher stehen viele Freunde von mir darauf, aber fast noch keine von ihm. Ich möchte, dass er am Tag seiner Hochzeit von Menschen umgeben ist, die er mag."
Bei diesen Worten wandte sie den Kopf ab. „Ich glaube nicht, dass ich kommen kann.", sagte sie dann und Wei WuXian sah nur noch ihr schwarzes Haar im Wind wehen.
Ohne weitere Worte ließ sie Wei WuXian stehen, der ihr mit großer Verwunderung nachsah.

Als der Abend anbrach zögerte Wei WuXian nicht, wie geplant das Zimmer von Lan XiChen aufzusuchen. Er saß an einem Tisch und spielte mit geschlossenen Augen auf einer hellblauen Guqin. Als er Wei WuXian bemerkte unterbrach er sein Lied.
Wei WuXian setzte sich im Schneidersitz vor ihn und sah ihn erwartungsvoll an, wie ein Kind, das einem großen Geheimnis auf der Spur war.
„Ich bin gespannt, was du zu erzählen hast, XiChen! Ich habe mir viele Gedanken gemacht, doch bin zu keinem Ergebnis gekommen! Also wer ist diese Frau namens Lan Lei?"
Lan XiChen seufzte. „Ich hätte dir schon viel früher davon erzählen müssen, Wei WuXian."
Er goss sich einen Tee ein und reichte Wei WuXian eine zweite Porzellanschüssel. „Ich hoffe du hast etwas Zeit mitgebracht..."
„Ich habe nichts weiter vor! Erzähl mir alles!" Während die heiße, bittere Flüssigkeit seinen Hals hinunterfloss, lauschte er Lan XiChens Worten.
„WangJi und ich sind nicht die einzigen Kinder unserer Eltern. Die Wahrheit ist, WangJi kam als Zwilling zur Welt.", sagte er und Wei WuXian verschluckte sich an seinem Tee. „Als die beiden zur Welt kamen, sahen sie identisch aus, nur die Merkmale ihrer Körper unterschieden sich. Auch ihr Verhalten ähnelte sich. Dementsprechend hingen sie sehr aneinander, stärker als andere Geschwister. Man hätte sie als unzertrennlich bezeichnen können. Wo WangJi war, war auch Lei. WangJi war die linke, Lei die rechte Hand.
Wir lebten zusammen, bis wir das sechste Lebensjahr erreichten, dann begann unsere Ausbildung und WangJi und Lei wurden voneinander getrennt. Es war ein schmerzlicher Moment, denn Lei musste unsere Mauern verlassen und zu den weiblichen Kultivisten gehen.
Wir flehten unsere Eltern an eine Ausnahme zu machen, Lei bleiben zu lassen, doch sie erlaubten es nicht und so wurden WangJi und Lei auseinandergerissen.
Zwischen den Clans der weiblichen und männlichen Kultivisten ist nie ein Austausch erlaubt gewesen. Erinnerst du dich an das Mädchen, von dem ich dir einmal erzählt habe, das in WangJi verliebt war? Für sie machten wir eine Ausnahme, um zu testen, wie es funktionierte... Wir zogen in Betracht Lei zurückzuholen, doch unser Versuch scheiterte so kläglich, dass Onkel darauf bestand die Regel der Trennung erneut zu verstärken.
Nicht einmal mehr kleine Treffen wurden erlaubt, außer bei wichtigen Veranstaltungen wie dem Turnier heute...
Für Zwillinge ist es sehr schmerzhaft voneinander getrennt zu leben und so wurde WangJi zu einem Einzelgänger. Ich versuchte für ihn da zu sein, doch ich konnte Lei nie ersetzten. Er muss sich immer unvollkommen gefühlt haben... Viele seiner Verhaltensweisen sind damit zu begründen... nach all den Jahren weiß ich das jetzt."
Wei WuXian betrachtete schweigend seinen Tee.
„Es überrascht mich, dass sie nun, nach so langer Zeit, wieder an unserem Turnier teilgenommen hat... soweit ich weiß lebt sie sehr zurückgezogen. Vielleicht hat sie gehofft heute auf WangJi zu treffen..."
„Stattdessen traf sie nur mich... der ich ihr auch noch so plump von WangJis Hochzeit erzählt habe! Ich könnte mich ohrfeigen...! Kein Wunder, dass sie so erschrocken war."
„Du hast ihr von der Hochzeit erzählt...?"
„Sie schien irgendwie vertraut mit Lan Zhan, also habe ich sie eingeladen... Nun, da ich weiß, dass sie sogar seine Schwester ist... wäre es nicht schön, wenn sie kommen würde? Was, wenn nicht ihr Besuch, würde Lan Zhan glücklich machen...?"
„Die Zeiten haben sich geändert... beide sind erwachsen und die Regeln des Gusu Lan Clan haben sich seit Onkels Ableben etwas gelockert. WangJi hätte sie also längst besuchen können... Warum hat er es dann nicht getan?"
„Weil er Angst hat", seufzte Wei WuXian. „Sie ist genau wie er... Er weiß, dass sie abweisend reagieren würde. Er will nicht verletzt werden und deshalb fürchtet er ein Aufeinandertreffen mit ihr, wenngleich er sich ebenso danach sehnt wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen..."
Ein warmer Ausdruck legte sich auf Lan XiChens Gesicht. „Wei WuXian... Ich bin immer wieder überrascht wie gut du WangJi kennst.", sagte er sanft. „Ich bereue meine Entscheidung nicht einen Tag."
Wei WuXian lächelte dankbar. „Wenn er nur endlich wiederkäme, XiChen... Zwei Monate und noch immer kein Lebenszeichen... Ich muss sagen, Lan Lei hat mich durcheinander gebracht... Ich hatte Herzklopfen in ihrer Gegenwart, so sehr ähnelt sie ihm." Er seufzte tief. „...und doch kann niemand meinen Zhan Zhan ersetzen..."
Da setzte sich Lan XiChen neben Wei WuXian, legte die Hand um seinen Kopf und führte ihn zu seiner Schulter. Obwohl er Lan XiChen bisher nie körperlich nahegekommen war, lehnte sich Wei WuXian wie selbstverständlich an seine Brust.
„Wenn er nicht bald auftaucht, werden wir uns auf den Weg machen, was hältst du davon?", sagte Lan XiChen, seine Hand strich tröstlich durch Wei WuXians Haar.
Wei WuXian nickte leise und schloss die Augen. Sie saßen noch eine ganze Weile so auf dem Boden von Lan XiChens Zimmer.

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